Hinter der Maske - Die Autobiografie

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Ich vertraute mich niemandem an. Ich existierte weiterhin in meiner eigenen kleinen Welt. Jedoch trieb mich nun mein Verlangen nach Sex an. Es war egal, wo oder mit wem. Ich erinnere mich noch, dass ich mich selbst auf die Party eines Nachbarn einlud. Ich tauchte einfach auf. Eines der Schlafzimmer wurde dazu benutzt, die Mäntel der Gäste aufzubewahren. Sie lagen einfach alle auf dem Bett. Ich landete schließlich mit einer Frau in diesem Zimmer und trieb es mit ihr auf all den Mänteln. Ein paar Leute kamen rein, als wir gerade voll zur Sache gingen, und waren total schockiert. Mir war das aber egal. Ich hatte kein Gespür für unpassendes Verhalten. Vor nicht allzu langer Zeit war ich noch mit meiner Musik alleine gewesen, doch nun hatte ich Sex. Sex! Die Bestie in mir war erwacht.

Ein anderes Mal übernachtete eine Freundin meiner Schwester bei uns und ich versuchte, zu ihr unter die Decke zu kriechen. Sie stieß mich aber aus dem Bett. Am nächsten Tag erzählte meine Schwester unserer Mom von dieser Episode. Ich fand das zum Niederknien. Eigentlich empfand ich den Umstand, dass meine Eltern mein Benehmen so entsetzlich fanden, als eine Art Draufgabe: Es machte die ganze Sache noch besser für mich.

Auch die Musik nahm ich nun anders wahr. Als ich im August 1969 im Corona Park in Queens Led Zeppelin live vor weniger als 2000 Menschen spielen sah, war die Sexualität dieses Events nahezu greifbar. Die Show fand im New York State Pavilion statt, der für die Weltausstellung 1964 erbaut worden war – eine eigenartige, halb offene Location, deren Boden ein Mosaik in Form des Staates New York zierte. Darüber war ein buntes Dach aus Plexiglas und nicht weit entfernt befanden sich zwei an Fliegende Untertassen erinnernde Gebilde, die auf Säulen angebracht waren. Der Sound von Jimmy Page hatte denselben Effekt auf mich wie Beethoven, als ich noch ein kleiner Junge war. Er war nicht nur ein herausragender Gitarrist, nein, er war ein Visionär, der musikalische Versatzstücke komponierte und sie in klanglicher Perfektion miteinander kombinierte. Led Zeppelin nahmen sich einen Musikstil – auf Blues basierenden Rock – und machten daraus etwas Neues, ihr komplett eigenes Ding.

Robert Plant heulte wie eine Todesfee – ich wusste gar nicht, dass irgendjemand so singen konnte. Ich hatte Terry Reid und Steve Marriott gesehen, die im Prinzip das Fundament für jemanden wie Robert Plant gelegt hatten, aber Plant war noch besser, eindrucksvoller, magnetischer und vollkommener. Er kreierte einen Stil, der zuvor nicht existiert hatte. Abgesehen von all seinen Qualitäten als Sänger war er doch viel mehr als bloß ein Sänger. Robert Plant war die Verkörperung eines Rockgottes. Niemand sah so aus wie er, und er war im Begriff, einen Archetyp zu erschaffen. Ich weiß noch, dass, als ich das nächste Mal The Who sah, Roger Daltrey seine aufgebauschten Haare hatte wachsen lassen und nun eine lange, lockige Mähne trug.

Aha, jetzt macht er auch einen auf Robert Plant, dachte ich mir. Jeder wollte so singen und so aussehen wie Robert.

Alles auf dieser Bühne war aufregend. Es kam in meinem Leben einer religiösen Erfahrung am nächsten. Ich war mit David Un, den ich immer noch ab und zu traf, bei dieser Show. Nachher sagte ich zu ihm: „Lass uns nicht einmal versuchen, darüber zu sprechen. Lass uns einfach nur ruhig sein; nichts, was wir sagen würden, könnte dieser Erfahrung gerecht werden.“

Ich werde nie wieder Zeuge von so etwas Vollkommenem werden.

Musik bedeutete immer noch Glückseligkeit für mich und war die ultimative Lösung meiner tief sitzenden Unsicherheiten. Ich sehnte mich nach der Bestätigung, die ich fühlte, wenn ich vor Publikum auftrat. Obwohl wir mit Post War Baby Boom nie auch nur einen Penny eingenommen hatten, so hatten wir doch ein paar Gigs in Locations wie dem Beehive gespielt. Mir gefiel auch das Vorspielen bei den Musikverlagen. Also fing ich wieder an, mit Matt Rael, dessen Bruder mit mir zusammen bei Post War Baby Boom gewesen war, zu spielen. Nachdem wir ja schon ein paar Jahre zuvor viel miteinander gejammt hatten, drehten wir nun erneut unsere Fender-Verstärker auf, um zu experimentieren. Manchmal begleitete uns auch Neal Teeman an den Drums. Oft drehten wir alle Regler an unseren beiden Amps bis zum Anschlag auf und erzeugten so eine unüberwindbare Wand aus Lärm.

Es gelang uns, ein paar Auftritte in einer Hippie-Bude in Brooklyn namens The Bank zu ergattern. Das Gemäuer war so etwas wie das Hauptquartier einer Kommune, das sich über mehrere Stockwerke eines verlassenen alten Bankgebäudes erstreckte. Eine ganze Etage war mit Heu ausgelegt; Kinder konnten dort auf Eseln reiten. Wir spielte aber in einem anderen Stockwerk. Wir zogen eine krachige Mauer vor uns hoch, indem wir unsere Gitarren fies aufheulen ließen. Matt drehte sich während unserer Konzerte sogar meistens weg vom Publikum.

Es machte Spaß, wieder aufzutreten, doch war das nicht die Art von Band, in der ich meine Zukunft sah. Gedanken an eben diese Zukunft nagten an mir, als die Highschool sich dem Ende zuneigte. Ich driftete durch mein Abschlussjahr und grübelte über meine nächsten Schritte nach. Der Druck, den ich zu spüren begann, war nicht rein finanzieller Natur. Was mir Sorgen bereitete, war, dass andere bereits begonnen hatten, sich ein Fundament für ihre zukünftige Absicherung zu legen. Sie schmiedeten Pläne, aufs College zu gehen oder Berufe zu erlernen. Ich tat das nicht.

So sehr ich an mich glaubte – es gab es keinerlei Garantie, dass ich meinen Weg in der Musikbranche machen würde. Die Kids in meiner Nachbarschaft stiegen in die Fußstapfen ihrer Eltern und wurden Ärzte oder Anwälte. Inzwischen reichten meine Haare über meine Schultern und ich sah aus wie ein angehender Rockgott. Meine Chancen standen trotzdem nicht unbedingt gut. Ich verbrachte zahllose Nächte damit, wach zu liegen und nachzudenken. Was zum Teufel tue ich bloß? Egal, wie sicher man sich seiner selbst ist, irgendwann werden einen dunkle Augenblicke heimsuchen, in denen man zu zweifeln beginnt, und man stellt seinen Glauben an sich selbst infrage. Ich hatte einen Plan. Mehr oder weniger. Es war eigentlich mehr ein Ziel als ein Plan. Ich hatte etwas, auf das ich hinarbeitete, etwas, auf das ich zu setzen wagte. Allerdings gab es auf diesem Weg keine Etappenziele, die man zwischenzeitlich hätte abhaken können. Es war nicht so, als würde man darauf hinarbeiten, Optiker zu werden.

Was ist, wenn ich es nicht schaffen sollte?

Die Ängste suchten mich nächtens heim. Schließlich legte ich mir ein Szenario als letzten Ausweg zurecht. Ich würde bei der Telefongesellschaft anfangen. Das war ein gut bezahlter Job mit gewerkschaftlicher Anbindung und einer erstrebenswerten Vergütung. Und wenn ich eine Stelle als Telefonmonteur – ein Job, der damals gefragt war – finden würde, könnte ich in Ruhe und allein arbeiten. Da wären keine Mitarbeiter oder Vorgesetzten um mich rum. Das würde ich hinbekommen. Ich würde durch die Gegend fahren und Telefone installieren. Alleine.


Matt und ich begannen, uns während unserer Proben in die Haare zu kriegen. Ich fand, dass wir mehr herumalberten als wirklich ernsthaft kreativ bei der Sache zu sein und uns weiterzuentwickeln. Außerdem war ich der Meinung, dass er sich zum Publikum drehen sollte, wenn wir einen Gig spielten. Das Fass lief schließlich über, als Neal und ich ihn baten, seinen Amp während unserer Proben auf eine erträgliche Lautstärke runterzudrehen.

„Dreh dich leiser!“, schrien wir ihn an.

„Nein!“, schrie er zurück und spielte weiterhin so laut, wie es nur irgendwie möglich war, bis Neal und ich schließlich alles hinschmissen. Wir stiegen aus und die Gruppe war Geschichte. Matt und ich blieben aber Freunde und begannen sogar, gemeinsam als Taxifahrer zu jobben. Ich denke, dass es in vielerlei Hinsicht eine Erleichterung für ihn war, nicht mehr mit uns in einer Band zu spielen.

Natürlich wollte ich weiterhin Musik machen, und da mich die Musikverlage als Solokünstler abgelehnt hatten, machte ich mich auf die Suche nach neuen potenziellen Bandmitgliedern. Neal, der mittlerweile auf Teilzeitbasis in einem Aufnahmestudio arbeitete, erfuhr über einen seiner Freunde von einem Typen namens Steve Coronel, der Leadgitarre spielte. Also riefen wir Steve an, taten uns mit ihm zusammen und arbeiteten an ein paar Coverversionen, spielten die eine oder andere Eigenkomposition und begannen uns im näheren Umfeld nach Gigs umzusehen.

Die Band mit Matt hatte nie einen Bassisten gehabt, aber Steve wollte jetzt einen dabei haben. „Ich kenne da einen Typen“, sagte er.

Der Name des Typen war Gene Klein. Er und Steve hatten als Teenager gemeinsam in einer Band namens Long Island Sounds gespielt. Gene lebte nun irgendwo außerhalb der Stadt. Er war anscheinend ein paar Jahre älter als ich und hatte bereits das College hinter sich. Mir war egal, ob er nun in Sullivan County oder auf Staten Island wohnte. Solange eine Möglichkeit bestünde, so etwas wie eine echte Band auf die Beine zu stellen, war ich für alles zu haben.

Eines Abends fuhr ich zu Steves Wohnung in Washington Heights, was ganz in der Nähe der Gegend lag, in der ich als kleiner Junge gelebt hatte. Steves Zimmer war schwarz gestrichen. Dort wartete bereits ein großer, korpulenter Typ.

„Stan“, sagte Steve, „das hier ist Gene Klein.“

Gene hatte lange Haare und einen Bart unter seinem Doppelkinn. Er war stark übergewichtig. Ich war ja selber ziemlich feist zu dieser Zeit, aber dieser Kerl war ein Bulle von einem Mann. Er trug einen Overall und Sandalen. Er sah aus, als wäre er gerade in der damals neuen Country-Fernsehshow Hee Haw aufgetreten.

 

Gene ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er dachte, er würde musikalisch mindestens eine Stufe über uns stehen. Er spielte uns ein paar seiner Lieder vor, die irgendwie bescheuert waren. Dann forderte er mich auf, seinen strengen Ohren einen meiner Songs vorzuspielen. Also spielte ich „Sunday Driver“, ein Stück, das ich später in „Let Me Know“ umbenannte. Es war ein Moment der Offenbarung für ihn – er schien total überrascht zu sein, dass außer John Lennon, Paul McCartney und Gene Klein noch andere Menschen einen Song schreiben konnten. Er war merklich mitgenommen. Er murmelte vor sich hin: „Hmmm.“

Mich nervte, dass er sich ein Urteil über mich anzumaßen schien – als ob mir seine Zustimmung irgendetwas bedeutet hätte. Vor allem, da mich seine musikalischen Ergüsse auch nicht gerade vom Hocker rissen. Die Vorstellung, dass er mich von seiner hohen Warte aus beurteilte, ließ ihn arrogant, herablassend und skurril auf mich wirken. Es war offensichtlich, dass er sich für etwas Besseres hielt. Das gefiel mir gar nicht. Gene hatte freilich keine Ahnung von der Sache mit meinem Ohr, das von Haaren verdeckt war, aber ich war darauf programmiert, niemandem Sympathie entgegenzubringen, der sich ein Urteil über mich anmaßte. Für mich war das einfach etwas, das man sich verkneifen sollte – jedenfalls war ich nicht heiß darauf, mit dem Kerl zusammenzuarbeiten.

An einem anderen Abend spielten ein Bassist namens Marty Cohen, Steve und ich einen Gratis-Gig in einem Café an der Ecke Broadway und 111th Street namens Forlini’s Third Phase. Der Raum war mit Styropor ausgekleidet und wir durften richtig laut sein. Wir spielten ein paar eigene Sachen und Covers, darunter „Mississippi Queen“ von Mountain, und das Publikum hatte seinen Spaß mit uns. Gene war auch da, weil sich Steve einen Teil seiner Ausrüstung von ihm geborgt hatte. Er war sichtlich beeindruckt.

Irgendwann später meldete ich mich auf eine Anzeige in der alternativen Wochenzeitschrift The Village Voice, in der ein Gitarrist gesucht wurde. Als ich die Nummer anrief, fand ich heraus, dass der Typ, der die Anzeige aufgegeben hatte, Brooke Ostrander hieß, seine Band, in der er Keyboard spielte, aber auf der Suche nach einem Leadgitarristen war – und nicht nach einem Rhythmustypen wie mir. Keine große Sache.

Kurze Zeit später aber rief mich Gene an und erkundigte sich, ob ich nach New Jersey rüberkommen würde, um mit ihm an einem Demo seiner Gruppe zu arbeiten. Er sagte, er würde mich für einen Tag, eventuell auch zwei, brauchen. Ich willigte ein. Seltsamerweise handelte es sich bei der Gruppe um dieselbe Band, für die Brooke Ostrander einen Leadgitarristen gesucht hatte. Außerdem würden wir bei ihm zu Hause arbeiten. Brooke arbeitete damals bereits als Musiklehrer an einer Schule und Gene prahlte wegen seines Bürojobs, der ihm fünf Mäuse in der Stunde einbrachte, was damals viel Geld war. Sie hatten ein Aufnahmegerät für zu Hause. Es war zwar nicht so ausgefeilt wie das, was man in einem richtigen Studio vorfand, aber das hielt uns nicht davon ab, den ganzen Tag zu arbeiten. Als sich unsere Session schließlich dem Ende zuneigte, rauchten Brooke und ich etwas Gras aus einer Bong in der Form eines Fisches. Ich stand absolut neben mir. Wir hörten Pink Floyd und Jethro Tull, bis mir plötzlich dämmerte, dass ich gar nicht wusste, wo ich übernachten sollte.

„Komm mit in mein Schlafzimmer“, sagte Brooke.

Oh-oh.

Ich machte ein paar sehr unsichere Schritte, die sich sehr in die Länge zogen. Ich war mir nicht sicher, was ich tun sollte. Als er aber die Tür zu seinem Zimmer öffnete, standen da zum Glück zwei Betten. Gepriesen sei der Herr!

Als ich so mit Gene zusammenarbeitete, bemerkte ich, dass wir beide ein paar Dinge gemeinsam hatten. Seine Familie hatte den Holocaust überlebt. Er war clever und ernst. Obwohl er und Brooke in New Jersey arbeiteten, lebte Gene nur ungefähr 15 Minuten von mir entfernt in Queens. Es stellte sich heraus, dass er während seiner Zeit am College in einer Band in Upstate New York gespielt hatte und oft mit ihnen aufgetreten war. Er hatte einiges zu bieten. Er hatte eine gute Stimme und war ein fähiger Bassist. Außerdem wusste er, wie man einen Song schreibt. Am wichtigsten war aber vermutlich, dass Gene sehr fokussiert war.

Damals hatte ich bereits kapiert, dass Talent, so wie alles andere auch, nur einen Ausgangspunkt darstellen konnte. Was wirklich zählte, war, was man damit machte. Ich wusste etwa, dass ich nicht der begabteste Gitarrist, der beste Sänger oder begnadetste Songwriter auf der Welt war, allerdings beherrschte ich diese Dinge immerhin bis zu einem gewissen Grad und hatte außerdem eine Vision bezüglich der Voraussetzungen für unseren Erfolg – wir müssten arbeiten, arbeiten, arbeiten.

Gene schrieb sehr eigenartige Songs. Vielleicht hatte es ja damit zu tun, dass er aus einem anderen Land stammte? Ich war mir da unsicher. Er hatte jedenfalls einen, der „Stanley the Parrot“ hieß, und noch einen mit dem schönen Titel „My Uncle is a Raft“. Außerdem hatte er tatsächlich einen auf Lager, der „My Mother is the Most Beautiful Woman in the World“ hieß.

Ähm, okay, aber das ist jetzt echt ein wenig schräg.

Trotzdem, je öfter wir miteinander spielten, desto besser wurde das Ganze. Gene und ich mochten dieselbe Musik und wir sangen gut zweistimmig miteinander. Ich beschloss, mit ihm zu arbeiten. Ich konnte nun einen größeren Zusammenhang erkennen, und bei all seinen Eigenarten – Teamwork war nicht gerade die größte Stärke des Einzelkinds Gene – waren wir beide intelligent genug, um zu wissen, wie man seinen Ehrgeiz richtig einsetzte. Immerhin würde es zu zweit viel einfacher werden, die Hindernisse zu überwinden.

Nachdem wir eine Weile gemeinsam geprobt hatten, schloss sich Steve Coronel uns an. Langsam wurden wir zu etwas, das sich immer mehr wie eine echte Band anfühlte.


Im Juni 1970 machte ich meinen Highschool-Abschluss an der Music & Art, wobei ich einer der schlechtesten Schüler meiner Klasse war. Ich war eigentlich ziemlich überrascht, die Schule überhaupt geschafft zu haben, da ich ja so selten im Unterricht aufgekreuzt war.

Der Schulabschluss war ein zweischneidiges Schwert. Ich war zwar einerseits froh, die Schule endlich hinter mir lassen zu können, aber andererseits ging mir der Arsch auf Grundeis, weil ich nun zum Militär hätte eingezogen werden können. Der Vietnamkrieg war ja in vollem Gange und das Letzte, was ich wollte, war, dorthin verfrachtet zu werden. Ein Trip nach Vietnam musste genauso wenig sein wie ein Trip auf LSD.

Im Laufe der Jahre, in denen ich meine Hypochondrie kultiviert hatte, war es mir gelungen, eine beachtliche Sammlung an medizinischen Attesten, die ich den Ärzten aus den Rippen geleiert hatte, anzuhäufen. Hauptsächlich ging es dabei um Rückenschmerzen und ähnliche Dinge. Eines Tages fuhr ich in die Whitehall Street in Lower Manhattan, um mich mustern zu lassen. Sie warfen ein paar schnelle Blicke auf meine medizinischen Unterlagen und entließen mich sogleich wieder. Alle meine Ängste – ich hatte mir jahrelang vor Vietnam fast in die Hose gemacht – waren umsonst gewesen. Ich überbrachte meinen Eltern die tollen Neuigkeiten und erzählte ihnen, wie ich meine ärztlichen Beglaubigungen benutzt hatte, um zu beweisen, dass ich untauglich war. Sie sahen einander ein wenig ratlos an. Dann fragten sie: „Wusstest du denn nicht, dass du gar nicht eingezogen werden kannst?“

„Warum?“, fragte ich zurück.

„Nun, du bist schließlich taub auf einem Ohr.“

Ach, so war das also.

Halb unter Schock dachte ich an die unzähligen Male, die ich das Thema einer möglichen Einberufung zum aktiven Dienst während meiner Schulzeit angeschnitten hatte. Jeder junge Mann, der sich dem Mindestalter näherte, machte sich schließlich darüber seine Gedanken. Ich für meinen Teil hatte meinen Eltern bei etlichen Gelegenheiten meine diesbezüglichen Sorgen mehr als klar gemacht. Das wäre ihre Gelegenheit gewesen, mir zumindest eine meiner Ängste zu nehmen, da sie ja Bescheid darüber wussten, dass ich für den Militärdienst ungeeignet war.

„Warum habt ihr mir das nicht früher gesagt?“, fragte ich sie.

Sie sahen sich gegenseitig an, drehten sich wieder zu mir und zuckten mit den Schultern. Wieder einmal zehn Punkte für meine lieben Eltern.

Es stimmte, dass ich die Richtung, aus der ein Geräusch kam, nicht bestimmen konnte, aber ich hatte nie zwei und zwei zusammengezählt. Auch sonst war mir nie jemand dabei behilflich gewesen, diese simple Rechnung aufzustellen.

Damals beschloss der Staat New York, jedem seiner Einwohner den Zugang zum College zu ermöglichen, und trotz all meines Wagemuts, es in der Musikwelt schaffen zu wollen, bewarb ich mich zusätzlich noch für das städtische College-System. Vielleicht würde sich durch diese neue Möglichkeit ein Sicherheitsnetz aufspannen, das ich noch benötigen könnte.

Da ich keinen der Eignungstests absolviert und die Highschool mit entsetzlichen Noten abgeschlossen hatte, wurde ich an das Bronx Community College geschickt. Mir wurde ein Studentendarlehen gewährt, welches ich umgehend dafür verwendete, mir einen gebrauchten blauen Plymouth Fury zu kaufen, um meinen Rambler, der mir irgendwann liegengeblieben war, zu ersetzen.

Als ich in der ersten Woche zu den Vorlesungen erschien, fand ich nicht, dass viele der Anwesenden aussahen, als ob sie das Zeug zum Studieren hätten. Sie dachten sich dasselbe wahrscheinlich über mich.

Obwohl es eine Luftveränderung darstellte, stellte sich das College schon bald als Fortsetzung all dessen heraus, was ich an der Schule gehasst hatte. Ich hatte immer noch dasselbe grundlegende Problem: Ich konnte nicht gut genug hören, um dem Geschehen folgen zu können. Und es war auch nicht so, als hätte mich der Unterricht bloß eine Stunde oder so am Tag in Anspruch genommen. Ich musste praktisch den ganzen Tag dort bleiben. Um das Ganze noch abzurunden, gab es zusätzlich noch Aufgaben zu erledigen. Als ich an all die Zeit dachte, die ich für das College aufwenden müsste, begann ich die Sache als eher hinderlich wahrzunehmen. Ich war bereit, Zeit in meine eigentlichen Ziele zu investieren, aber das hier war mir dabei nicht gerade hilfreich. Es war sogar eher eine massive Ablenkung. Und wofür? Ich würde nie in einem schulischen Ambiente auftrumpfen können. Es war die reinste Zeitverschwendung, und Zeit war, so führte ich mir vor Augen, das Kostbarste, das ich besaß.

Das ist doch nur wieder derselbe alte Mist. Ich gehöre nicht hierher.

Das hier ist nichts für mich.

Dann dachte ich an die neue Band und führte mir den Umstand vor Augen, dass ich nun nicht mehr auf mich allein gestellt war. Ich dachte über die Ideen nach, die ich mit Gene diskutiert hatte, wie etwa einen Vollzeit-Proberaum zu mieten. Klar, Gene war als Einzelkind aufgewachsen. Seine Mutter hatte ihm eingetrichtert, dass er Gottes Geschenk an die Welt wäre, und er hatte es bereitwillig geglaubt. Sicherlich hatte er seine Schrullen, aber andererseits stimmte wiederum die Chemie zwischen uns. Zusammen waren wir viel stärker, als es jeder für sich allein gewesen wäre. Wir hatten einen Schlachtplan.

Das hier ist nichts für mich.

Sich selbst keinen Plan B offenzulassen birgt seine Gefahren. Jedoch lenkte mich das College von meinem Ziel ab. Für eine Band hieß das Ziel, Erfolg zu haben. Man musste 24 Stunden am Tag dafür leben, nicht nur am Abend oder an den Wochenenden. Meine Zeit am Bronx Community College zu verschwenden, hieß, das zu sabotieren, was ich mir vorgenommen hatte. Ich hatte nun meinen Plymouth, was bedeutete, dass ich jederzeit zu den Proben fahren konnte.

Das hier ist nichts für mich.

Nach der ersten Vorlesungswoche verabschiedete ich mich für immer.