Malin - Vampir und Heilerin

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Z serii: Malin #1
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„Weißt du, Malin“, Marianna rührte in ihrem Tee. „Die Kinder von Karrieristen werden Punker und die Kinder von armen Leuten werden Banker. Die Kinder halten den Eltern ihre Leben wie einen Spiegel vor. Sie sind eine Reaktion auf die Erziehung, spiegelverkehrt. Eine Reaktion auf das Leben der Eltern. Auf deren Lebenslügen.“

„Kann schon sein“, antwortete Malin.

„Ich war Ideologin. Mein Leben lang. Die Seele des Menschen. Seine Erlösung. Ich bin hierher gekommen, ich habe Deutsch gelernt, gut. Ich bin eine Große in einer extrem linken Partei hier. Ich kenne weite Passagen vom „Kapital“ auswendig. Und was macht mein Sohn?“

„Das gleiche, nur anders?“

Marianna stand auf, sie winkte Malin, ihr zu folgen. Sie führte sie in den Keller. Dort stand eine lange Reihe von Kisten.

„Er macht Internet-Handel“, sprach sie und zog ein Armband hervor und nacheinander Beispiele. „Aus Abfall stanzt er Herzen. Aus Dosen. Aus Verpackungen. Aus Tetra-Paks. Und alle haben in der Mitte ein Loch. Um diese Herzen mit der Mitte verbunden“ sie zeigte eines, „macht eine Frau Wollfäden.“ Und dann zeigte sie ein fertiges Wollherz. „Und daraus wird ein Freundschaftsbändchen. Um die Hand. Um den Hals. Alle möglichen Farben. Der Slogan dieses Müllrecyclings ist: Herzen sind nichts zum Wegwerfen.“ Marianna setzte sich müde auf einen Stuhl „Wrukolas sind an machen Tagen große Romantiker, ganz große Gefühlsmenschen. Sandu hat immer gesagt, dass alles hilfreich ist, was im Leben passiert. Die schlechten Dinge, damit man daran wächst. Die guten Dinge, damit man sich freut. Ich hoffe, du wirst eines Tages lernen, was er dir angetan hat, als Geschenk AUCH zu begreifen.“

Malin lächelte ihr liebevollstes Lächeln. Sie kam auf Marianna zu und umarmte sie. Und dann schluchzte Marianna auf.

„Mein Sohn ist weg“, sie hatte Tränen in den Augen, als sie die Umarmung löste. „Ich habe meinen Sohn an etwas verloren, was als etwas Gutes geboren wurde und jetzt als böse angesehen wird. Daran glaube ich, ohne was darüber zu wissen. Die Tragik ist, das ist mit dem Kommunismus genauso. Malin, merke dir eines: das Leben ist Karneval. Die alten Dinger kehren verkleidet zurück.“

„Danke.“

„Es will mir wohl sagen, ich soll die alten Kamellen begraben“, sagte Marianna, dann bewegte sie ihren massigen Körper an ihr vorbei und stieß verzweifelt weinerlich aus: „Aber ich kann es immer noch nicht.“ Sie hielt inne, drehte sich zu Malin um, fasste sie bei den Schultern, ihre Stimme hatte plötzlich das Feste der altkommunistischen Überzeugung: „Beweise, dass Wrukolas was Gutes sind. Ich bitte dich!“

„Ich? Ich bin manchmal so labil wie eine leere Zwangspfand-Plastikflasche. Der leichteste Stoß wirft mich um. Ich habe doch noch nichts geschafft, von dem was ich wollte. Ich bin ausgeliefert. Wo sind meine Träume hin? Ich wollte doch ein Leben haben! Ich habe nicht genug geschafft, um darauf aufzubauen. Aber dennoch genug zu verlieren, um Verlustangst zu haben. Aber Scheiß auf die Verlustangst. Denn meine Angst, nicht ich zu sein ist die größte. Ich habe eine verrückte Gehirnzelle da im Kopf drin, die sagt: ich wollte mehr. Ich weiß nicht, was. Anders. Ich bin so nicht glücklich. Das ist alles einfach von Grund auf falsch verkehrt schief gelaufen! Und ich weiß nicht genau, was! Ich weiß nicht, an welchem Punkt ich was hätte anders machen sollen. Das bin nicht ich! Das ist nicht mein Leben!“ Und flehend: „Ich will hier raus. Ich will aussteigen. Ich bin am Ende! Hilfeee...“

„Ruhig. Ruuu-hieeg.“, sie sprach betont langsam. „Das sind wir alle. Der ständige Wechsel zwischen starken Phasen und dem Gefühl, nichts weiter zu sein als Laub im Wind. Das ist normal, das geht jedem so!“ Marianna umfasste Malins Oberarme, weit oben, an den Schultern. „Die Fahne hochzuhalten, das heißt, die Fahne weht im Wind. Aber sie bleibt oben. Gehe den Weg!“

„Wie? Welchen?“

„Es müsste ein Weg sein, der den Geist der Menschen befreit. Das Rezept des trojanischen Pferdes, wenn die Akzeptanz der Wrukolas mit was Gutem einhergeht“, Marianna deutete zum Fenster hinaus.

Natürlich hatte Marianna Malin zwei Adressen mitgegeben. Eine von einer Eva, die andere war von einem Paul. Eva war die Wolle-Aufrollerin. Paul arbeitete bei der Müllverwertung. Zuerst ging Malin zu Eva, sie meldete sich an, Eva war einverstanden, sie daheim zu besuchen. Und davor war der Anruf beim Kommissar, Malin log etwas, bislang noch keine Hinweise auf irgendwelche Russen.

Eva hatte langes glattes rötliches Haar. Sie hatte zwei Kinder, Damian, eineinhalb, Simone, sechs. Beide von verschiedenen Vätern, wo die Kinder sich gerade aufhielten. Sie wohnte etwas außerhalb, in Schniegling, sie hatte ein Haus geerbt. Die strahlende Frau war auf dem ersten Blick eine sehr sympathische Frau von 37 Jahren, sie führte Malin zu einem großen Raum. An der linken Wand schloss sich ein Tisch an, ihr Arbeitsplatz. Hier hatte sie eine Vorrichtung, um die Wollfäden schnell durch die Löcher der Herzen zu stechen und außen an den Rändern zu befestigen, wieder ins Loch und wieder nach außen. Hinter dem Tisch der Linkshänderin standen Kisten mit Wolle in allen möglichen Farben. Die Kisten zogen sich in einer langen Reihe bis ans andere Ende des langen Raumes. An der anderen Wand stand am Tisch ein PC, auf dem pro Bestellung die Anzahl angegeben wurde. Gleich im selben Programm war dann die Möglichkeit gegeben, die Adresse anzugeben, dann sogleich die Rechnung auszudrucken. Weiter hinten am Tisch die Verpackungs- und Versandutensilien und ganz am Ende der Reihe auf einem Postwagen die fertig gepackten Kisten bereit für den Abtransport zur Post, was offenbar durch die hintere Tür passierte.

Das PC-Programm interessierte Malin sehr, der Kommissar hatte ja die Russen und das Programmieren erwähnt. Und tatsächlich, nicht nur dieses Programm, auch die Website des ganzen Unternehmens stammten von einem Russen. Den Sandu während einer Feier im „Twenty-Eight“ kennen gelernt hatte.

„Das Twenty-Eight ist ein Club in Fürth“, klärte Eva sie auf. „Dort finden abwechselnd am Wochenende Russische und Rumänische Parties statt. Die kennen sich etwas.“

„Und du hast die Adresse von dem Programmierer nicht zufällig?“ fragte Malin.

„Die hat Paul. Er kann dir sagen, wen du da suchen sollst.“ Eva strahlte übers ganze Gesicht. „Paul ist nett. Halt manchmal komisch. Aber sehr nett. Du solltest mal sehen, wie lieb er mit den Kindern ist. Er ist halt neidisch auf den Erfolg von Sandu, aber ansonsten ok.“

„Danke. Ich gehe die nächsten Tage zu ihm.“

„Und wann kommt Sandu von seiner Reise zurück?“ fragte Eva. „Weißt du, Sandu ist sehr lieb zu den Kindern, er bringt immer neue Kinderwitze, obschon die beiden doch den mit den Rosinen am liebsten mögen. Kennst du den?“

„Weiß nicht.“

„Zwei Rosinen treffen sich. Fragt die eine: Warum hast du einen Helm auf? Antwort: Ich komme gerade aus dem Stollen.“

„Eva, wer hat dir von der Reise erzählt?“

„Seine Mutter“, nickte Eva eifrig. „Er fährt öfter weg, so alle zwei Wochen, es ist ein fester Turnus, ich habe ihn mal darauf aufmerksam gemacht. Er hat gelacht und mich gelobt für meine Logik. Ich kann manchmal schlau sein...“

„Wohin gingen diese Reisen? Hat er was davon erzählt?“

„Unterschiedliches Ziel. Wenig bis gar nichts. Er hat immer gesagt, es ist nicht so viel dabei. Es sei nur ein großes Fressen und sonst nicht viel dabei. Halt andere Unternehmensgründer und Internet-Verrückte sehen. Wenig Drogen. Keine anderen Frauen.“ Und als sie Letzteres sagte, lächelte sie lieb.

„Eva“, Malin konnte sich nicht helfen. „Er ist verschwunden. Seit drei Wochen fast.“

„WAAAAS?“

„Und ich will dich nicht verletzen. Aber es gibt andere Frauen. Da kenne ich ihn her...“

Da fiel der Eva die Kinnlade herunter. Dann aber funkelten deren Augen:

„Du machst hier auf Freundin. Dabei suchst du ihn. Weil du ihn lieeebst.“ Eva verschränkte die Arme, schüttelte den Kopf. „Und ich bin darauf hereingefallen. Du blöde Kuh. Verschwinde hier! Raus! Raus!“

Nur einen Tag später hatte Malin schon Angst, Paul könnte von Eva benachrichtigt worden sein. Und er würde deswegen abweisend sein. Ersteres stimmte. Zweiteres ganz und gar nicht.

„Ich danke dir. Aus ganzem Herzen“, empfing Paul Malin sehr herzlich.

„Für was?“

„Sandu ist weg. Plus, du hattest was mit ihm. Und Eva weiß das.“ Er strahlte über beide Backen. „Sie wird darüber hinwegkommen.“ Und dann ernsthaft, weil er Malins Gesichtsausdruck erkannte. „Ich liebe Eva.“

„Aber du kamst gegen Sandu nicht an, oder?“ fragte Malin ahnungsvoll. „Gegen den Chef.“

„Nein. Nicht gegen den Chef“, der Paul druckste nicht lange herum. „Gegen einen mit einem großen Penis.“

„Ach, das sehen Frauen nicht so...“ sagte Malin was Frau halt so sagt in solchen Fragen.

„Ich weiß. Aber ich habe nach einem Unfall ein Schrumpfexemplar. Deswegen habe ich früh gelernt zu lecken“, Paul schien nicht schüchtern zu sein. „Und ich mache es gerne.“ Seine Augen leuchteten. „Das Ding steht den meisten Männern eh nur im Wege. Sie glauben, es wäre wichtig. Dabei sollte DIE FRAU wichtig sein.“

„Völlig richtig!“ Malin war begeistert.

„Aber das konnte Sandu anscheinend auch besser. Manchmal zumindest.“ Er war wieder resigniert, schaute sie fragend an. „Oder?“

„Ich weiß nicht...“ antwortete Malin gedankenverloren. „Anders? Ja. Gut? Ja. Aber ob es nicht andere auch gibt, die auch so anders sind, auch so gut auf eine Frau eingehen können?“ Sie zuckte mit den Achseln.

„Er war ein Gefühlvoller“, sagte Paul sinnierend. „Er hat mich einmal auf eine Neumond-Party eingeladen zu sich. Angeblich habe da der Alkohol, ein spezieller aus Rumänien, eine andere Wirkung.“

 

„Was ist passiert?“ Malin war interessiert. Sie wusste, an Neumond konnte Sandu heilen. Sie wusste, er habe ihn heilen wollen.

„Nichts“, Paul schüttelte kurz und heftig den Kopf. „Er hat dann gesagt, er habe sich wohl geirrt. Und außerdem musste er schnell ins Krankenhaus. Mehr ist nicht passiert… Vielleicht liegt bei dieser Sache das Auge im Betrachter...“ er griente übers ganze Gesicht.

„Sicher“, gab Malin lächelnd zurück. „Kinderauge sieht die Wahrheit.“

„Und der Vogel fängt den Wurm“, lachte Paul.

„Alles Liebe mit Eva. Einfach auf mich schimpfen und das wird schon.“, lachte auch Malin. „Weil man sieht das Herz gut. Das Wesentliche ist unsichtbar.“

„Mit der Zeit. Es ist ja noch kein Meister in den Himmel gefahren.“

„Und ansonsten: andere Töchter haben auch schöne Mütter.“

„Hohecker, du bist raus. Das stimmt so nämlich ganz genau...“

Paul hat Malin die Namen der zwei russischen Programmierer gegeben. Sie würde am nächsten Wochenende ins Twenty-eight fahren und sie suchen. Davor war aber das Gespräch mit dem Kommissar, wo sie Neueres erfahren wollte, sie wollte es unbedingt wissen, sie fuhr gleich im Anschluss zum Kommissar nach Hause, nachts um halb elf.

„Ich will mehr über das Heilen wissen!“ stieß sie atemlos vor seiner Haustür aus. Sie nahm ihren Schal vom Hals.

„Ausnahmsweise“, der Kommissar öffnete die Tür. „Komm rein.“

Sie folgte ihm ins Wohnzimmer. Er setzte sich. Atmete durch. Dann bat er sie, ihm das auslösende Element zu erzählen. Warum sie es wissen wolle. War etwas mit den Russen?

„Nein Malin“, der Kommissar kratzte am Ende der Erzählung seinen Hals. „Ihr könnt keine Verstümmelungen heilen. Es wächst nichts. Ihr seid nicht so mächtig. Und weil wir gleich bei dem Thema sind: Und auch keinen Neger weiß machen. Weil schwarz sein keine Krankheit ist. Alles, was keine Krankheit ist, kannst du nicht ändern. Weil nicht alles, worin sich die Medizin einmischt, ist eine Krankheit. Du kannst keine kleinen Titten groß machen. Keinen Überbiss gerade machen. Keine Pickel einfach so verschwinden lassen. Und es gibt auch psychische Anomalien, Sachen der Seele, die kannst du nicht einfach so wegmachen lassen. Du berührst keinen Selbstmörder und er tanzt Polka. Keinen Alkoholsüchtigen, der nicht mehr trinkt. Sie werden nur „alkoholkrank“ GENANNT. In Wirklichkeit ist das Gewöhnung. Wenn er sich aber besoffen ein Bein bricht oder seine Leber ist im Arsch. Das ginge schon. Aber sie wird nicht neu, die Leber. Es ist eine Energie, die sich in dir aufstaut und raus will. Deswegen wollte Sandu bei dem Mülltypen ins Krankenhaus. Es war dringend, nachdem er festgestellt hatte, dass keine Energie von ihm wegkommt. Er konnte dem Paul nicht helfen.“

„Wirklich?“

„Wrukolas können Krankheiten riechen bis zu einem gewissen Punkt. So wie Hunde Tumore riechen können. Warte einfach Neumond ab, ich will nicht als Blinder von Farbe reden. Es ist in gewisser Weise nicht so übel wie die Beißnummer, die Zähne wachsen nicht urplötzlich und man hat kein Blackout danach. Es ist anders.“

Klare Sache, dachte Malin und hatte genug gehört. Er meint den Sexdrang, den Sandu offenbar gehabt hatte. Für diese Nummer gab es aber eine Lösung.

„Eine Minute“, sagte der Kommissar und ging kurz aufs Klo.

Malin sah sich um, sie entdeckte ein kleines schwarzes technisches Gerät, das in diesem Moment aufpiepte. Sie sah hin und las die Nachricht: „Bin stolz auf deinen Plan für M“. Malin erschrak, sie hörte aber gleichzeitig das Wasser auf der Toilette rauschen. Blitzschnell eilte sie zur Tür, zog sich derweil den Schal wieder um den Hals. Als der Kommissar vom Klo zurückkam, stand sie angezogen vor der Haustür. „Genug gehört“, sagte sie ihm und ging zur Tür hinaus.

Als der Kommissar später den Pager fand mit der Nachricht fand, war er kurz nachdenklich. Hatte Malin vielleicht die Nachricht gelesen? Nein, so gerissen war die nicht, es so zu überspielen. Die hätte ihn sehr wahrscheinlich zur Rede gestellt. Und er hätte ihr einfach gesagt, es war ganz normale Polizeiarbeit und M einfach ein „Mitarbeiter“ oder einfach nur so ein Platzhalter. So weit, so gut – so falsch?

Malin fuhr nach Hause, sie wollte ihren Plan nicht mit dem Kommissar teilen, aber sie hatte vor, sich jemanden zu suchen, für die Liebesgeschichte an Neumond. Es sollte jemand sein, der bereit wäre, sie an jenem Abend zu den Russen zu begleiten. Ganz klar: Internet-Partnerbörsen.

Malin wohnte im Erdgeschoss eines Hauses, das mit tief hinab gezogenem Dach wirkte wie ein Gesicht mit weit heruntergezogener rotbraunen Arbeitermütze; sie hatte die Angewohnheit, noch bei offenem Fenster zu lernen. In der Nacht war der Vorort ruhig, einzig das unvermutete Hineinschauen Fremder war ab und an lästig. Einige wollten Zigaretten schnorren, unverschämte gar Geld, sexuelle Angebote hat es auch gegeben – meist jedoch am Wochenende. Jetzt musste sie nachdenken, sie erschrak lautstark, als plötzlich ein breit grinsendes Männergesicht vor ihrem Fenster auftauchte.

„Hallo Kleines“, zischte der Fremde.

Malin richtete sich vom Stuhl auf und wollte das Fenster schließen. Doch der Mann sprang hoch auf die Fensterbank, Malin warf sofort das Fenster zu, doch der Schwung des Mannes war groß, er warf sich gegen das Fenster, das laut kreischend ganz aufging und dabei die Stehlampe drinnen umwarf. Malin hörte das Bersten der LED-Lampe, sie wich zurück, denn der Mann sprang ins Zimmer. Malin drehte sich um und wollte in die Küche rennen, zu einem Messer. Der Mann hinter ihr lachte ein sehr höhnisches Lachen.

„Ich bin auch ein Wrukola“, kündigte er drohend an, sie wusste jedoch nicht, was es bedeutete. Sie zog die Schublade klirrend auf, griff nach einem großen Messer und drehte sich um, hielt es hoch. Doch der Mann hob die rechte Hand, haarige Unterarme, er ballte die Faust als würde er etwas greifen und zog sie zu seinem Kinn.

Malin wusste nicht, wie ihr geschah, da kriegte sie keine Luft mehr. Sie erstarrte im Schrecken, sie ließ das Messer fallen, griff sich mit beiden Händen an den Hals. Nun ballte der Mann die linke Hand und stieß sie in die Luft nach vorne. Malin erhielt einen kräftigen Schlag – durch die Luft – gegen den Bauch, krümmte sich – immer noch keine Luft kriegend – und fiel vornüber auf den Boden. Unten wehrlos liegend schnappte sie immer noch nach Luft und verabschiedete sich schon innerlich vom Leben, hob den Kopf und starrte den Mann an, der seine rechte Hand wieder öffnete. Malin kriegte wieder Luft und keuchte und sog den Lebensodem tief ein. Immer wieder.

„Du weißt offenbar noch nichts von deinen Fähigkeiten“, sagte der Mann, dessen Augen milder wurden.

Da hatte Malin eine Eingebung, sie rollte sich auf den Bauch und hob seitlich die rechte Hand. Sie wischte damit schnell oberhalb vom Boden durch die Luft. Und wie durch Zauberhand wurde der Mann durch Luft von den Beinen gefegt. Ruckartig sprang sie nach hinten auf die Beine und machte es ihm nach, sie schoss die Hand vor, ballte sie, zog sie an sich. Und nun kriegte der andere keine Luft mehr. Der das Gleiche machte.

Beide zogen dem anderen durch die Luft den Atem weg, beide röchelten, ohne Luft zu kriegen. Da sprang der Mann zur Seite zum Fenster, und rollte sich durch das Loch hinaus. Draußen, durch die Wand, funktionierte der Zauber offenbar nicht, sie hörte ihn spürbar am Boden röcheln. Und auch andersrum war Freiheit, Malin keuchte auch wieder. Dann hörte sie Schritte, der Mann lief offenbar weg.

Sie stürzte unverzüglich zum Fenster, schloss es, ließ die Rollos herunter – überall in der ganzen Wohnung. Anschließend setzte sie sich und wusste nun, sie kann ersticken.

Als sie wieder Fassung gewonnen hatte, googelte sie das Gerät vom Kommissar, es war ein Funk-Pager, ein TETRA-Meldeempfänger, wie ihn die Polizei und die Rettungskräfte in Bayern benutzten. Damit konnte man einer gewisse Gruppe eine gemeinsame Nachricht zukommen lassen.

Die Internet-Partnerbörsen waren nichts. Sie erkannte wieder, warum sie es fallen gelassen hatte. Fünf Stunden später und etliche gelesene „willst du meinen großen Schwanz...“-Nachrichten später (Internet-Partnerbörsen als Frau ist so) war sie mental erledigt. Ja. Es war schon früher so gewesen. Das war ertragbar. Aber es war jetzt eine neue Sorte Kommentare dabei. Und zwar die „ehrlichen“ Kommentare, dass sie mit 29 schon zu alt war fürs Heiraten und Kinderkriegen, oder „mit 29 bist du eine alte Jungfer, wieso hast du nicht bislang schon den Traummann an dich binden können – mit dir ist SICHER was nicht in Ordnung“. Wahlweise auch „Du bist super. Ich stehe auf Milfs!“ (MILF = englisch für „mothers/matures I like to fuck“ - Begriff aus dem Partnersuchmilieu, Begriff kommt von Pornos her). Ja, was war denn hier los – mit den Männern? Sie prüfte ihr Äußeres im Spiegel, sie war nicht viel anders als früher. Aber das Signal „29“ war da. Musste sie mit 29 schon die 60jährigen nehmen? Waren die Männer wirklich so?

Ich sauge Blut, war ihr hämmernder Gedanke. Und alle anderen reagieren nur auf Signale, Signalwörter, 29? Häh? Egal, sie sehen das Ganze nicht. Klar hat man mit 29 schon seine Jungfräulichkeit verloren. Nichts wird verziehen. Oder was ist hier los?! Die ganze Welt war wahnsinnig geworden. Viel zu viel für eine Frau. Zu viel für jeden 29-Jährigen. Mehr noch, viel zu viel für JEDEN. Und sie weinte, weil sie hatte auf einmal die Ahnung, das bleibt so in den 30ern, den 40ern, für den Rest des Lebens. Sie war dagegen machtlos, wehrlos. Und ihr Gehirn suchte eifrig nach einem Ausweg, aber jedes Mal, wenn sie in einer anderen Ecke der Hirnwindungen wieder erfolglos war, drückte eine neue Welle der Verzweiflung neue Tränen heraus. Andere fangen an dieser Stelle das Kämpfen an. Erst hier. Was reichlich spät sein kann. Aber andere saugen kein Blut aus anderen. Andere fangen genau an dieser Stelle das Blutsaugen erst an. Malin nicht. Malin war verzweifelt. Malin beschloss da ihren Selbstmord.

Daheim hatte sich die Wut gelegt. Die nach Innen gerichtete Wut. Vielleicht hatte Marianna recht, dachte Malin. Damit, dass alles im Leben hilfreich ist. Aber dazu gehört die Ausgewogenheit. Die Resilienz ist ein Begriff, den die Psychologie aus der Physik übernommen hat. Die Fähigkeit eines Menschen, wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren nach einem Stoß. Eine hohe Resilienz ist ähnlich einer hohen Frustrationstoleranz, dann ist eine niedrige Resilienz dann gegeben, wenn jemand über den Tod eines Menschen nicht hinwegkommt.

Als Werwolf-Vampir, als Wrukola jemanden zu beißen, ist ein Stich geradewegs ins Herz - alle 28 Tage. Ich sage es mal als Erzähler: Wenn die Lohnzahlung einmal im Monat reicht, um weiter einen blöden Job zu machen, was es oft tut. Dann reicht ein Blutsaugen einmal im Monat für den Selbstmordgedanken allemal. In der Phantasie ist ein Vampir oder Werwolf eine liebevolle Spinnerei. Es gibt genug Menschen, die sich vorstellen können, als Vampir jemanden zu beißen – die selbst beim Nägelschneiden extrem empfindlich sind. Aber es real umzusetzen ist etwas völlig anderes. Jemanden beißen bis aufs Blut. Die rote Flüssigkeit dann aufsaugen...

Es wäre vielleicht begreifbarer, wenn wir so essen würden, wir beißen lebendig zappelnden Tieren z. B. den Kopf ab. Macht man in einigen Gegenden der Erde. Aber wir tun das aus gutem Grund nicht. Nichtmal selbsternannte Kannibalen beißen einfach so den anderen. Es ist eine innere Hemmung.

Natürlich hatte die Polizei den Computer von Sandu mitgenommen. Aber Malin konnte Sandus Unterlagen durchsuchen mit Hilfe der Information, dass es da Parties gegeben hat, „mit Essen“, sie fand einen Flyer. Und vermutete da gleich viel mehr. Der Name des Veranstalters war da mit drauf, ein Roman Maurer. Und als sie dessen Namen googelte, war er der Vorsitzende des Vereins „Affen für Menschen“. Es war das, was sie gesucht hatte, sie würden dort wahrscheinlich Affenblut trinken. Menschen zu töten, um das Blut zu trinken, das würde viel Polizeiarbeit nach sich ziehen. Damit kommt man nicht lange durch. Aber Affen schon eher. Affen für Menschen = AFM, war ein Verein, der auch für Manager und andere gegen Geld Treffen mit Affen organisierte. Weil, laut Website „Affen sind menschenähnlich intelligent – aber ungleich verspielter“. Sie würden einfach spielen wollen und den Managern eine andere Sichtweise auf das Leben und die Lebensfreude liefern. Und, was wichtig war: „es sind ausgesuchte lebensfrohe Affen.“ Das AUSGESUCHTE war es. Das Signalwort, wenn man weiß, was man zu suchen hat. - Das heißt, die depressiven Affen würden dann verfüttert.

 

Sie schrieb dem R. Maurer, sie sei eine Freundin von Sandu und sie würde gerne auch auf so eine Party gehen. Er fragte per Mail noch am gleichen Tag, wie eng sie mit Sandu befreundet war. Antwort: „Sehr enge Freunde. Bis aufs Blut. Wir hatten die gleichen Interessen. Essen. Veranstaltungen am Vollmond. Mit energetischem Wasser, das nur an Vollmond der Quelle entnommen wird. Und anderer Spezialnahrung, die an Vollmond besser wirkt.“ (Anmerkung des Schreibers: Das mit dem Vollmondwasser gibt es wirklich, es wird in Bioläden verkauft...)

Und, am Donnerstag, siehe da: für die nächste Party hatte sie eine Einladung. Es ging in ein Lagerhaus bei Ingolstadt. Am 9.9 9ter September, ein Samstag um genau 0 Uhr. Es ist der internationale Tag der Ersten Hilfe, wurde sie aufgeklärt. Sie verstand es damals noch nicht ganz, sie sah es als den Tag der Blutspendens. (Und als Autor sage ich, es ist der zweite Septembersamstag - der Tag der deutschen Sprache.) Ein Kostümfest „mit speziellen Getränken.“ Roman schrieb ihr noch, es ging am Mitternacht los, am Ende des 8. September los, dem Welt-Tollwuttag.

Nein, sie würde Kommissar Toni Fuchs nichts davon sagen. Es ging hier nicht um Gefängnis, es ging um ihr Leben! Wenn er es erfahren würde, würde er sicher wütend werden. Eine solche Party auszuheben wäre DER Karriere-Sprung. Aber dieses Risiko würde sie eingehen! Sie musste vorsichtig sein...

Für den Abend des Donnerstags hat sie Bettina zu sich zum Kaffee eingeladen und hat ihr alles erzählt, von Sandu, dem Kommissar, vom Vampirdasein.

„Ich stand da vor der Kirche und mir wurde klar, so will ich nicht leben“, schloss Malin trocken. „Manche würden sagen, ich wurde durch die Story erwachsen. Ich sage, ich wurde zum Blutsauger. Und ich werde das nicht zulassen! Verkaufe die Tränen und Träume deiner Jugend nicht als Anekdoten, heißt es. Und ich habe es gemacht. Egal. Erheitere Partygesellschaften nicht mit deinem Versagen als disziplinierter und kultivierter Mensch, heißt es. Und ich habe es gemacht. Egal. Aber ich werde es auf gar keinen Fall zulassen. Dass ich jeden Monat den Arsch spiele und beiße. Fürs Heilen? Für NIEMANDEN! Selbstmord.“

„Das ist nicht so einfach“, gab Bettina, erschrocken, zu bedenken. „Ich kenne wen, der stand auf dem Gleis als der Zug kam. Und ihm wurde klar, er wollte noch nicht sterben. Und ist ganz knapp vor dem Zug wieder runter.“

„Ich weiß. Sicher.“, Malin lächelte. „Wie die Raucher, die sagen, soll mich der Lungenkrebs holen. Und wenn die Diagnose da ist, sofort einlenken.“ Sie lachte.

„Mir ist ein Witz über die Wrukolas eingefallen“, Bettina lächelte erwartungsvoll.

„Schieß los“, Malin war dankbar. „Ich kann jede Aufheiterung gebrauchen...“

„Bewirbt sich ein Wrukola bei der Blutbank. Sagt der Personaler: Geht nicht. Sie trinken unsere Ware weg. Nein nein, erwidert der Wrukola. Ich will mich gesund ernähren – nur frische Lebensmittel...“

„Jaja“, lachte Malin. „Von einer Personalerin, die ihr ganzes Geld für Bio-Lebensmittel ausgibt.“

„Ok, ein anderer: Wrukola beim Zahnarzt, Zahnarzt bohrt rum, dann sagt er ihm: Und für die Zukunft merken Sie sich: Erst Halskette beiseite schieben – dann erst beißen!“

„Frauenwitz!“ Malin kicherte. „Warum mögen Wrukolas keine Freitag-Taschen? Sie kommen mit den Zähnen nicht durch den Schultergurt.“

„Ruft ein Wrukola beim Pizzaservice an: Ohne alles, sagt er. Einfach nur den Fahrer.“

„Woran erkennt man einen rücksichtsvollen Wrukola? Er hat Pflaster dabei.“ Malin lächelte. „Ich habe mal einen Trinker gesehen, der hatte ein T-Shirt: ‚Legenden sterben nicht im Bett.‘ Der wird genauso um sein Leben betteln, wenn er noch betteln kann. Und wenn ein guter Fick kommt, der einem die Essenz des Lebens wieder in sämtliche Haarspitzen pumpt mit jedem perfekt ausgeführten Stoß, dann ist das so. Kann so bleiben. Ist gut so. Aber ich weiß das und werde den Schrei nach Lebenselixier umgehen.“

„Wie?“ Bettina war immer noch geschockt. „Selbst das Springen vom Hochhaus braucht einen Schritt.“

„Ich habe mir Vampir- und Werwolffilme angesehen“, Malin deutete auf den Fernseher. „Die ganze Nacht. Alle Vampire atmen. Ich werde mich ersticken.“

„Dummes Kind“, stieß Bettina hervor. „Das sind Schauspieler. Sie können es kaum nicht tun.“

„Bram Stoker hat das erste Buch geschrieben über Vampire. Ein BUCH geschrieben, kein Drehbuch. Damals gab es keine Filme, der war ganz sicher nicht auf die Verfilmung scharf. Er hätte das Atmen weglassen können. Aber auch Vampire können REDEN. Aber nach Adam Riese ist kein Sprechen möglich ohne Atmen.“

„Hm. Wie?“

„Ich lerne tauchen. Du sagst die ganze Zeit, man muss alle 10 Meter beim Auftauchen halten, sonst explodiert die Lunge. Ich gehe in der Nacht zum Vollmond tauchen. Ich verwandle mich unten im Wasser. Ich weiß das mit den 10 Metern nicht mehr. Die Verwandlung. Die Lunge explodiert. In zwei Monaten.“

„Du bist entschlossen?“

„Ich habe mich heute in einem Tauchkurs eingeschrieben“, Malin nickte ernst. „Davor tue ich mein Bestes, um die Nummer mit den Russen aufzuklären. Den Grund für all das herausfinden. Bis dahin werde ich noch jemanden beißen. Und dann habe ich genug Hass auf mich. Wegen dem Kommissar. Wegen der Welt, wie sie ist. Der Hass muss nur für den Tauchgang zur rechten Zeit reichen. Und ich wollte schon immer die Rolle rückwärts machen, im Wasser kein Problem. Rest erledigt sich von selbst. Ich werde nicht in die Hände dieses LE Kommissars fallen...“ Sie hatte Bettina nichts über den Pager und die Nachricht beim Kommissar gesagt, es war auch so deutlich.