Vorgeschichte des politischen Antisemitismus

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Die Wiederaufnahme eines aggressiven Antisemitismus im konservativen Parteiprogramm, dies verdient festgehalten zu werden, war reiner Opportunismus. Die antisemitische Bewegung der frühen neunziger Jahre entsprang nicht altkonservativem Boden. Die fanatischen Antisemiten waren, wie der Tivolikongreß deutlich zeigte, nicht unter den Junkern zu finden. In dem Entwurf für ein neues Parteiprogramm, den die Führer der alten, gemäßigten Parteimehrheit ausgearbeitet hatten, stand noch der Satz: »Wir verwerfen die Ausschreitungen des Antisemitismus.« Nach einer scharfen Debatte ließ der Parteitag den Satz fallen. Bürgerliche Delegierte vor allem sprachen gegen den »gemäßigten« Wortlaut. Ein Rechtsanwalt aus Westfalen sagte:

»Wir sind den Opportunismus satt, der die aktuelle Kraft der konservativen Partei seit Jahren gelähmt hat! Eine gewisse Richtung der Partei hat es sich zur Aufgabe gesetzt, das Kind [den Antisemitismus] gewissermaßen in der Geburtsstunde zu ersticken … Der Satz ist eine Hintertür, gewissermaßen ein Diener vor dem Judentum, er kann dem konservativen Programm die Spitze abbrechen.«136)

Ein hochgestellter Adeliger verteidigte den umstrittenen Passus; man könne nicht gleichzeitig konservativ sein und den Radau-Antisemiten Ahlwardt wählen. Mit stürmischen Oho-Rufen wurde er unterbrochen. Ein Rechtsanwalt erklärte: »Ich halte mich für ebenso konservativ wie der Vorredner und habe in der Stichwahl Ahlwardt gewählt. Weiter habe habe ich Ihnen nichts zu sagen!«137)

Ein nichtadliger Stoecker-Anhänger aus Sachsen prägte das Wort, die Partei müsse »demagogisch im guten Sinne« werden. Graf Otto von Manteuffel, der Vorsitzende der Landtags- und Reichstagsfraktion und Präsident des Parteitags, gab dem Standpunkt der Junker mit charakteristischem Zynismus Ausdruck, als er in einer Rede in Berlin, ein halbes Jahr nach dem Parteitag, sagte: »Die Judenfrage war nicht zu vermeiden, wollte man nicht den demagogischen Antisemiten den vollen Wind der Bewegung überlassen, mit dem sie einfach an uns vorbeigesegelt wären.«138)

Das am 8. Dezember angenommene revidierte Programm der konservativen Partei enthielt unter anderen Grundsätzen und Forderungen die folgenden:

»Staat und Kirche sind von Gott verordnete Einrichtungen; ein Zusammenwirken beider ist die notwendige Vorbedingung zur Gesundung unseres Volkslebens.

»Die konfessionelle christliche Volksschule erachten wir für die Grundlage der Volkserziehung und für die wichtigste Bürgschaft gegen die zunehmende Verwilderung der Massen und die fortschreitende Auflösung aller gesellschaftlichen Bande.

»Wir bekämpfen den vielfach sich vordrängenden und zersetzenden jüdischen Einfluß auf unser Volksleben.

»Wir verlangen für das christliche Volk eine christliche Obrigkeit und christliche Lehrer für christliche Schüler.

»Wir wollen die Monarchie von Gottes Gnaden unangetastet erhalten wissen und bekämpfen, bei gesetzlich gesicherter bürgerlicher Freiheit für alle und bei wirksamer Beteiligung der Nation an der Gesetzgebung, jeden Versuch, die Monarchie zugunsten eines parlamentarischen Regimentes zu beschränken.

»Einer gewissenlosen Presse, welche durch ihre Erzeugnisse Staat, Kirche und Gesellschaft untergräbt, ist nachdrücklich entgegenzutreten.

»Hochhaltung von Christentum, Monarchie und Vaterland, Schutz und Förderung jeder redlichen Arbeit, Wahrung berechtigter Autorität, das sind die obersten Grundsätze, welche die Deutsche Konservative Partei auf ihre Fahne geschrieben hat.«139)

Im wirtschaftlichen Teil verlangte das Programm Schutzzölle für Landwirtschaft und Industrie, »Beseitigung der Bevorzugungen des großen Geldkapitals«, Schutz des Mittelstandes durch die Einführung von Gewerbeerlaubnisscheinen und die Stärkung von Zünften und Genossenschaften. »Redlicher Handel und Gewerbebetrieb ist zu schützen durch Beschränkung und Beaufsichtigung des Hausierhandels und der Abzahlungsgeschäfte, sowie durch die Beseitigung der Wanderlager und der Wanderauktionen.«

Hellmut von Gerlach, damals noch Antisemit und Mitarbeiter Stoeckers, schrieb später über die Ereignisse auf dem Tivoli-Parteitag, wo er eifrig hinter den Kulissen mitgearbeitet hatte:

»Die Aufnahme des Antisemitismus in das Programm der konservativen Partei war der größte moralische Erfolg, der für ihn denkbar war. Bisher offiziell vertreten nur von einzelnen Parteisplitterchen, wurde er nunmehr legitimer Besitz einer der größten Parteien, der Partei vor allem, die dem Throne am nächsten steht, die die wichtigsten Stellen im Staate besetzt. Der Antisemitismus war hart an die Grenze der Hoffähigkeit herangerückt.«140)

Auf der Tivoli-Tagung begann die Massenbewegung von rechts, deren Erfolge bald alle Erwartungen übertrafen. Aber es war nicht die antisemitische Ideologie, die der Bewegung soviel Auftrieb gab. Zur Zeit des Parteitags veröffentlichte ein bekanntes Landwirtschaftsblatt in Schlesien einen ganz ungewöhnlichen Vorschlag, wie man der Not der Landwirte steuern könne. Der Verfasser, ein dort ansässiger Landwirt, riet seinen Lesern, das zu tun, was die Sozialdemokraten täten, nämlich eine entschlossene Haltung der Regierung gegenüber einzunehmen. Gegen Caprivis Vernachlässigung der landwirtschaftlichen Interessen könne man durch Appelle und Bittgänge nichts ausrichten.

»Ich schlage vor …, daß wir sie [die Regierung] unsere Macht fühlen lassen … Wir müssen aufhören zu klagen … Wir müssen schreien, daß es das ganze Land hört; wir müssen schreien, daß es bis in die Parlamentssäle und Ministerien dringt – wir müssen schreien, daß es bis an die Stufen des Thrones vernommen wird! Aber wir müssen, damit unser Geschrei nicht wieder ungeachtet verhallt, gleichzeitig handeln. Wir müssen handeln, indem wir aufhören, was wir bisher immer für selbstverständlich hielten, für die Regierung in unseren Bezirken die Wahlen zu machen; wir müssen alle Ehrenämter ablehnen … Wir müssen … Interessenpolitik treiben … Denn nur dadurch, daß wir rücksichtslose und ungeschminkte Interessenpolitik treiben, kann vielleicht die Existenz der heutigen Landwirte … gerettet werden.«141)

Der Notschrei dieses schlesischen Landwirts zündete in ganz Deutschland und löste eine machtvolle Bewegung aus, die sich die politische Organisierung agrarischer Interessen zum Ziel setzte. Im Februar 1893 war die Vorbereitungsarbeit soweit gediehen, daß Einladungen zur Gründungsversammlung eines »Bundes der Landwirte« und ein Programmentwurf ausgeschickt werden konnten142). Die Verfasser des Programms verschwendeten keine Worte an ideologische Verbrämungen. Der erste Artikel verlangte »genügenden Zollschutz für die Erzeugnisse der Landwirtschaft und deren Nebengewerbe«, der zweite, daß die Regierung »keine Handelsverträge mit Rußland und anderen Ländern« abschließt, die zu einer Verminderung der Zölle auf landwirtschaftliche Importe führen. Mit der Forderung, die Produktenbörse unter strenge Regierungsaufsicht zu stellen, trat der Bund unter die Fahnen des Antisemitismus. Schließlich erklärte er sich geradeheraus gegen die bestehende Arbeiter-Sozialversicherung und verlangte ihre Revision.

Der Tivoli-Parteitag hatte noch, unter Stoeckers Führung, gegenüber den Problemen der industriellen Arbeiterschaft Zurückhaltung gewahrt. Das Tivoli-Programm beschränkte sich auf die Feststellung, die Konservativen scheuten keine Anstrengung, »für die Besserung der Lage der Arbeiter, unter erheblicher Belastung der Arbeitgeber« einzutreten. Man wollte die Arbeiterschaft daran erinnern, daß Bismarcks Sozialversicherungsgesetz mit den Stimmen der Konservativen gegen die Opposition der Liberalen angenommen worden war. Obwohl der Bund der Landwirte die vom Parteitag geübte Vorsicht in den Wind schlug, begrüßte Stoecker sein Erscheinen auf der politischen Bühne. Kaum war der Programmentwurf veröffentlicht, als er erklärte, auf einer gesunden Landwirtschaft, aus Großgrundbesitz, mittleren und kleinen Landwirten bestehend, beruhe die Existenz Preußens. In jedem Falle sei es besser, sagte er am 28. Februar 1893, wenn Mitglieder der alten Adelsfamilien auf den ostpreußischen Rittergütern sitzen, als wenn »Kohn und Itzig als Hypothekenbesitzer einrücken und das Volk mit ihren umstürzlerischen Gedanken verderben«143). Um Junker und Bauern für den Kampf gegen den Liberalismus einigen zu können, ignorierte Stoecker die Absicht des Bundes, das Sozialversicherungsprogramm, den Hauptpunkt der christlichsozialen Politik, anzugreifen – ein Programm, das einst in einer kaiserlichen Botschaft feierlich verkündet und von Stoecker als die Morgenröte eines neuen Humanismus begrüßt worden war.

Der Bund der Landwirte mit seinem antiliberalen, antisemitischen und arbeiterfeindlichen Programm wurde zum Hauptorganisator der Massenbewegung von rechts. Bismarck lieh ihm sein Prestige; für ihn war der Bund ein Instrument, das ihm in seiner Fehde mit Wilhelm II. und Caprivi gute Dienste leisten konnte. Sein Sohn Herbert übernahm den Posten des Vize-Präsidenten. Bald geriet die tatsächliche Leitung des Bundes in die Hände von Konservativen, die alle Großagrarier, wenn auch nicht immer Junker waren. Um die Jahrhundertwende zählte der Bund fast eine Viertelmillion Mitglieder. Mehr als die Hälfte davon hatten ihren Wohnsitz westlich der Elbe, also in Gegenden, wo bisher die preußischen Konservativen schwach gewesen waren. Die Verbindung mit dem Bund der Landwirte machte es den Konservativen möglich, ihren Einfluß bis nach Bayern und dem Rheinland auszudehnen und die Konservative Partei in eine gutorganisierte Massenpartei, die sich über das ganze Reichsgebiet erstreckte, zu verwandeln. Endlich waren sie in der Lage, die politische Kluft zwischen Junker und Bauer und zwischen Preußen und Süd- wie Westdeutschland zu überbrücken. Das programmatische Ziel des Bundes, der Zusammenschluß aller Agrarinteressen, war im Grunde illusionär, da Groß- und Kleinbetriebe, extensive und intensive Bebauungsmethode, Futterproduktion und Veredelungswirtschaft schließlich nicht die gleichen, sondern oft widerstreitende Interessen haben. Trotzdem gelang es dem Bund in erstaunlichem Maße, die widerstreitenden Tendenzen zusammenzuschweißen. Eine Art berufsständisches Bewußtsein verhinderte auch hier die Trennung kulturell-sozialer und rational-ökonomischer Erwägungen.

 

Man sollte glauben, die Konservative Partei hätte für diese Machterweiterung ihre politische Seele opfern müssen. Wie konnte sie fortan gegen den »materialistischen Liberalismus« donnern, ohne daß ihr das Wort »Schutzzoll« entgegengehalten würde? Wie konnte sie die Ideale des christlichen Staates aufrechterhalten, wenn sich diese Ideale in der politischen Wirklichkeit in Forderungen nach staatlichem Schutz des Großgrundbesitzes verwandelten, dessen Kosten Konsumenten und Steuerzahler zu bestreiten hatten? Dennoch tat ihr die Verwandlung von einer Herren-Partei, die hauptsächlich mit Weltanschauungsfragen befaßt schien, in eine Massenorganisation, die spezielle wirtschaftliche Interessen vertrat, kaum Abbruch. Das ganze politische Leben Deutschlands machte zu jener Zeit einen ähnlichen Übergang durch. Die materiellen Interessen der Gesellschaftsgruppen brachen allmählich durch die ideologischen Verhüllungen durch. Die großen nationalen und liberalen Forderungen des Bürgertums hatten sich teils erfüllt, teils verflüchtigt. Mit allgemeinen Idealen konnte man Parteiprogramme nicht länger durchsetzen.

Die Tendenz zur sozialen und ökonomischen Ausrichtung der politischen Gruppen hatte sich seit den späten siebziger Jahren immer kräftiger durchgesetzt. Maximilian Harden schrieb im April 1893 in der Zukunft:

»Die alten Namen bleiben, im achtundvierziger Sinne aber war, mit geringen Ausnahmen, alles liberal geworden und das konservative Bestreben, das neue Gebäude des Reiches erhalten zu sehen, war … auch allen gemein. Seitdem kann man für die Parteinamen konservativ, nationalliberal, freisinnig getrost die Vertretungen des Grundbesitzes, der Industrie und des beweglichen Kapitals setzen, ohne sich darum zu bekümmern, daß pastorale und professorale Einflüsse da oder dort noch sich geltend machen.«144)

Harden unterließ es, zwei Hauptgruppen – die Sozialdemokratie und die katholische Zentrumspartei – in dieser Identifizierung von wirtschaftlichen und politischen Gruppen zu erwähnen. Aber das Beispiel dieser beiden Parteien dürfte ihn kaum widerlegen. Die Sozialdemokratie hatte sich von Anfang an als eine Klassenpartei erklärt und dadurch die Umwandlung der bürgerlichen Parteien nur beschleunigt. Das Zentrum wurzelte zwar in religiösem Boden und war daher am ehesten in der Lage, der allgemeinen Tendenz zur Reorganisierung des politischen Lebens nach Wirtschaftsinteressen Widerstand zu leisten, aber es wurde durch die agressiven Forderungen des Bundes der Landwirte doch ernstlich bedroht. Der Historiker der Zentrumspartei, Karl Bachem, selber ein prominenter Reichstagsabgeordneter, beschrieb, wie schwer es der Parteileitung wurde, die ländlichen Anhänger zusammenzuhalten angesichts der lauten Agitation des Bundes gegen die von der Regierung vorgeschlagenen Handelsabkommen mit Rußland und Rumänien145). Das Zentrum war bereit gewesen, die Regierung zu unterstützen, aber die Kampagne des Bundes hatte sich als so wirksam erwiesen, daß nur einige der Zentrumsabgeordneten für die Verträge stimmten und eine große Anzahl dagegen. Eine wirtschaftliche Frage beschwor im Zentrum die Gefahr einer Spaltung!

Ihre erste Prüfung erlebte die Massenbewegung von rechts einige Monate nach der Gründung des Bundes der Landwirte. Die Regierung wollte die Friedensstärke der Armee erhöhen, da das Heer die alljährlich wachsende Zahl von Dienstpflichtigen nicht mehr voll zur Ausbildung übernehmen konnte. Eine politische Annäherung zwischen Rußland und Frankreich lieferte das Gefühl einer Bedrohung von außen, das immer in Erscheinung zu treten pflegte, wenn eine Heeresverstärkung zur Diskussion stand. Freisinnige, Sozialdemokraten und das Zentrum waren gegen die Armeevorlage, obwohl Caprivi versucht hatte, die bittere Pille schmackhafter zu machen durch Herabsetzung der Dienstzeit von drei auf zwei Jahre. Der Kanzler mußte entweder der Opposition nachgeben oder den Reichstag auflösen in der Hoffnung, durch die Neuwahlen eine regierungsfreundlichere Mehrheit zu erlangen.

Caprivi entschied sich für die Neuwahl, obwohl die politischen Verhältnisse der Regierung ungünstig waren. Das ländliche Deutschland stand in voller Auflehnung gegen die Außenhandelspolitik des Reichskanzlers. Bismarck, das Symbol so vieler nationaler und internationaler Siege, tat das Seine, das Ansehen Caprivis durch Angriffe auf das »persönliche Regiment« des Kaisers zu untergraben. Die Nationalisten gewannen Oberwasser. Sie warfen Caprivi vor, durch Herabsetzung der Dienstzeit die Sicherheit des Reiches zu gefährden. Der Antisemitismus loderte auf wie nie zuvor; die radikal antisemitischen Agitatoren stürmten durch die Provinzen von Hessen bis Ostpreußen und eiferten gegen Juden, Junker und kaiserliche Beamte. Die Sozialdemokraten konnten wieder einmal voll Zuversicht einen überwältigenden Erfolg an der Wahlurne erwarten.

Die Wahlen von 1893 waren von besonderem Interesse wegen der neuen Parteiverbindungen in den Stichwahlen. Der Bund der Landwirte machte seine Unterstützung eines Kandidaten davon abhängig, daß dieser das Programm des Bundes annahm. So verpflichtete er nicht nur konservative, sondern auch manche nationalliberale Kandidaten auf eine antisozialistische und antisemitische Linie. In Wahlkreisen, in denen ein Sozialdemokrat führend in die Stichwahl kam, bildete sich nicht selten eine geschlossene Front von den Antisemiten bis zu den Nationalliberalen, die den Gegner besiegte. In der Ausgabe vom 26. Juni 1893 sagte der Vorwärts, das Zentralorgan der Sozialdemokratie:

»Daß die konservative und die nationalliberale Partei auf den Antisemitismus gekommen sind, ist die schönste Illustration kapitalistischer Natur, und es ist nur logisch, daß die Antisemiten auf bürgerlicher Seite die Führung in dem Kampfe des Kapitalismus mit dem Sozialismus übernommen haben.«

Die Wahlkampagne zeigte auch, daß die Antisemiten – sei es der Bund der Landwirte, Stoeckers Christlichsoziale Partei oder eine der unabhängigen radikal antisemitischen Gruppen – in den ländlichen Gegenden und kleinen Städten mehr Zugkraft besaßen als die Konservativen. Ein Kandidat der Christlichsozialen, der mit den kombinierten Stimmen der Antisemiten und der Konservativen in den Reichstag gewählt wurde, ein Professor Huepeden, schrieb Jahre später über die Arbeitsteilung, die sich zwischen den beiden Parteien entwickelte:

»Die konservative Partei trug die Kosten des Wahlfeldzuges und die antisemitische Partei stellte die Redner für die Bearbeitung der Ortschaften; sie verfügte namentlich über die eifrige Jugend.«146)

Eine ähnliche Arbeitsteilung ergab sich eine Generation später zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten.

Die Antisemiten und die Sozialdemokraten, die extremen Flügel der Opposition gegen die »Politik der Mitte«, errangen die größten Erfolge in den Wahlen. Die Antisemiten, zwar zahlenmäßig noch immer eine kleine Partei, gewannen einen Stimmenzuwachs von über 450 Prozent (147). Stoecker selbst war allerdings nicht wiedergewählt worden, war aber noch preußischer Landtagsabgeordneter. Die Antisemiten zogen mit 16 statt 5 Abgeordneten in den Reichstag ein und waren so zum ersten Mal stark genug, eine eigene Fraktion zu bilden (für die eine Mindestzahl von 15 Abgeordneten erforderlich war). Damit hatten sie das Recht erworben, Vertreter in die Kommissionen zu entsenden und Gesetzesentwürfe einzubringen, was den »Wilden«, den fraktionslosen Abgeordneten, nicht gestattet war.

Die Sozialdemokratie erhielt in den Wahlen 1 786 700 Stimmen, fast dreimal soviel wie 1887 und 300000 mehr als 1890; die gefährlichste Oppositionspartei der kaiserlichen Regierung hatte alle »staatserhaltenden« Parteien weit hinter sich gelassen. Gegenüber dieser niederschmetternden Tatsache war es kaum mehr ein Trost, daß die bestehende »Wahlkreisgeometrie« die Sozialdemokraten stark benachteiligte. Mit ihren eindreiviertel Millionen Stimmen gewannen sie nur 44 Mandate, während die Konservativen, mit etwa einer Million Stimmen, 72 Sitze im Reichstag erhielten, einen weniger als 1890 (148).

Das Zentrum, mit ungefähr anderthalb Millionen Stimmen, verlor zwar 12 Mandate gegenüber 1890, war aber mit 96 Sitzen immer noch die stärkste Fraktion. Die Nationalliberalen erreichten die Wählerzahl der Konservativen. Sie gewannen 11 Sitze, so daß sie jetzt 53 Mandate besaßen. Die Freisinnigen erlitten die schlimmsten Verluste. Wie gewöhnlich hatten sie sich über die Frage der Heeresverstärkung nicht einigen können. Vor der Wahl kam es zur Spaltung. Die Minderheit unter Heinrich Rickert war für Caprivis Gesetzentwurf und nannte sich »Freisinnige Vereinigung«. Die Mehrheit unter Eugen Richter war dagegen; sie nahm den Namen »Freisinnige Volkspartei« an. In der Wahl erhielten sie 13 bzw. 24 Mandate, zusammen also 37, gegenüber 67 drei Jahre zuvor. Von diesem Verlust sollten sie sich nicht wieder erholen (149).

Der neue Reichstag nahm die Heeresvorlage an, aber es war ein Pyrrhussieg für Caprivi. Die Gegner des Entwurfs waren nur um 16 Stimmen schwächer. Caprivi verdankte die Annahme des Gesetzes der Polenpartei, die damals 19 Abgeordnete im Reichstag hatte. Sie war die politische Vertretung der Bevölkerung polnischer Herkunft. Bismarcks »Kulturkampf« hatte auch die polnischsprechende, größtenteils katholische Bevölkerung in Ostpreußen und Posen getroffen. 1872 waren mit dem Schulaufsichtsgesetz die Volksschulen dem Einfluß der polnischen Geistlichkeit entzogen, 1873 Deutsch als Unterrichtsfach und 1876 als alleinige Amtssprache eingeführt worden. Durch diese »Germanisierungsmaßnahmen« wurden die polnischsprechenden Bauern in Posen, bisher gute preußische Untertanen, in eine nationale Oppositon gedrängt, die sich bald auch unter den »Kaschuben« in Westpreußen und den oberschlesischen »Wasserpolaken«, wie die preußischen Eindeutscher sie nannten, ausbreitete. Das Ergebnis der Germanisierungsbestrebungen war die Polenpartei. 1886 begann Bismarck, sie aktiv zu bekämpfen, indem er durch die mit Staatsmitteln ausgestattete »Ansiedlungskommission« und durch Verwaltungsschikanen »polnische« Grundbesitzer dazu brachte, ihr Land zu verkaufen, das er dann mit deutschen Kolonisten besiedeln ließ.

Dieser Politik wollte Caprivi ein Ende bereiten, stieß aber auf Widerstand beim Kaiser und auf offene Feindseligkeit bei Bismarck und dessen Freunden (150). Das Groteske an der politischen Situation lag darin, daß die Caprivische Heeresvorlage nun von diesen polnischen »Reichsfeinden« gerettet wurde – von Elementen also, die der deutsche Nationalist als vermutliche Landesverräter im Kriege und als ein unzivilisiertes Pack im Frieden betrachtete. Die Schwäche der Regierung, die gesteigerte Unabhängigkeit des Reichstags und die stets wachsende Tendenz zur Parlamentsherrschaft waren nur zu deutlich sichtbar geworden.

Des Kaisers Beziehungen zu Caprivi kühlten sich bald ab. Eine »Kanzlerkrise« folgte der anderen. Wilhelm II., der seine Regierung in der Illusion angetreten hatte, von Gottes Gnaden zum Herrscher über eine geeinte und der Hohenzollerndynastie treu ergebene Nation berufen zu sein, war der endlosen, so gar nicht heldenhaften Aufgaben der sozialen Versöhnung müde. Sein Hauptziel der inneren Politik schien von der Verwirklichung weiter entfernt als je: die industriellen Massen sperrten sich nach wie vor hartnäckig gegen die erhoffte Bekehrung zu Thron und Altar. Statt dessen schlossen sie sich immer enger an die Sozialdemokratie an, die auch weiterhin revolutionäre Absichten kundtat. Die Politik der Mäßigung, die dem Kaiser vorschwebte, erschien ihm immer nutz- und aussichtsloser. Zum Bruch mit Caprivi im Jahre 1894 kam es wegen desselben Konfliktes, der auch zu Bismarcks Entlassung geführt hatte: die Bedrohung des Staates durch die sozialistische Arbeiterbewegung. Die Gefahr, die von einem parlamentarischen Regierungssystem zu erwarten stand, wuchs mit den gewaltigen Fortschritten, die der Partei der Revolution schon unter dem bisherigen System möglich waren. Staat und Gesellschaft konnten offenbar nur erhalten werden, wenn die »Kräfte des Umsturzes« unterdrückt wurden.

 

Diesmal aber spielte sich der Konflikt mit vertauschten Rollen ab. Der Kaiser begünstigte jetzt, was er 1890 dem Kanzler verweigert hatte: den Staatsstreich. Angespornt wurde er von den Königen von Sachsen und Württemberg, vom preußischen Ministerpräsidenten Eulenburg, von den Konservativen um Hammerstein, von hochgestellten Offizieren und Industriellen, von dem kurz vorher gegründeten, ultranationalistischen Alldeutschen Verband und von dem nicht weniger streitbaren Bund der Landwirte – ein Gemisch von Cliquen, Gruppen, Parteien und Individuen, die von gemeinsamem Haß und gemeinsamer Furcht beseelt waren. Ihre Feinde sahen sie im parlamentarischen System, in Liberalismus und Sozialismus.

Eine schnell aufeinanderfolgende Reihe von Wahlen und Reichstagsauflösungen sollte, so hofften sie, ein für allemal demonstrieren, wie widersinnig die verfassungsmäßige Regierungsform geworden sei, und so die Nation auf den Staatsstreich vorbereiten. Mit der Idee des Staatsstreichs spielte man damals viel und gern. Hellmut von Gerlach berichtet über eine Sitzung, in der ein konkreter Plan diskutiert wurde. Ende 1894 hatte Hammerstein führende Konservative zusammengerufen, um sie für die sofortige Ernennung Eulenburgs zum Reichskanzler und die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts durch Verordnung des Bundesrates zu gewinnen. Das wäre natürlich eindeutiger Verfassungsbruch gewesen, der zu Kämpfen mit den Arbeitern führen mußte. Eulenburg und Hammerstein rechneten offenbar auf Unterstützung durch das Heer, was voraussetzt, daß sie sich des Kaisers sicher fühlten. Aber sie wollten sich auch der Hilfe anderer konservativer Kräfte versichern. Stoecker, der unter den Anwesenden war, sprach mit Vorsicht für den Plan, einige andere Teilnehmer dagegen konnten nicht gewonnen werden151). Die Drohung mit dem Staatsstreich und der Armeerevolte wiederholte sich bei größeren politischen Krisen und war mit daran schuld, daß die ängstliche demokratische Opposition immer mehr Konzessionen an Nationalismus und Militarismus machen zu müssen glaubte.

Die Staatsstreichpläne kamen nie zur Ausführung. Das lag wohl in erster Linie daran, daß der Kaiser weder die Persönlichkeit besaß noch die Autorität genoß, deren es für ein so gefährliches Wagnis bedurft hätte. Außerdem ließ sich Caprivi nicht dafür gewinnen. Als der Kaiser vor der Entscheidung stand, entweder Verfassungsbruch zu begehen, was er nicht wagte, oder mit einer unwillkommenen Parlamentsmehrheit zu regieren, die er sich lieber vom Leibe halten wollte, versuchte er als Ausweg die Strategie des Eisernen Kanzlers nachzuahmen. 1878 hatte Bismarck die Attentate auf Wilhelm I. benutzt, eine politische Krise herbeizuführen, die er dann mit der Unterdrückung der Sozialdemokratie und der Schwenkung von der liberalen zur konservativ-katholischen Mehrheit lösen konnte. Im Juni 1894 wurde Sadi Carnot, der Präsident Frankreichs, ermordet und eine Reihe anderer anarchistischer Gewaltakte in Frankreich begangen. Der Kaiser packte die Gelegenheit beim Schopf und forderte energische Maßnahmen gegen die umstürzlerischen Kräfte in Deutschland; der Preußische Ministerpräsident Eulenburg, der seine Fähigkeiten zur Zeit des Sozialistengesetzes bewiesen hatte, sollte dem Landtag angemessene Gesetzentwürfe zum Schutze von Reich, Monarchie, Kirche und Familie vorlegen. Eulenburg aber wollte eine solche Gesetzgebung zuerst im Reich, das heißt, von Caprivi im Reichstag eingebracht haben. Caprivi, der gegen derartige Gesetze prinzipielle Bedenken hatte und nur zu genau wußte, was des Kaisers und Eulenburgs Absichten waren, leistete Widerstand.

Der Kaiser gab nicht nach. Da er beim Reichskanzler für seine Pläne wenig Interesse fand, wollte er sie zu einer Sache des Volkes machen. Im September 1894, in einem der ersten seiner unverantwortlichen oratorischen Ausbrüche, rief er seine Untertanen zum Schutze der Religion, der Moral und der gegebenen Ordnung gegen die Parteien des Umsturzes auf. Einige Wochen darauf, in einer anderen Rede, zerstörte er Caprivis Politik der Versöhnung mit der polnischen Minderheit. Caprivis Feinde nutzten die Kluft zwischen Kaiser und Kanzler aus. Bismarck beeilte sich, die neue Politik Wilhelms ausdrücklich gutzuheißen. Eulenburg schickte eine Delegation des Bundes der Landwirte zum Kaiser, um dessen Wünsche nach einer Regierung der starken Hand und nach einer neuen Gesetzgebung der Unterdrückung zu schüren. Auch die Nationalliberalen wollten nicht beiseite stehen und hatten schon auf dem Parteitag in Frankfurt im September 1893 die Wiederaufnahme des Kampfes gegen Sozialisten und Polen gefordert. Auf der Grundlage der kaiserlichen Ansprachen entwarf Eulenburg eine »Umsturzvorlage« von solcher Schärfe, daß bei Durchführung des Gesetzes die bestehenden Gerichte und Gefängnisse nicht ausgereicht hätten, um mit der zu erwartenden Anzahl von Gesetzesbrechern fertig zu werden152).

Caprivi versuchte immer noch, einen Kompromiß zu erreichen. Er wollte die Befugnisse der Verwaltung durch strengere Gesetze gegen Vereinigungen, Versammlungen und staatsfeindliche Presse stärken. Er war bereit, die bürgerlichen Freiheiten einzuschränken, aber nicht sie abzuschaffen.

Der Kaiser mußte sich zwischen Caprivi und Eulenburg entscheiden, als die Minister der Bundesstaaten nach Berlin berufen wurden, um die Umsturzvorlage zu beraten. Ihre Warnung vor zu scharfen Maßnahmen, die zum Bürgerkrieg führen könnten, kühlte Wilhelms Begeisterung für den Eulenburgplan merklich ab. Die Entlassung beider Gegenspieler, Caprivis und Eulenburgs, schien ihm nun der einzige Ausweg aus der unhaltbaren Lage, die er selber herbeigeführt hatte. Am 26. Oktober 1894 traten beide zurück. Damit war die utopische Phase der Herrschaft Wilhelms II. zu Ende, der Traum von der sozialen Monarchie, vom patriarchalischen Obrigkeitsstaat. Zum Nachfolger Caprivis und Eulenburgs berief der Kaiser den fünfundsiebzigjährigen Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Unter Hohenlohe – wenn auch nicht auf sein Betreiben – entwickelte sich die Politik der Unterdrückung im Inneren und der Abenteuer im Äußeren, die den wilhelminischen Imperialismus kennzeichnet. Die konservativ-reaktionären Kräfte in Preußen und die einstmals liberale Bourgeoisie fanden sich in dem Bestreben, die Arbeiterbewegung zu vernichten, das allgemeine Reichs-Wahlrecht abzuschaffen und mit der »sentimentalen Philanthropie« der Sozialreform Schluß zu machen. Der neue Kurs fand seine Verkörperung in dem Stahlindustriellen Stumm-Halberg, der zum intimen Kreis des Kaisers gehörte. Seine Rolle als Scharfmacher gegen die Arbeiterorganisationen trug der Kanzlerschaft Hohenlohes den Beinamen »die Ära Stumm« ein.

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