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Memoiren einer Grossmutter, Band II

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Die Wandlung

Ich weiß nicht, was bei dem Rebben vorgefallen war, denn nie sprach mein Mann von diesem traurigen Erlebnis; ich weiß nur, daß ein Jüngling voll Hoffnung und Begeisterung die Seinigen verließ und zu dem Rebben wallfahrtete, wie zu einem Heiligen, der einzig und allein die Macht besitzt, den Schleier von den großen Geheimnissen zu heben… und daß er ernüchtert zurückkehrte. Die blaue Blume, auf deren Suche er, so manchem anderen gleich, auszog, fand er nicht sonnenbeglänzt am Rande einer reinen, erfrischenden Quelle, sondern welk und unähnlich dem Bilde seiner Träume. Nicht Verzweiflung, sondern eine ruhige Trauer legte sich über sein Wesen. Der Zauber schwand und mit ihm das Interesse und die Inbrunst, die er im letzten Jahre den religiösen Gebräuchen und Pflichten entgegengebracht hatte. Und es begann das Sichlossagen von all dem, was bisher teuer und nahe war, so nahe, daß es mit dem Menschen verwachsen und in sein Blut übergegangen zu sein schien. Nicht plötzlich, nicht auf einmal kam es zum Vorschein – nur allmählich und leise, so leise, daß man es zuerst kaum merkte… Mein Mann verrichtete immer noch seine Gebete. Auch das Lernen mit dem Rebben dauerte fort. Ja, sogar das nächtliche Sitzen und Arbeiten über den Folianten hörte nicht auf… Aber das liebende Herz eines Weibes, das zu lauschen versteht und die leiseste Regung wahrnimmt, kann nichts täuschen… Das war nicht mehr das lebhafte Interesse des Forschers und Suchers, nicht mehr das inbrünstige, heiße Beten, das sich zur Ekstase erhebt, in welcher sich der Mensch Gott nahe fühlt und mit ihm redet … Nein, es war eine tote Erfüllung der Pflicht. Jung und unerfahren, wie mein Mann war, verstand er es nicht, den goldenen Mittelweg zu finden. Von Enthusiasmus und religiöser Begeisterung zur vollkommenen Ernüchterung war bei ihm ein Schritt. Er tat ihn und betrat den entgegengesetzten Weg, den viele Juden bereits gegangen waren. Mein tiefreligiöses Gemüt erfaßte sogleich diese Wandlung. Es wurde mir gar schwer zumute. Ich ahnte schon damals all die Kämpfe, die mir in den nächsten Jahren bevorstehen sollten.

Die Erfüllung der religiösen Pflichten ohne die religiöse Überzeugung wurde meinem Manne auf die Dauer lästig. Er fing allmählich an, sie zu vernachlässigen. Die Eltern merkten es bald. Es entstand eine Spannung zwischen ihnen und dem Sohn. Die erste Auseinandersetzung erfolgte, als mein Mann sich den Bart schneiden ließ. Die Eltern waren darüber ungehalten und machten ihm bei dieser Gelegenheit schwere Vorwürfe, auch wegen der Vernachlässigung anderer religiöser Gebräuche, die sie bisher stillschweigend geduldet hatten.

Damals kam es auch zum ersten Konflikt zwischen mir und meinem Mann. Ich beschwor ihn, der Eitelkeit nicht nachzugeben und den Bart weiter wachsen zu lassen. Er fühlte sich verletzt, wollte nichts davon hören, erinnerte an seine Herrenrechte und forderte von mir Gehorsam und die Unterwerfung unter seinen Willen… Das war ein scharfer Stich für mein zartfühlendes Herz; der blaue Himmel meines Eheglücks trübte sich…

In dieser Zeit wurde ich Mutter. Der Wunsch meiner Eltern und Schwiegereltern ging in Erfüllung: Gott schenkte mir einen Sohn. Es war der erste Enkel und Urenkel männlichen Geschlechts. Die Freude war groß.

Es war eine schwere Stunde, aber die Liebe und die Sorgfalt halfen mir darüber hinweg. Im Getto hatte man ganz besondere Mittel, um der kreißenden Frau die Geburt zu erleichtern. Die erste Bedingung war, daß niemand im Hause außer der Hebamme und der ältesten Frau von der bevorstehenden Geburt erfahren durfte. War aber die bevorstehende Niederkunft bekannt, so war man sicher, daß sie lange dauern würde und gefährlich werden konnte. Neunmal wurde die Kreißende um den Eßtisch herumgeführt. Dann mußte sie dreimal über die Schwelle ihres Zimmers hin und her gehen. Alle Schlösser an den Schränken, Kommoden und Türen, sogar die Hängeschlösser an der Speisekammer wurden aufgeschlossen. Alle Knöpfe an der Leibwäsche der Kreißenden wurden aufgeknöpft, alle Knoten wurden aufgebunden. Dann, so glaubte man in der naiven Symbolik des Volkes, müßte auch das Kindchen leichter entbunden werden.

Die Wöchnerin wurde natürlich aufs sorgsamste gepflegt. Am ersten Tage bekam ich nur Schleimsuppe und Tee mit geröstetem Weißbrot. Am zweiten Tage begann die spezifische Wöchnerinnenschwelgerei. Schon früh am Morgen wurde Tee mit der besten Sahne gereicht. Nach zwei Stunden kam jene »Trianke« an die Reihe, jene Haferschleimsuppe, von deren Zubereitung ich besonders bei der Behandlung von Brustkranken sprach. Die Alte reichte sie mir immer mit den Worten: Dieser Teller Suppe, mein Kind, wird dir deine Eingeweide und deine Brust stärken und heilen. – Nach weiteren zwei Stunden mußte ich eine fette Hühnersuppe mit etwas Huhn zu mir nehmen. Bald folgte wieder eine »Trianke«. Die war aber wieder anders hergerichtet. Sie bestand aus gekochtem Honig, der einige Tage im Warmen offen gestanden hatte, und war mit einem spirituosen Auszug von Gewürzen, wie Kalhan, Badjan, Muskatnuß, Kaneel, Nelken, Zimt, Feigen, Johannesbrot übergossen. Ein Glas von diesem Nektar – und man schlief köstlich. Beim Erwachen hatte man meist starken Durst, der mit Tee kräftig bekämpft wurde. Natürlich fehlten Butterzwiebacke nicht. Nach weiteren zwei Stunden gab es Pflaumenkompott mit Mandeltorte, zum Vorabend wieder Hühnersuppe mit Huhn. – Diese Schwelgerei dauerte acht Tage. In besonderen Fällen wurde sie bis zu vier Wochen fortgesetzt. Es war eine feststehende Anschauung bei den alten Frauen: solange nicht ein ziemlich großer Topf mit Hühnerknochen gefüllt war, d. h. solange die Wöchnerin nicht eine bestimmte Anzahl von Hühnern verzehrt hatte, war sie immer noch als Wöchnerin zu betrachten.

Nach der allgemeinen Sitte kamen im Laufe der ersten Lebenswoche meines Sohnes jeden Abend mehr als zehn Knaben mit dem »Behelfer« (Hilfslehrer) zu mir ins Zimmer, um die erste »Parsche« (Teil) des Krias Schema (Abendgebet) herzusagen. Dieses geschah nach dem Glauben der frommen Juden zur Behütung des Neugeborenen vor den bösen Mächten. Die Kinder erhielten jedesmal nach dem Gebet Rosinen, Nüsse, Äpfel und Kuchen und der »Behelfer« nach Verlauf dieser Woche eine Geldgabe.

Zu dem gleichen Zweck der Behütung des Neugeborenen wurde bei den Juden kabbalistische Gebete, »Schemaus« genannt, über dem Kopfe der Wöchnerin an der Wand angeheftet, ein zweites Blatt an der Tür und ein drittes zwischen die Kissen des Kindes gelegt. In der letzten Nacht vor dem »Briß« (Beschneidung) wurde das Kind am meisten behütet – man nannte sie die »Wachnacht«. Am Vorabend der rituellen Zeremonie pflegte der »Mohel« das Messer in einer Scheide und häufig ein kabbalistisches Werk zu bringen, und die Hebamme legte beides unter die Kissen des Neugeborenen. Wenn nun das Kind gerade aufschluchzte, so bemerkte gewöhnlich die Hebamme bedeutungsvoll: Er weiß schon, was kommen wird. Lächelte er aber im Schlaf, so hieß es, daß der »Malach« (gute Engel) mit ihm spiele.

Am Vorabend der Beschneidung meines Sohnes gaben wir den Armen ein Mahl, wie es bei den vornehmen Juden vor einem Briß und einer Hochzeit Sitte war. Den Tag vorher sandte man den Synagogendiener »Schames« in die Armengegend und lud die Armen formell ein – sogar die Straßenbettler wurden mit »zur Wachnacht gebeten«. In einem großen Raume des Hauses, das die Gastgeber bewohnten, stellte man einige Reihen langer Tische auf, an denen die Gäste Platz nahmen. Zuerst wurden die Männer und dann gesondert die Frauen bewirtet. Die Speisenfolge selbst wurde mit der Zeit ebenfalls typisch. Und so befand sich auf jedem Platz eine »Bulke« (Weißbrot), daneben ein Glas Branntwein und ein Stück »Lekach« (Lebkuchen); sodann folgten Fische oder Heringe, Braten und Grütze. Große Krüge Bier standen auf den Tischen. Man trank nach Belieben. Der Wirt, die Wirtin und ihre Kinder bedienten selbst die Gäste. Vor einer Hochzeit kamen auch die Braut und der Bräutigam zu der Armen und nahmen die übliche Gratulation – »Maseltoff« – entgegen. Die Armen benahmen sich gewöhnlich mit Anstand. Die Mahlzeit verlief nach allen Vorschriften der Religion. Zuerst wusch man sich die Hände. Dann wurde das Gebet gesprochen. Am Schluß wurde mit »M'sumon gebenscht« – es waren ja mehr als drei Leute da, an unserer Tafel sogar mehr als zweihundert. Nach dem Tischgebet gingen die Männer unter Segen- und Dankessprüchen. Dann kamen die Frauen an die Reihe. Vor dem Fortgehen erhielt noch jeder Arme ein Almosen.

Zu unserer Familienfeier bekamen wir liebe Gäste von auswärts: den Vater meiner Großschwiegermutter Reb Abraham Selig Selensky und seine Frau aus Poltawa. Das war ein kluger, vornehmer, religiöser, sehr alter Mann, der alte Selensky, der sich in Poltawa einer sehr großen Popularität erfreute. Es war noch einer vom alten Schlage, den der Geschäftseifer nicht hinderte, den Talmud stets fleißig zu studieren und die religiösen Pflichten streng auszuüben. Seine vier Söhne erhielten bereits europäische Bildung, haben es aber verstanden, das Neue zu erfassen und es in sich zu verarbeiten und gleichzeitig dem Alten nicht zu entsagen. Der älteste unter ihnen war ungewöhnlich sprachkundig, der zweite Hofmaler, der dritte Rechtsanwalt und der jüngste ein berühmter Talmudist. Dieser Talmudist war dermaßen fromm, daß er sich nicht dazu entschließen konnte, seinen langen Bart schneiden zu lassen. Er trug ihn stets in einer Halsbinde halb versteckt, um nicht ausgelacht zu werden.

Doch ich wollte ja vom Briß sprechen. Schon früh am Morgen traf die Hebamme ihre Vorbereitungen für das Bad. Denn das Baden vor der Beschneidung ist eine ganz besonders feierliche Zeremonie. Das Kind wird sehr frühzeitig gebadet. Das Wasser darf nicht sehr warm sein, denn das Kind durfte nicht erhitzt werden. Sonst würde in der damaligen Anschauung nach der Operation eine Blutung eintreten. Beim Baden waren immer eine große Menge alter Frauen zugegen. Galt es doch als ein verdienstliches Werk, über das Kind zwei Hände voll Wasser zu schütten. Bei dieser Prozedur ließen die Frauen eine Silbermünze in das Wasser gleiten. Sie war für die Hebamme bestimmt.

 

In dem Zimmer, in dem die Beschneidung stattfindet, werden schon früh um 10 Uhr zwei große Kerzen in hohen Leuchtern angezündet. Auf einem besondern Tisch sind die Utensilien des Briß hergerichtet. Eine Flasche Wein, ein Becher, der mindestens den Inhalt von einundeinerhalben Eierschale fassen muß, ein Teller voll Sand, eine Büchse mit Puder, das aus altem verfaulten Holz besteht. Gegen 10 Uhr kommen schon die ersten Gäste an. Der Mohel ordnet an, daß das Kind jetzt gewickelt werden soll. In den reichen Häusern wurde für diese Windeln die feinste Leinwand verwendet. Das Kind erhält ein Mützchen auf den Kopf, wird in ein seidenes Steckkissen getan und mit einem Deckchen aus ebenso feiner Seide zugedeckt. Für das Wickeln vor der Beschneidung war eine ganz bestimmte Methode üblich. Eine Windel wurde dreieckig gelegt. Die Händchen des Kindes wurden gerade an die Körperseiten angelegt und mit je einer Ecke der Windel umschlungen. Das feine, mit Spitzen besetzte Hemdchen wurde über dem Leibe des Kindes in einem breiten Saum hochgeschlagen. Dann wurde das Kind in eine große Windel gepackt, um die ein sehr langes und breites Wickelband so fest herumgeschlungen wurde, daß das Kind wie eine Mumie aussah. Nur die Füßchen blieben frei, damit dem Kinde nicht zu heiß würde, weil ja jede starke Erhitzung die Gefahr der Blutung gäbe.

Wehmütig blickte ich mein Kind an, das nun das Opfer für sein Volk darbringen sollte. Ich preßte es an mein pochendes Herz. Aber bald nahm mir die Hebamme das Kind fort und reichte es der ältesten und würdigsten Frau, die neben dem Bett stand. Sie wiegte es ein paarmal auf ihren Armen und reichte es dann der nächststehenden Frau, die es auch mehrmals hin und her schaukelte, um es dann weiterzugeben. So wandert das Kind von Arm zu Arm, bis es schließlich der Gevatterin überreicht wird. Sie tritt mit dem Kinde bis an die Schwelle des Zimmers, in dem der Akt vor sich gehen soll. Sobald die Festversammlung des Kindes ansichtig wird, rufen die Herren ihm ein Boruch Habo »Gesegnet sei der Kommende« zu. Der Gevatter (Quatter) übernimmt dann das Kind und reicht es dem Sandik (Syndikus), der, in einen großen Tallis gehüllt, auf einem Lehnstuhl Platz genommen hat. Seine Füße stehen auf einem Holzschemel. Dann spricht der Mohel ein ergreifendes Gebet. Er fleht Elijahu, den Schutzengel der Beschneidung, den wundertätigen Schirmer der Juden in Not und Fährde, um seinen Beistand an. Und nun folgt die eigentliche Beschneidung. Ein heftiger Aufschrei des Kindes. Und während der Mohel den Segen über den Wein spricht und dem Kinde den Namen gibt, hört man noch das leise Wimmern des Kindes, das sich erst dann manchmal beruhigt, wenn ihm der Mohel mit dem kleinen Finger ein paar Tropfen Wein auf die Lippen gibt. Vielfach ist es Sitte, daß bei den einzelnen Akten nach der Beschneidung beim Segen über den Wein, beim Namengeben und beim Schlußgebet je ein anderer Herr mit der Ehre, das Kind halten zu dürfen, ausgezeichnet wird. – Die Zeremonie endet damit, daß der Gevatter das Kind wieder der Gevatterin überreicht. Glückstrahlend nimmt dann die Mutter das Kind in Empfang, und das kleine Kerlchen darf nun an der Mutter Brust wieder seine genußreiche Ruhe finden. Er ist nun in den Bund Israels aufgenommen und ein Nachkomme des Patriarchen Abraham. Die Gäste bleiben noch lange bei einem Festmahl zusammen, gilt doch diese Szude als ein ganz besonders heiliges Mahl.

Ist die Beschneidung glücklich vorüber, – und ich erinnere mich eigentlich nie eines traurigen Zwischenfalles – dann ist die Macht der bösen Geister gebrochen. Nach drei Tagen war bei meinem Kinde die Wunde geheilt. Diese glückliche Heilung wurde wieder durch ein Festmahl gefeiert. Und bald konnte nun die mütterliche Sorgfalt sich ganz der körperlichen Pflege ihres Kindes widmen.

Es war ganz selbstverständlich, daß damals jede Mutter ihr Kind selbst stillte. Bevor die Mutter dem Kinde die Brust reichte, wurden jedesmal einige Tropfen zur Seite abgedrückt, weil Aufregungen, Kummer und Sorgen die ersten Tropfen vergiftet haben könnten. Die Entartung der Saugflasche war in das Getto noch nicht eingedrungen. Hatte eine Mutter zu wenig Nahrung, so steckte sie dem Kinde einen Schnuller in den Mund. Sie tat Weißbrot, im Notfalle Schwarzbrot mit einem Stückchen Zucker, nachdem sie es ordentlich durchgekaut hatte, in ein Läppchen und band es mit einem Faden zu. Ganz wunderliche Methoden gab es, um schreiende Kinder zu beruhigen. Das Kind wurde gebadet und nach dem Abtrocknen von der zumeist alten und erfahrenen Wärterin auf ein großes Kissen gelegt. Dann wurde der Leib mit Provenceröl tüchtig eingerieben, das linke Füßchen mit dem rechten Händchen über dem Bäuchlein des Kindes so zusammengedrückt, daß Ellenbogen und Knie nebeneinander kamen. Das gleiche Manöver wurde mit dem linken Händchen und dem rechten Füßchen vorgenommen. Dann wurden die Beinchen gestreckt und die Arme fest an den Körper gelegt. So wurde das Kind in die Höhe gehoben und für einen Augenblick mit dem Kopf nach unten geschaukelt. Alsdann wurde das Kind auf den Bauch gelegt, Rücken und Füßchen zart gestrichen. Mochte das Kind auch aus Leibeskräften geschrien haben, es wurde still.

Noch viel drastischer war die folgende Methode. Wollte noch so wildes Hin- und Herschaukeln der Wiege, die meist zwischen zwei am Kopf- und Fußende angebrachten Stricken frei schwebte, nichts helfen, so trug die Wärterin das Kind in die Küche, schaukelte es zunächst auf den Händen, und hob es dann für ein paar Minuten über den Herd in den Schornstein, wobei sie unverständliche Worte murmelte. Und wirklich: das Kind wurde ruhig, vorausgesetzt, daß die Wärterin nicht vorher vergessen hatte, Pfeffer und Salz in zwei kleine Beutelchen zu tun oder im Notfall in ihre Hand zu schütten und damit mehrmals um das Kind herumzugehen. Manchmal genügte dieses Umkreisen des Kindes schon allein, um es zu beruhigen. Sicher aber war es ein Mittel gegen den bösen Blick, der besonders dann zu fürchten war, wenn fremde Leute ein schlafendes Kind betrachteten. Ein anderes »unfehlbares Mittel« war, daß die Mutter sich auf ein Knie niederlassen mußte, während das Kind dreimal zwischen den Beinen hin und her geschoben wurde.

Leider aber gab es viele Kinder, bei denen die Unruhe schon der Beginn einer Krankheit war. Kam ein Kind nicht vorwärts, blieb es mager und schwach, dann stellten die alten erfahrenen Weiber die Diagnose: Rippküchen. Die Rippen des Kindes fingen zu dörren an. Ich glaube, das muß wohl so eine Krankheit sein, die man heute als englische Krankheit bezeichnet. Diese Kinder weinten natürlich sehr viel. Und um der Ursache dieser Unruhe zu begegnen, wußten die wohlweisen Weiber ein kräftiges Mittel. Sie legten das Kind aufs Bett und nahmen ein Rollholz, um das man in jenen Zeiten die Wäsche zu wickeln pflegte, legten dieses Rollholz auf die Rippen des Kindes und schlugen mit einem gekerbten dicken Brett, mit dem man ansonstens über das umwickelte Rollholz fuhr, neunmal darauf. Das war ein hartes Mittel, aber es half, wenn man die richtigen Beschwörungsworte wußte. Die bösen Geister liefen dann davon.

Allein es gab Kinder, die selbst nach dieser Prozedur und selbst nach den noch so feierlich gesprochenen Beschwörungen nicht ruhig wurden. Die Wärterin überlegte dann. Aber Gott half ihr, und sie fand die richtige Diagnose: das Kind hat Haare auf dem Rücken. War diese Diagnose gestellt, so ging man schnell an die Therapie. Das Kind wurde gebadet, abgetrocknet; und dann wurden Kugeln aus frisch gebackenem weichen Roggenbrot fest auf dem Rücken des Kindes hin und her gerieben, wobei ein Teil der Rückenhärchen sich an die Brotkugel festsetzte. Dann rieb sie nur mit der Handfläche den Rücken des Kindes weiter, bis die kleinen Härchen fest wie die Borsten standen. Und wirklich, meist wurden die Kinder ruhig.

Für ganz elende und abgemagerte Kinder wandte man noch die folgende Methode an: Das Kind wurde nach dem Mittagessen in das noch mit allen Brotkrumen bedeckte Tischtuch gewickelt, dann auf einen Augenblick in einen großen, verschließbaren Koffer gelegt. Schnell wurde der Deckel geöffnet. So machte man es täglich durch vier Wochen. In dem Tischtuch pflegte man das Kind alle Woche zu wägen. Wenn das Kind gesunden sollte, so nahm es jede Woche an Gewicht zu. Wenn dann die erste schmale Sichel des Mondes sichtbar wurde, dann hielt man das Kind so dem Monde entgegen, daß es ihn sehen konnte. Dazu sprach man die folgenden Worte: Mjesjatz, Mjesjatz wisokoss, dai tyello nassej kosst, zu deutsch: Mond, Mond, wachse, gib Fleisch auf diese Knochen.

Nach 18, oft schon nach 15 Monaten wurde das Kind entwöhnt. Gab die Mutter dem Kinde zum letztenmal die Brust, so setzte sie sich auf die Schwelle und gab dem Kinde so lange zu trinken, bis es von selbst aufhörte und müde den Kopf zur Seite legte. Das war ein schwerer, aber doch festlicher Tag. Die grobe Abhängigkeit des Kindes wurde da gelöst. Hatte aber die Mutter an diesem Tage so manchen Schmerz, so war es ein Jubeltag, wenn das Kind zum ersten Male sich auf die Beinchen stellte und ging. An dieser Stelle machte dann die Mutter einen Einschnitt in die Diele, das bedeutete: die »Pente zerschneiden«. Die Fesseln waren von den Füßchen des Kindes genommen.

Gleichzeitig mit dem Briß meines Sohnes fand noch eine große religiöse Zeremonie statt. Meine noch junge Schwiegermutter Cäcilie ließ seit einem Jahre eine »Sefer Thora« schreiben, wofür sie mehrere hundert Rubel bezahlte. Sie wollte die heilige Rolle in der Synagoge, welcher sie gewidmet war, einweihen lassen. Diese Handlung meiner Schwiegermutter fand sowohl in ihrem Hause, wie im Städtchen großen Beifall und wurde einer Frau hoch angerechnet. Der Sofer, d. h. der Schreiber der Thora, ein wahrhaft religiöser Jude, der mit Beten und Fasten sein Leben verbrachte und als ehrlicher Mann in Konotop bekannt war, brachte die heilige Rolle zu uns ins Haus.

Die Zeremonie der Thoraeinweihung beging man wie eine Hochzeit; man holte die »Chuppe« (Baldachin), stellte sie in einem großen Saal auf. Dem Rabbiner war die Ehre zugeteilt, die Thora zuerst auf die Hände zu nehmen und mit ihr unter die Chuppe zu treten. Dann begab man sich nach der Synagoge – der Rabbiner voran, und ihm folgten die Würdigsten und Ältesten der Stadt. Zuletzt die Frauen und Mädchen mit brennenden Kerzen in silbernen Leuchtern. Selbst die Mädchen in diesem Zuge durften nicht mit entblößtem Haupt mitgehen. Als sich der Zug gerade in Bewegung setzte, ertönte die fröhliche Musik einer Kapelle. Ein munterer Marsch erschallte durch die Straßen. Unter seinen Klängen hüpfte der ganze Zug im Tanz. Lebhaft tanzten die Männer, leidenschaftlich in die Hände klatschend. Hinterher hüpften die Frauen und Mädchen. Alle zusammen jubelten, jauchzten, freuten sich und ehrten die schöne Tat der frommen Frau.

So kam der Zug in der Synagoge an. Da die Zeremonie bis zum Vorabend dauerte, verrichtete die große Menge gleich dort das Minchagebet.

Die Einweihung der Thora gehörte zu den feierlichsten Handlungen. In einem jüdischen Städtchen war es ein Ereignis, das man nicht leicht vergaß. Ich erlebte es zum erstenmal. Es machte auf mich einen großen Eindruck. Aus einem Fenster sah ich dem Zuge zu und bedauerte sehr, ihn nicht mitmachen zu können.

Nach diesen Feierlichkeiten verreisten unsere Gäste aus Poltawa. Jedermann nahm seine Pflichten wieder auf. Das Leben im Schwiegerelternhause ging seine gewohnten Wege. Ich erholte mich allmählich. Das Mutterherz schwelgte in neuen Seligkeiten. Ich vergaß die Sorgen der letzten Zeit, als ich das Büblein anschaute, das kleine winzige Wesen, das noch so ruhig schlummerte, nichts hörte, nichts sah und nichts von der jungen Mutter wußte, die stundenlang an seiner Wiege stand, ihn anblickte, ihm zulächelte und von seinem künftigen Glück und seiner Größe träumte. – Monate vergingen, und mein lieber herziger Bub – er war blond und hatte blaue Augen, ganz verschieden von dem Wengeroffschen Typus – wurde immer größer, er gedieh zu einem kräftigen, gesunden Kinde. Mit jedem Tag wuchs meine Freude an ihm… Welchen neuen Inhalt erhielt mein Leben! Meine Liebe teilte sich jetzt zwischen meinem Mann und dem Kinde, und wahrlich, beide kamen nicht zu kurz dabei! Selbstverständlich war der Kleine der Liebling des ganzen Hauses.

Daß unser Eheleben noch zärtlicher, unsere gegenseitige Anhänglichkeit und treue Liebe durch dieses Kind noch intensiver wurde, brauche ich das noch zu sagen?

Es verging die Zeit, und unser Sohn wurde zwei Jahre alt. Seine geistige Entwicklung eilte der körperlichen weit voraus. Er war über sein Alter aufgeweckt und klug. Ich war mit meinem Manne stolz auf unseren Erstgeborenen. Wir schmiedeten große Pläne für seine Zukunft.

 

Aber es gefiel Gott anders, und er nahm ihn zu sich, diesen unseren Liebling… Vom ununterbrochenen Wachen an seinem Krankenbette müde, verließ ich das Lager meines kranken Kindes. Im Nebenzimmer legte ich mich kraftlos auf das Sofa und versank in einen schweren Schlaf. Mir träumte, ich wäre im Eßzimmer; durch die geschlossenen Läden dringe etwas Licht hinein; im Zimmer herrschte Halbdunkel. Trotz der geschlossenen Läden konnte ich doch alles, was draußen vorging, wahrnehmen. Ein großer schwarzer Hund heulte furchtbar, den Kopf ganz in den Nacken werfend, und hinter ihm stand eine Anzahl Musikanten; sie spielten auf Geigen, die mit schwarzem Tuch überzogen waren und die sie verkehrt in den Händen hielten. Erstaunt fragte ich sie, warum sie auf diese Weise spielten, und erhielt die düstere Antwort: »Heute müssen wir so spielen«… Ich erwachte in Angst und Schrecken und stürzte in das Krankenzimmer. Doch man ließ mich nicht mehr zu meinem Kinde. – Es war nicht mehr das meine! – Weit, weit von mir, in die Himmelshöhen ging es und nahm mein junges, verzweifeltes Mutterherz auf immer mit sich.

Es war der erste schwere Schicksalsschlag, der mich traf, und erst die beiden Kinderchen, die mir Gott in den nächsten Jahren schenkte, trösteten mich ein wenig und linderten meinen Schmerz.

Inzwischen hatte sich der Konflikt zwischen meinem Gatten und seinen Eltern noch zugespitzt. Mein Mann fand keine Freude mehr daran, mit dem Rebben gemeinsam den Talmud zu studieren. Er holte die großen Folianten (Gemores) zu sich in unsere Wohnung und lernte selbständig. Er sah es gern, wenn ich mit einem Buch oder einer Handarbeit neben ihm saß, und wenn er müde wurde, lasen wir dann zusammen in einem deutschen Werke. Dieses Talmudstudium verlor aber ganz den früheren religiösen Charakter und wurde bei meinem Manne mehr zum Philosophieren, zu einer kritischen Betrachtung und Prüfung und spielte nicht mehr die Hauptrolle in seinem Leben. Er widmete sich jetzt mehr dem Erwerbsleben und unternahm sogar mit meiner Mitgift selbständige Geschäfte, wobei er aber das ganze Geld verlor. In den kaufmännischen Angelegenheiten hatte ich bei ihm keine Stimme; meine Ratschläge nannte er Einmischung und wollte von ihnen nichts hören. Er war der Meinung, daß eine Frau, besonders aber die seinige, keine Begabung in dieser Richtung besitze und empfand meine Einmischung als eine Erniedrigung für sich. Diese Meinung war damals bei den meisten Juden Kleinrußlands verbreitet, besonders aber bei den Konzessionären, die in ihrem Dünkel sich als Selbstherrscher fühlten und keine Ratgeber dulden wollten.

Wohl keinem meiner Geschwister ist das Lied von der Wanderung so oft und so vernehmlich an der Wiege gesungen worden wie mir. Die vier Jahre, welche wir im Schwiegerelternhause verleben sollten, waren um; und nun hieß es, ein selbständiges Leben beginnen. Die Schwiegereltern besorgten für uns ein Geschäft, ebenfalls eine Konzession auf Branntwein, und wir mußten nach einer anderen Stadt übersiedeln.

Eines Morgens stand eine große, bequeme Equipage vor dem Hause zur Reise fertig und noch ein Wagen mit Lebensmitteln daneben. Die Abschiedsstunde war gekommen. Begleitet von Segenssprüchen, bestiegen wir, mein Mann, ich, zwei Kinder und zwei Bediente, unseren Wagen, und fort ging es in die Welt, den neuen Schicksalen entgegen.

So verließen wir nach vierjährigem gemeinsamem Leben dieses Haus, wo wir das patriarchalische jüdische Familienleben zuletzt gelebt haben; wir verließen es für immer.