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Memoiren einer Grossmutter, Band II

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Die dritte Generation

Und es kam die dritte Generation, die weder Gott noch den Teufel fürchtete. Die allerhöchste Huldigung brachte sie dem eigenen Willen entgegen und erhob ihn zu einer Gottheit. Dieser Gottheit wurde Weihrauch gestreut. Ihr wurden Altäre errichtet; und ohne Scheu, ohne Rücksicht wurden ihr die heiligsten Opfer dargebracht. Es war die Tragik und das Verhängnis dieser Jugend, daß sie ohne Tradition aufgewachsen war. Unsere Kinder erhielten keine Eindrücke von den Erinnerungen des historischen, selbständigen Judentums. Fremd blieben ihnen die Klagelieder am Tischo b'Ab, fremd die in den dreimal täglich verrichteten Gebeten lebende Sehnsucht nach Zion, dem Lande der großen Vergangenheit, fremd der Rhythmus der jüdischen Feiertage, nach welchem stets einem traurigen ein freudiger folgt. Sie fand nirgends Anregungen – diese Generation. Sie wurden Atheisten.

Vielleicht mag mancher jugendliche Leser glauben, daß ich die Verhältnisse gar zu trübe sehe. Ist meine Erinnerung getrübt und decken dunkle Flore meine Augen?! O nein. Ich bin ein getreuer Chronist. Mein lichter Blick sieht nur die tiefen Schatten, weil sie wirklich die Wege der neuen Jugend über und über decken.

Die dritte Generation! Zeigt mir das Glück, zeigt mir den Adel eurer Moral – und ich will mich vor euch beugen!…

… Allmählich sahen die Väter, die jüdischen Brauch und jüdische Sitte aus der Erziehung der Kinder entfernt und sie ausschließlich im modernen aufklärerisch-europäischen Sinne hatten bilden lassen, ihren verhängnisvollen Fehler ein. Sie selbst, wenn sie sich auch von Religion und Tradition abgewandt hatten, blieben doch im Grunde ihres Herzens Juden. Gute Juden im nationalen Sinne dieses Wortes, stolz auf ihre Vergangenheit; denn in ihnen lebten noch die Erinnerungen ihrer Kindheit. Aber ihre Kinder hatten diese Erinnerungen nicht mehr; ihre eigenen Eltern, hauptsächlich die Väter, waren daran schuld. Und nicht selten kam es, daß feiner empfindende Jünglinge, die ihre innere Armut erkannten, die Eltern anklagten!

Es gab zwar eine Möglichkeit, die Mängel der häuslichen Erziehung einigermaßen zu ersetzen: durch einen geordneten Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen. Tüchtige Lehrer hätten so leicht das Interesse der Jugend der großen jüdischen Vergangenheit zuwenden, ihre Aufmerksamkeit auf die alte hebräische Poesie, die Geschichte der Juden lenken und auf diese Weise in ihnen die stolze Gewißheit erwecken können, daß sie einem Volke angehörten, dessen Kultur und Geschichte alt, inhaltsreich, erschütternd sind. Dann hätte die jüdische Jugend sich nicht gleich bei der ersten Berührung mit der Schuljugend anderen Stammes verloren. Sie hätte nicht das Gefühl der Erniedrigung gehabt, das ihnen jede Erinnerung an die jüdische Abstammung brachte. Sie hätte sich nicht mit solcher Wut von ihrem eigenen Volke abgewandt, ihre Pflichten vergessen und ihre Kräfte rücksichtslos in die Dienste der »anderen« gestellt, wie sie es getan. – Aber leider standen die jüdischen Religionslehrer nicht immer und nicht überall auf der Höhe ihrer Aufgabe. Nur die allerwenigsten verstanden ihre Mission.

In den sechziger Jahren beginnt die Russifizierung der Juden durch die Regierung. – In der ersten Epoche der Aufklärung, in der Zeit des Einflusses Mendelssohns, war die Unterrichtssprache in den jüdischen Schulen deutsch. Jetzt war die Stimmung eine andere geworden, die »Aufgeklärten« kamen den Russifizierungstendenzen der Regierung entgegen, weil sie von der Zukunft politische Freiheiten erwarteten und die Vereinigung mit dem großen russischen Volke anstrebten. Die Sprachenfrage war definitiv gelöst, als die Regierung nach dem polnischen Aufstand die russische Sprache in den jüdischen Schulen Litauens als obligatorisch eingeführt hatte.

Danach ging man zu den Unterrichtsgegenständen über und verfolgte dabei die gleiche Tendenz der Russifizierung. So wurde allmählich das Programm der jüdischen Unterrichtsgegenstände gekürzt zugunsten der »allgemeinen«, d. h. russischen Bildung. Es kam so weit, daß in den Mädchenschulen der hebräische Schreibunterricht verboten wurde. – Auch in dieser Hinsicht entsprach die Tendenz der Regierung dem stillen Wunsche der jungen Generation und vor allem auch dem der jüdischen Lehrer, daß der allgemeinen Bildung der Vorzug zu geben sei. Diese Lehrer haben das Judentum schließlich auch aus den jüdischen Schulen gedrängt.

So war es kein Wunder, als die finstere, kalte, stürmische Periode der achtziger und neunziger Jahre für uns Juden hereinbrach und unsere Kinder in ihrem schwanken, gebrechlichen Schiffchen von der Hochflut ergriffen und von den brausenden Wellen des Lebens bald nach oben, bald nach unten geschleudert wurden, – daß sie ihr Schifflein in Sicherheit bringen wollten.

Dieser sichere Hafen war – die Taufe.

Das glaubten sie damals.

Da fiel es, das inhaltsreiche, schwere, schreckliche Wort, das wie eine Seuche in das Innere des Judentums hineingriff und die Nächsten auseinanderriß. Nur ganz selten kam dieses Wort über meine Lippen, weil es mir zu nahe ging, mir zu tief ins blutende Mutterherz schnitt…

Nachdem das Furchtbare geschehen war, sprach ich darüber auch mit den Nächsten nicht.

Nur meinen Blättern habe ich es anvertraut, mit Tränen benetzt und aufbewahrt tief, tief in der Erinnerung – bis heute.

Aber heute will ich mich überwinden, heute will ich von jener finsteren Nacht erzählen… Und wie alles, was ich erlebe, so fügt sich mir auch dieses Vorhaben, diese Aufgabe, in ein Bild: ich sehe mich selbst als das Großmütterchen am Kamine sitzen – und um mich herum die Jugend von heute. Sie hören mir so gerne zu, wenn ich von den alten vergangenen Zeiten des jüdischen Lebens erzähle. Die Augen werden größer, sie leuchten, die Kinder heben stolz die Köpfe und lauschen. O, Wunder des Blutes! Die Kinder, deren Eltern sich vom Judentum abgewendet, kehren zu ihm zurück. Sie sehnen sich nach ihm und nach der alten großen jüdischen Melodie, die sie nie gehört. Das alles lese ich in den klugen Augen der Kinder, und ihnen will ich das wunde Herz öffnen und von all dem Leid und den Schrecknissen jener Nacht erzählen …

Zwischen dieser modernen Schule, deren Führer überzeugt und systematisch die Kinder dem Judentum entfremdeten, und der großen Masse der orthodoxen jüdischen Bevölkerung herrschte ein sehr feindliches Verhältnis. Man wird das begreifen. Die hebräische Sprache sollte nicht treulos verlassen werden. Alle erlaubten und unerlaubten Mittel mußten herhalten, um den hebräischen Unterricht zu ermöglichen. Bestrafung und Strafgelder – ganz gleich, wenn nur das Ziel erreicht wurde. So leichten Kaufes wollten sich die Alten nicht ergeben. Die Chedarim bestanden fort, die arg verspotteten Melamdim »knellten« ihre Schüler weiter. Und mochte sich auch die Regierung einmischen; wie armselig war diese Bevormundung gegen den heiligen Eifer der Frommen! Standen auch die höheren Talmudschulen – die Jeschiwaus – unter der Kontrolle des Ministeriums für Volksbildung, so blieb die Aufsicht nur eine theoretische. Die Regierungsgewalt drang nicht in die Stille der Bethäuser. Mit Zwang war eben wenig zu erreichen. Schließlich gab die Regierung nach. Nicht zum mindesten, als sich 1863 die Gesellschaft zur Verbreitung der Bildung unter den russischen Juden gebildet hatte und nach Überwindung einer Sturm- und Drangperiode mit versöhnender Liebe und Verständnis für den Wert des Althergebrachten ihre stille, aber hartnäckig durchgeführte Arbeit betrieb. Freilich fand sie im Zeitgeist eine kraftvolle Unterstützung. Die wohlhabenden Klassen sandten ihre Kinder nur in die Kronsschule. Der Cheder blieb eigentlich nur den Kindern des Proletariats. Aber ganz wurde auch bei den Reichen in der Folge das Studium der hebräischen Sprache nicht vernachlässigt. Der Melamed kam für einige Stunden in der Woche ins Haus. Gymnasium und Universität: das waren jetzt die Ziele. Und es war schon eine auffällige Ausnahme, wenn ein Reicher seinen begabten Sohn in eine Jeschiwah gab.

In diesen Jahren der inneren Wandlung, in der Zeit der siebziger Jahre, tauchten in Rußland alle möglichen geflügelten Worte, wie Nihilismus, Materialismus, Assimilation, Antisemitismus, Dekadenz, auf. Sie beherrschten das letzte Viertel des XIX. Jahrhunderts und hielten sowohl die jüdische wie die nichtjüdische Jugend in Rußland in einer unaufhaltsamen Bewegung, in einer Aufregung. Es erschien der Roman: »Väter und Söhne« von Turgenjew, in dem das Wort Nihilismus zuerst geprägt wurde. Die begeisterte Jugend fand in dem Helden dieses Romans in der Folge das Echo ihrer Anschauungen und Bestrebungen, und sie ergänzte und formte das, was noch fehlte, nach dem Vorbild des Basarow. Der Kampf mit den Eltern wurde immer rücksichtsloser und erbitterter. Mehr und mehr entfernte sich die jüdische Jugend von den Eltern. Ja, es war nicht selten, daß die Kinder sich ihrer schämten. In ihren eigenen Eltern sahen sie oft nichts anderes als den Geldbeutel, der ihnen die Mittel zur Befriedigung ihrer Wünsche verschaffen mußte. Die Eltern achten? Weshalb? Achten kann man ja nur den, der an Bildung höher steht. Die Ergebenheit, Dankbarkeit, Pietät der früheren Zeiten waren aus dem jüdischen Leben spurlos verschwunden, als seien sie niemals der Stolz und der Glanz des jüdischen Hauses gewesen. Im Eifer, das Alte zu stürzen, alles Vorhandene skeptisch zu prüfen, zu kritisieren, die eigene Individualität zu behaupten, kannte die junge Generation keine Grenzen mehr, und nicht selten kam es vor, daß ein solcher Philosoph (Mädchen nicht ausgenommen), ausgestattet mit allen Sentenzen Franz Moors, seine Geburt den Eltern zum Vorwurf zu machen wagte, wenn es ihm einmal im Leben nicht nach Wunsch erging. Solch ein Wesen neuester Formation äußerte sich beispielsweise gnädig: »Wenn ich sehe, daß meine Mutter und ein Fremder sich gleichzeitig in Gefahr befinden, so rette ich zuerst meine Mutter!« – Als ob es anders sein könnte. – Das ist ein kleiner Beleg dafür, wieweit die Jugend der achtziger und neunziger Jahre vom natürlichen Empfinden entfernt war, daß sie erst beweisen zu müssen glaubte, was so selbstverständlich sein sollte, was im Blut liegt und zum Instinkt geworden ist.

 

Wenn ich die Szenen zwischen Eltern und Kindern der vierziger und fünfziger Jahre als tragikomisch bezeichnet hatte, so waren die Auftritte in vielen jüdischen Familien der achtziger und neunziger Jahre rein tragisch.

Die jüdische Jugend verlor sich in fremder Art. Assimilation bis in den Kern war ihr Losungswort. Im jüdischen Leben ging alles durcheinander, es herrschte ein wahres »Tohuwabohu«. Aber der Geist Gottes schwebte nicht über der Oberfläche.

Das war die allgemeine Stimmung und die Verfassung der jüdischen Jugend, als die finstere, kalte, stürmische Periode über ihr Leben und ihr Schicksal hereinbrach —

»Wajhi hajaum«! Und es war ein Tag am 1. März 1881, an dem die Sonne, die in den fünfziger Jahren über dem jüdischen Leben aufgegangen, plötzlich erlosch: Alexander II. wurde am Ufer des Kanals Mojka in St. Petersburg erschossen! Die Hand, die den Befreiungsakt für sechzig Millionen Leibeigene unterzeichnet hatte, wurde starr. Der Mund, der das große Wort der Befreiung ausgesprochen, verstummte auf ewig. Und das vom Volke erwartete Heil rückte in weite, weite Ferne.

In einer Sitzung hatte die Minsker Stadtduma beschlossen, zwei Männer aus ihrer Mitte als Delegierte nach Petersburg zu senden, um dort auf das frische Grab des humanen Kaisers einen Kranz niederzulegen.

Man wählte den Bürgermeister der Stadt, H. Golinewitsch, und meinen Mann; die Gemeinde fertigte eine Vollmacht mit den Unterschriften aller Mitglieder aus, und sie reisten ab.

Es geschah zum erstenmal, daß Juden an einer solchen Trauerkundgebung teilnahmen.

Und es kamen andere Zeiten – andere Lieder erklangen – Das Schlangengezücht, das sich bisher nicht ans Tageslicht gewagt hatte, kroch jetzt aus den Sümpfen hervor: der Antisemitismus brach los und drängte die Juden zurück in das Getto. Ohne viel Umstände verschloß man ihnen die Pforten der Bildung. Der Jubel der fünfziger und sechziger Jahre wurde zu »Kines«*, die Hoffnungen auf die Zukunft zu den Klagen Jeremias —

Den Juden wurde der letzte Rest ihrer bisherigen Freiheiten genommen. Beschränkungen über Beschränkungen, die mit zeitweisen Verschärfungen und Milderungen noch bis heute fortdauern und deren Ende nicht abzusehen ist. Das Wohnrecht der Juden wurde mehr und mehr eingeengt. Der Aufenthalt in Petersburg und anderen Städten Rußlands wurde ganz verboten oder nur bestimmten Kategorien von Juden gestattet, z. B. den Kaufleuten erster Gilde, die dafür eine sehr hohe Gebühr an die Regierung bezahlen mußten und denen, die in Rußland ein akademisches Diplom erworben hatten.

Die akademische Bildung selbst aber wurde den Juden immer mehr erschwert, indem man zur Aufnahme in die Gymnasien nur eine geringe Anzahl zuließ und die wenigen, die dann trotz aller Hindernisse das Gymnasium absolviert hatten, bei der Einschreibung in die Hochschulen nochmals durchsiebte. Es ist begreiflich, daß diese Härten eine arge Korruption bei Juden und Russen zeitigen mußten. Alle nur denkbaren Mittel wurden von den Juden angewandt, um ihren Kindern den Eintritt in die Gymnasien und Universitäten zu ermöglichen und die brutalen Gesetze zu umgehen. Kam es doch später sogar so weit, daß jüdische Eltern für unbemittelte christliche Kinder das Schulgeld bezahlten, nur um so die Zahl der christlichen Schüler zu erhöhen und dann ihre eigenen Kinder noch in die Schule bringen zu können. Denn es durfte nur ein bestimmter Prozentsatz Juden aufgenommen werden.

Geld und Protektion spielten vereint die größte, ja oft einzig und allein eine Rolle bei der Entscheidung über die Aufnahme jüdischer Schüler. Welche Demoralisation sogar bei den kleinen Kindern diese Zustände im Gefolge hatten, läßt sich leicht denken. Oft fragten die kleinen Kandidaten einander schon bei Beginn der Prüfungen: »Wieviel gibt dein Vater…?« Und welche Erbitterung mußte das in die Kinderherzen tragen, daß die Reichen noch allenfalls manches für sich erlangen konnten, während die Armen ganz zurückstehen mußten. – Das Geld war das Recht!

Und wenn es nun schon nach unendlichen Mühen gelungen war, einen jüdischen Knaben bis zur Reifeprüfung zu bringen, und wenn er diese sogar mit der höchsten Auszeichnung bestanden hatte, dann war er doch noch keineswegs sicher, auch in die Hochschule aufgenommen zu werden. Abermals trat die »Prozentnorm« in Wirksamkeit. Da die Zahl der jüdischen Studenten ebenfalls wieder abhängig war von der der nichtjüdischen Studierenden, so mußten beim Eintritt in die Universität wieder viele, viele Juden zurückbleiben. Und die Wahl des Berufes war und ist für den jüdischen Jüngling in Rußland keine Frage der Neigung und Fähigkeit oder der Absichten der Eltern, sondern einzig und allein des blinden Zufalls, der einige wenige zuläßt und die meisten ohne Wahl und ohne Rücksicht ausscheidet. Aus keinem andern Grunde, als weil sie Juden sind.

Wie in der Schule, so im Leben.

Die Atmosphäre um die Juden wurde düster und gewitterschwer. Sie wurden auf Schritt und Tritt auch von der niedrigsten Schicht der Bevölkerung verspottet und verfolgt. So erinnere ich mich einer für jene Zeiten charakteristischen Episode, die mein Mann in Minsk erlebte. Als er einmal auf der Straße ins Gedränge geriet, hörte er plötzlich neben sich einen kurzen Befehl: »Jud', fort vom Wege!« Er wandte sich um und erblickte einen Russen, aus dessen Zügen das Gift des Hasses quoll. Die Straße wimmelte von Juden. Da erhob mein Mann unzweideutig seinen Spazierstock und rief dem Antisemiten laut zu: »Was fällt Ihnen ein, so verächtlich zu reden; die Straße ist doch für jeden frei —!« In einem Augenblick war er von Juden umringt, die in ihrer Wut sofort Rache an diesem Menschen nehmen wollten. Der Antisemit machte sich aber schleunigst aus dem Staube.

Einige Tage nach diesem Vorfall ließ der Gouverneur Petrow meinen Mann zu sich bitten und begrüßte ihn mit folgenden Worten: »Wie ich höre, sind Sie in der Stadt mehr Befehlshaber als ich selbst. Vielleicht wollen Sie überhaupt meinen Posten übernehmen?« Mein Mann bedankte sich höflich und versicherte dem Gouverneur stolz und mit vornehmer Ruhe, er sei mit seiner Stellung als Direktor der Kommerzbank sehr zufrieden und verlange keine andere.

Nur die hohe Stellung meines Mannes und seine Verbindungen in der Beamtenschaft verhinderten einen schlimmen Ausgang dieses Vorfalles. Jeder andere würde ihn schwer gebüßt haben.

Solche und ähnliche Episoden wiederholten sich immer häufiger. Sie waren die Vorboten jener blutigen Ereignisse, die nicht mehr lange auf sich warten ließen.

Und »Pogrom« war das neue Wort, das die achtziger Jahre geprägt hatten… Die Juden von Kiew, Romny, Konotop und anderen Orten mußten zuerst das Furchtbare erleben; sie waren die ersten, die wehrlos von den wilden Massen des heimischen Pöbels überfallen und auf die roheste Weise niedergemacht wurden. Die Zeitungen, hauptsächlich aber Privatbriefe, brachten ausführliche Nachrichten über das Vorgefallene und verbreiteten eine unglaubliche Panik —

Das war der Anfang… Ein vielfaches Echo erscholl aus allen Enden Rußlands. Unter den Juden herrschte Niedergeschlagenheit und die Verzweiflung.

Doch verharrten sie nicht lange in dieser trostlosen Starrheit und rafften alle ihre Kräfte zusammen, um sich gegen den Feind zu wehren. Sie sahen ein, daß Gott ihnen nur dann helfen würde, wenn sie sich selbst helfen – und sie trafen Maßregeln und Vorbereitungen für die Zukunft, unerschrocken, mutig, an die Worte aus der »Megilath Ester« denkend: »Kaascher – owadeti, owodeti« – »Sowieso sind wir verloren, daher wollen wir uns doch wehren!«

In der Stadt Minsk herrschte eine düstere Stimmung. Der Handel stockte. Die Juden verließen ihre Geschäfte. Man sah sie durch die Straßen eilen, hastig, unruhig, mißtrauische Blicke um sich werfend. Sie waren auf ihrer Hut und hätten im Falle eines Pogroms verzweifelt gekämpft. Die Luft war geladen. Jeden Augenblick erwartete man die Explosion.

Die jüdischen Marktweiber, die zu mir ins Haus kamen, erzählten voll Schrecken und Entsetzen von den Roheiten und den Drohungen der Bauern, die zweimal wöchentlich ihre Ware zum Minsker Markt brachten. Die Bauern sprachen öffentlich von einem baldigen Überfall und von der Ermordung aller Juden.

Mein Mann brachte ebenfalls Schreckensnachrichten aus seiner Bank, die Kinder aus der Schule. Die judenfeindliche Stimmung wuchs mit jedem Tage. Und es kam dahin, daß sogar kleine Straßenbengel sich erdreisteten, die Fensterscheiben bei den angesehensten Familien von Minsk mit Steinen einzuwerfen und den Juden verächtliche Worte und Schimpfreden nachzurufen.

Einmal wurde an der Entreetüre unserer Wohnung, die zu ebener Erde lag, stark geklopft. Das Mädchen öffnete die Tür und sah erstaunt einen kleinen Gassenjungen vor sich. Dreist, mit einem frechen, herausfordernden Gesichtsausdruck, ohne die Mütze zu ziehen, fragte er nach dem Namen der Herrschaft. Als das Mädchen ihm unseren russisch klingenden Namen und unseren russischen Vornamen nannte, wiederholte er noch einmal ungeduldig seine Frage: »Ich will wissen, ob hier Juden oder Christen wohnen!« Nachdem er die gewünschte Antwort erhalten, schrie er wütend in die Wohnung hinein: »Judenpack, na, warum protzt ihr denn mit russischen Namen —« und lief davon.

In allen Schichten der Bevölkerung glimmte der Haß gegen die Juden, die sich unter den feindlichen, gehässigen Blicken wie unter geschliffenen Messern bewegten.

Die Juden in Minsk rüsteten sich zum Kampf und ihre Häuser wurden Kriegszelte. Jeder nach seiner Art, wie es ihm am leichtesten war: einer besorgte sich starke Stöcke – »Drongi« genannt —, der andere mischte Sand und Tabak, um dieses Zeug dem Pogromgesindel in die Augen zu werfen. Jungen von acht Jahren, Mädchen von zehn nahmen Teil an den schrecklichen Vorbereitungen, »waren mutig, unerschrocken auf den Straßen«. Es kam, daß ein solcher Held seiner besorgten Mutter zurief: »Sei ruhig, wenn die Kazappes kommen, uns zu töten, so hab ich auch ein Messer!« Bei diesen Worten griff er in seine Tasche und holte sein kleines Messer, das er für zehn Kopeken gekauft hatte, hervor.

Im eigenen Hause fühlte man sich nicht mehr sicher. Die christliche Dienerschaft, die seit längerer Zeit bei uns im Dienst war, wurde plötzlich unhöflich und herausfordernd, so daß wir uns vor diesen Hausfeinden zu sichern gezwungen waren. Jeden Abend, nachdem die Dienerschaft zur Ruhe gegangen, nahm ich alle Messer und Hämmer aus der Küche und verschloß sie in einem Schrank in meinem Schlafzimmer, und ohne daß es die Dienerschaft merkte, richtete ich jede Nacht vor der Eingangstür eine Barrikade aus Küchenbänken, Stühlen, einer Leiter und anderen Möbelstücken auf. Dabei lächelte ich wehmütig, denn ich glaubte nicht, daß wir uns im Falle eines Pogroms auf diese Weise wehren und retten könnten. Doch ich baute diese Barrikade immer von neuem, und frühmorgens stand ich als die erste auf, um alles wieder in Ordnung zu bringen, damit die Dienerschaft unsere Angst nicht merke.

Doch zu einem Pogrom kam es in Minsk nicht. Diese Stadt wurde zufälligerweise, oder vielleicht nicht zufälligerweise, verschont.

So gab es in jenen achtziger Jahren, als der Antisemitismus in ganz Rußland wütete, für einen Juden nur zwei Wege: entweder auf alles, was ihm jetzt schon unentbehrlich geworden war, im Namen des Judentums zu verzichten – oder die Freiheit und alle Möglichkeiten, wie Bildung, Karriere, d. h. die Taufe. – Und Hunderte von den aufgeklärten Juden gingen den letzten Weg. Aber die Meschumodim dieser Zeit waren nicht Täuflinge aus Trotz (l'hachis), sie waren auch nicht, wie die Marannen in früherer Zeit, die in Kellern ihren Gottesdienst abhielten, diese Meschumodim waren Verneiner alles Religiösen – sie waren Nihilisten —.

– Es komme der größte Zadik und sage, daß er den Mut und das Recht hätte, von einem jungen Menschen, der ohne jede Tradition, fern vom Judentum aufgewachsen, zu fordern, er solle im Namen dieses ihm unbekannten und leeren Begriffes auf alles verzichten, was die Zukunft ihm bieten könnte, auf Glück, Ehre, Namen. Zu fordern, daß er diesen Versuchungen widerstehe und sich in die Finsternis und Enge eines Provinzstädtchens zurückziehe und ein armseliges Dasein friste. Er sage, ob er das Recht und den Mut dazu hätte, denn ich hatte ihn nicht!

 

Und so gingen auch meine Kinder den Weg, den so viele andere gingen. Der erste, der uns verließ, war Simon.

Als wir es erfuhren, schrieb mein Mann unserem Kinde nur folgende Worte: »Es ist nicht schön, das Lager der Besiegten zu verlassen.«

Seinem Beispiele folgte mein Herzenskind Wolodia, der sich nicht mehr unter den Lebenden befindet. Nachdem er die Maturitätsprüfung in Minsk glänzend bestanden hatte, reiste er nach St. Petersburg, um dort an der Universität sein Studium zu beginnen. Er erschien in der Universitätskanzlei und wies seine Papiere dem Beamten vor, der über die Aufnahme zu entscheiden hatte.

Für die Juden herrschten große Beschränkungen. Es wurden nur diejenigen aufgenommen, die eine goldene Medaille bei der Abgangsprüfung erhalten hatten, und auch von diesen nicht alle, sondern nur bis zu zehn Prozent der Gesamtzahl der Studenten. Der Beamte gab die Papiere meinem Sohne mit den barschen Worten zurück: »Das sind nicht Ihre Papiere!« Als mein Sohn ihn erstaunt ansah, fügte er noch bestätigend hinzu: »Sie haben sie irgendwo entwendet; Sie sind ja Jude und in Ihren Zeugnissen steht kein jüdischer, sondern ein russischer Name >Wladimir< verzeichnet.« Noch an demselben Tage mußte der tiefgekränkte, in seiner Würde verletzte Jüngling St. Petersburg verlassen, denn als Jude durfte er, ohne Student zu sein, dort keine vierundzwanzig Stunden verbleiben. Noch einige Male mußte der Junge in dieser Angelegenheit nach Petersburg reisen, stets mit dem gleichen Erfolg, bis er den verhängnisvollen Schritt tat – und sogleich in die Liste der Studenten eingetragen wurde. Und ähnlich erging es auch manchen anderen Kindern.

Die Taufe meiner Kinder war der schwerste Schlag, den ich in meinem Leben erlitten habe. Aber das liebende Herz einer Mutter kann so viel ertragen – ich verzieh und schob die Schuld auf uns Eltern.

Allmählich verlor dieses Leid für mich die Bedeutung eines persönlichen Erlebnisses, immer mehr wurde es zu einem Nationalunglück. Ich betrauerte nicht nur als Mutter, sondern auch als Jüdin das ganze jüdische Volk, das so viele edle Kräfte verlor.

Aber es haben sich in jener finsteren Periode nicht alle aufgeklärten Juden zu den Fremden verirrt – es waren unter ihnen viele, die den Weg zum Judentum zurückfanden und die unter dem Einfluß der letzten Ereignisse sich zusammenschlossen. Ja, es entstand als Reaktion auf den Antisemitismus die Gesellschaft der »Chowewe Zion« (Palästinafreunde), gegründet von Dr. Pinsker, Dr. Lilienblum und anderen.

Nach den Ereignissen der letzten Zeit war mein Mann lange niedergeschlagen, verkümmert und erst als sich ihm Gelegenheit bot, seine Kräfte in den Dienst des jüdischen Volkes zu stellen, kam von neuem ein Geist freudigen Schaffens über ihn.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begann in Rußland die Arbeiterfrage in den Vordergrund zu treten und gewann allmählich an Bedeutung und Interesse.

Bei den Juden galt seit Jahrhunderten die Arbeiterklasse, die größtenteils aus Unwissenden bestand, als niedere Klasse, und kein Wunder, daß sie von einem Volke, das die Bildung am höchsten ehrt, bei dem die geistige Aristokratie alles gilt, gering geschätzt wurde. Redensarten, wie: »Er versteht >Chumisch< (die 5 Bücher Moses) wie ein Schuster, wie ein Schneider« usw. haben sich eingebürgert und wurden sehr oft angewandt. Es kommt noch heute in jüdischen Familien nicht selten vor, daß der Vater in die Heirat seiner Tochter oder seines Sohnes nicht einwilligen will, wenn er erfährt, daß in der Familie Schneider oder Schuster sind. Trotz aller modernen Ideen gilt noch heute bei der großen Mehrheit auch der aufgeklärten Juden der »Jiches«* sehr viel.

Nun drang in die Finsternis, in die dumpfen, dunklen Behausungen dieses dritten Standes ein lichter Strahl und weckte auch diese Zurückgebliebenen zum neuen, schöneren Leben. Auch unter ihnen begann eine geistige Gärung.

Diesen Tendenzen des Proletariats kam das vermögende, vornehme Judentum entgegen und schonte keine Mühe und kein Geld, seine Bestrebungen zu unterstützen.

Die neuen Ideen fanden in unserem Hause eine begeisterte Aufnahme, und mein Mann faßte den Plan, eine dreiklassige Gewerbeschule für Knaben in Minsk zu begründen. Gedacht, getan! »Ojmer w'ojße,« wie der Hebräer sagt.

Er zog den Rabbiner Chaneles zur Mitarbeit heran und ersuchte die jüdische Gemeinde, von der Taxe auf Koscherfleisch eine bestimmte Geldsumme zu dem Unternehmen beizusteuern. Das übrige notwendige Geld sollten Mitglieder durch monatliche Beiträge zusammenbringen.

Mit welchem Eifer ging mein Mann an die Arbeit! Jede freie Stunde widmete er jetzt der »heiligen Sache«. In dieser Schule sollten anfangs die folgenden Handwerke gelehrt werden: Schlosserei, Tischlerei, Schmiederei. Daneben sollte auch in den Elementarfächern Unterricht erteilt werden, dem Programm der Volksschulen entsprechend.

Man mietete ein Haus und richtete es mit dem Notwendigsten ein. Meinem Mann gelang es zu seiner großen Freude, das Inventar sehr billig und oft umsonst zu erhalten.

Die jüdische Bevölkerung von Minsk war sehr zufrieden. Von den wohlhabenden Juden erklärte sich jeder bereit, mit einer Geldgabe das gute Werk zu fördern. Nicht ohne Grund sagten unsere Weisen schon: »Jisroel rachmonim bne rachmonim« – »Die Kinder Israel sind barmherzig und Kinder der Barmherzigen«.

Es wurde ein Vorstand aus den fortschrittlichen vornehmen Juden der Stadt gewählt, die meinen Mann zum Vorsitzenden ernannten.

Alles war bereit, und man begann mit der Aufnahme der Kinder. Den Vorzug hatten Waisenkinder und Kinder sehr armer Eltern. Es wurden über sechzig Knaben angenommen.

Man richtete Internate für die ganz Armen und Obdachlosen ein; zuerst aßen die Kinder bei den Bürgern der Stadt – jeden Tag wurden sie bei anderen Leuten untergebracht. Doch mit der Zeit fanden sich Mittel, um eine Köchin zu mieten, und die armen Kinder bekamen dreimal täglich in der Schule zu essen. An Wochentagen waren die Mahlzeiten sehr einfach, doch frisch und gesund – Suppe, ein Stück Suppenfleisch, Grütze. Aber am Freitag abend und am Sabbat wurde der Tisch festlich gedeckt und die Kinder bekamen ein echt jüdisches traditionelles Mahl. Am Sabbat wurde nicht gearbeitet. Es war ein Festtag, an dem die Knaben auch in ihrer Synagoge beteten.

Diese Schüler, meistens Kellerbewohner waren magere, blasse Kinder, mit großen, klugen, schwarzen Augen. Sie waren natürlich nur schlecht gekleidet. Aber sie arbeiteten und lernten mit Lust. Ich kam öfters in die Schule, um mich an dem Anblick der arbeitenden Kinder zu erfreuen.

Es verging kein Tag, ohne daß mein Mann die Schule besucht und mindestens eine Stunde dort verweilt hätte. Rabbiner Chaneles beschäftigte sich sehr viel mit dieser Anstalt und unterrichtete selbst die Kinder unentgeltlich in der Bibel und in anderen Fächern.

So verging ein Jahr. Die Schule hatte gute Erfolge. Mein Mann und Rabbiner Chaneles veranstalteten einen offiziellen Akt, um den Jahresbericht über ihre Tätigkeit abzustatten.

Man lud zu dieser Feierlichkeit den Gouverneur Petrow ein und mehrere Regierungsbeamte, die Direktrice des Mädchengymnasiums, Madame Buturlina, und die Lehrer der oberen Klassen, wie auch die vornehmsten Damen und Herren der jüdischen Gesellschaft.

Mein Mann las den Bericht vor, und die ganze Gesellschaft folgte mit wahrem Interesse seinen Ausführungen. Es geschah zum erstenmal, daß in den Räumen einer jüdischen Schule Juden und Christen einträchtig und in feierlicher Weise die Angelegenheiten des heranwachsenden jüdischen Proletariats besprachen.

In der großen Tischlerwerkstatt waren die Schüler – Knaben im Alter von 11-13 Jahren – versammelt; sie erweckten durch ihr elendes Äußere in den Gästen das wärmste Mitleid.

*Klagelieder am Tischo b'Ab.
*Ahnenstolz.