Hinter der Maske - Die Autobiografie

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„Hey, Franse!“, sagte sie zu mir.

Ich ging zu ihr rüber, um mit ihr zu quatschen, und brachte irgendwie den Mut auf, sie um ein Date zu bitten. Es war wie eine außerkörperliche Erfahrung – irgendjemand sprach, und das war ich, aber ich fühlte mich komplett losgelöst, da es ein gewaltiger Sprung ins Ungewisse für mich war. Sie sagte zu und ich entfernte mich wieder – in einem Zustand zwischen totaler Glückseligkeit und Schockstarre.

Wir besuchten schließlich ein Konzert im Fillmore East. Sie kannte haufenweise Leute im Publikum. So saßen wir dann bei ihren Freunden. Ich war sofort eingeschüchtert, weil sie so cool waren und ich bloß ein verkrampfter Junge aus Queens. Sie ließen einen Joint kreisen. Ich zog jedes Mal daran, wenn er an mir vorbeikam, und so wurde ich ziemlich stoned. Schon bald quasselte ich nonstop, bis mich Victoria schließlich fragte: „Was zum Geier faselst du da?“

Das ließ mich für den Rest des Konzerts verstummen.

Nach der Show gingen wir zurück ins Apartment ihrer Eltern. Ich war immer noch ziemlich daneben und auch recht verunsichert, da Victoria eine Delle in meiner glänzenden Rüstung ausgemacht und meine Coolness in Frage gestellt hatte. Ich unterhielt mich dann mit ihrem Vater und hörte auch nicht zu plappern auf, als Victoria sich schon davongeschlichen und in ihr Schlafzimmer begeben hatte. Ich wand mich schließlich aus der Wohnung und fühlte mich wie ein kompletter Vollesel.

Von da an kicherte sie jedes Mal, wenn wir einander über den Weg liefen. Ich denke nicht, dass sie fies sein wollte, aber andererseits lachte sie auch nicht mit mir.

Ein anderes Girl, mit dem ich kurz ging, lebte auf Staten Island. Sie war zur einen Hälfte Italienerin und zur anderen Hälfte Norwegerin und lebte in einem italoamerikanischen Wohnumfeld. Sie war voll auf Speed. Da ich eher ein stämmiger Junge war und sie selten Appetit hatte, bekam ich oft ihre Pausenbrote, die ihre Mutter liebevoll zubereitet hatte. Das erste Mal, als ich ihre Mom traf, schien sie mich zu mögen. Das nächste Mal dann, als ich vorbeikam, um sie abzuholen, durfte ich nicht mehr ins Haus.

„Ich darf nicht reinkommen?“, fragte ich das Mädchen.

„Nein. Meine Mom dachte, du wärst Italiener. Aber jetzt weiß sie, dass du Jude bist.“

Das war meine kleine Einführung in die wunderbare Welt des Antisemitismus.

Nach einer Weile ließ mich meine Unsicherheit, gepaart mit meiner Unfähigkeit, dem Unterricht akustisch zu folgen, in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Ich fühlte mich verloren, war frustriert und isolierte mich von den anderen. Schließlich begann ich, so oft wie nur möglich, die Schule zu schwänzen. Ich wusste, wie viele Fehlstunden ich ansammeln durfte und wie oft ich zu spät zum Unterricht erscheinen konnte – und ging diesbezüglich tatsächlich an die Grenzen des Machbaren. Das waren jedenfalls die schulischen Statistiken, die ich am meisten im Auge behielt.

Ich wurde zu einem Geist, denn ich war kaum in der Schule – und wenn ich einmal dort war, war ich praktisch unsichtbar. Ich saß weit hinten in der Klasse und brachte kaum einmal den Mund auf, um mit jemandem zu sprechen. Wieder einmal hatte ich mich in ein selbst auferlegtes soziales Exil begeben, das aus meiner Zurückgezogenheit und ängstlichen Unsicherheit im Umgang mit anderen Menschen resultierte. Schon wieder ließ ich mich hängen. Mein Leben schien prekär und desolat zu sein. Ich wachte auch wieder schreiend aus den mir so vertrauten Albträumen auf und war mir sicher, sterben zu müssen.

Alleine auf einem treibenden Floß, weit von jeder Küste, umgeben von Finsternis …


Ein Auftritt von „The Baby Boom“ im Tompkins Square Park im East Village. Ich bin der 15-jährige Junge links, Jon Rael der Typ mit der Brille. maury englander


Auf Platz 552 von 587 Schülern. Wenn man sich schon nicht unter den Besten platzieren kann, dann kann man sich immer noch als Minderleister einen Namen machen. Ein Wunder, dass sie mir überhaupt einen Abschluss zuerkannten.


Eines Abends, als meine Mom gerade zum ersten Mal wieder nach Deutschland gereist war, kam mein Dad spät nach Hause. Er stank nach Alkohol und begann auf mich einzureden: „Wir tun alle mal Dinge, die wir nicht tun sollten.“

O Gott!

„Aber das ist doch okay, oder?“

Ich bin dein Sohn. Suchst du bei mir nach Vergebung? Bei mir? Du willst deine Schuld für etwas, das du gerade getan hast, bei mir abladen?

Ich wusste damals bereits, dass ich mich nicht an meine Eltern wenden konnte, wenn ich Hilfe oder Aufmunterung brauchte. Jedoch hatte ich nicht erwartet, dass einer von ihnen seinen eigenen Seelenmüll bei mir deponieren würde.

Plötzlich erinnerte ich mich an einen Vorfall, der sich ein paar Jahre zuvor zugetragen hatte. Mein Dad hatte an jenem Abend den Telefonhörer abgehoben und war sichtlich verstört von dem, was ihm da mitgeteilt wurde. Er sprach mit leiser Stimme mit meiner Mom. Dann riefen sie die Polizei. Als die Cops auftauchten, forderten sie meinen Dad auf, ihnen genau zu erklären, was er am Telefon gehört hatte. Er erzählte ihnen, dass der Mann am anderen Ende der Leitung gedroht hätte, ihm Gewalt anzutun, wenn er nicht aufhören würde, sich mit einer bestimmten Frau zu treffen. „Er hat gesagt, dass er ihm die Eier abschneidet“, tönte meine Mom. Wir alle nahmen an, dass es sich um eine Verwechslung handeln musste. Aber nun begann ich mich zu wundern.

Mein Zuhause fühlte sich danach noch gefährlicher als sonst schon an. Es sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis ich herausfand, was da tatsächlich vor sich gegangen war, aber ich fühlte, dass unser Haus zu einer potenziell tödlichen Umgebung geworden war, die langsam in den Fluten versank.

Ich ertrinke.

Es war schlimm genug, mir mich in einem Wagen, der kein Lenkrad hatte, oder auf einem treibenden Floß, fernab jeder Küste und in vollkommener Finsternis, vorzustellen, doch nun fühlte es sich an, als würde das Floß unter Wasser gezogen.

Was auch immer mit meiner Schwester los war, wurde durch meine Eltern noch verschlimmert, und alles, was bei mir abging, wurde durch ihr Zutun noch verschärft. Mein Zuhause fühlte sich genau so unbehaglich an wie die Schule oder andere Umgebungen. Ich konnte der Furcht nicht entrinnen. Ich war erst 15 Jahre alt und verlor den Verstand. Ich hatte niemanden, mit dem ich hätte sprechen können. Niemanden. Ich war völlig auf mich gestellt und war wie versteinert.

Was soll ich bloß tun?

Ich konnte spüren, dass es sehr übel enden würde, wenn alles so weiterginge.

Soll ich mich etwa umbringen? Werde ich verrückt wie meine Schwester?

Julia hatte auf ihre tief sitzenden Probleme reagiert, indem sie sich für einen Weg der Selbstzerstörung und Selbstbetäubung entschieden hatte. Ganz offensichtlich führte dieser Weg ins Verderben. Wie ich den Dingen begegnete, lag ganz bei mir. Klar, ich war auf mich selbst gestellt, aber ich hatte die Wahl. Wenn ich nichts täte, wäre das auch eine Entscheidung – und ich wusste, dass die Konsequenzen nicht erstrebenswert waren.

Ich weigere mich, ein Opfer zu sein.

Ich wollte mich zusammenreißen. Ich wollte die Ärmel hochkrempeln und meinen Kram ordnen sowie die Welt zu meinen Gunsten verändern.

Aber wie?

Ich war gerade mit meinem Fahrrad unterwegs, als mich die Erkenntnis durchfuhr. Gerade, als ich mich in eine Kurve nahe unseres Wohnhauses legte, traf es mich wie ein Vorschlaghammer.

Ich muss mir Hilfe suchen.

Anders, so wurde mir nun klar, würde ich es nicht schaffen. Ansonsten würde ich falsche Entscheidungen treffen und nur noch weiter die Abwärtsspirale hinabtaumeln.

Tu etwas.

Dann hörte ich eines Abends einen Freund meiner Schwester über eine ambulante psychiatrische Abteilung im Mount Sinai Hospital in Manhattan sprechen. Hier hatte ich nun etwas Handfestes. Einen Ort, an den ich mich wenden konnte, mitsamt Namen und Adresse. Ich schlug das Krankenhaus im Telefonbuch nach und wartete, bis niemand mehr zu Hause war, um dann die psychiatrische Abteilung anzurufen und einen Termin für ein Gespräch zu vereinbaren.

Am Tag des Termins fuhr ich mit zwei U-Bahn-Linien und einem Bus, um rechtzeitig dort zu sein. Ich ging ganz allein hinein und sagte: „Ich brauche Hilfe.“ Sie ließen mich ein Formular unterzeichnen, für das ich zum Glück keine elterliche Genehmigung benötigte. Es kostete mich auch nur drei Dollar.

Jemand in einem weißen Kittel begleitete mich zum Arzt. Ich wusste rein gar nichts über Therapie, hoffte bloß, dass mir jemand erklären würde, wie man lebt. Ich war überrascht, als mir während meines ersten Gesprächs ausschließlich Fragen – keine Antworten – serviert wurden. Alles lief verkehrt herum ab. Ich wollte, dass der Doktor mir sagte, was zu tun wäre, aber stattdessen leitete er meine Fragen praktisch sofort an mich zurück. Es sollte noch eine Weile dauern, bis ich begriff, dass das die Grundlage einer Therapie ist. Mich würde niemand bei der Hand nehmen und durch mein Leben führen.

Dieser Arzt, der mir völlig fremd war, zog bloß eine Braue hoch und blickte in eine andere Richtung, während ich ihm berichtete.

Hält er mich etwa für irre?

Nach dieser ersten Sitzung war ich mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Trotzdem beschloss ich, es noch einmal zu probieren. Koste es, was es wolle.

 

Kremple deine Ärmel hoch.

Das nächste Mal, als ich hinging, wollte ich allerdings mit einem anderen Arzt sprechen. Glücklicherweise kam man mir da entgegen. Der zweite Arzt hieß Jesse Hilsen. Ich fühlte mich nicht unsicher in seiner Nähe. Er sah mich nicht an, als ob ich nicht alle Tassen im Schrank hätte. Er machte mir schnell klar, dass ich nicht weniger „normal“ war als die anderen, auch wenn es mir so vorkäme. Viele andere Menschen hätten auch Probleme. Ich war nicht allein. Ich war nicht der Einzige unter Millionen, dem es so vorkam, als würde seine Welt einstürzen. Dem Himmel sei Dank. Das war mal ein Fortschritt.

Ich sehnte mich immer noch nach familiärer Unterstützung und Zuspruch und erzählte meinem Dad, dass ich zu einem Psychiater ging. Er stand der Sache ablehnend gegenüber. „Du willst nur anders sein“, murrte er mich an.

Dann wurde er sauer. „Du denkst wohl, du bist der Einzige mit Problemen, was?“, schrie er plötzlich. Nein, ich wusste mittlerweile, dass ich das nicht war. Meine Schwester hatte Probleme. Und ich vermutete auch, dass mein Dad in der Tinte saß, obwohl ich keine Ahnung hatte, worüber er an jenem ominösen Abend, als er sich Absolution bei mir holen wollte, gesprochen hatte. Aber ich würde mich meinen Problemen nicht ergeben. Ich würde mir Mühe geben, sie zu bewältigen. Ich würde kämpfen.

Ich traf mich nun jeden Mittwoch nach der Schule mit Dr. Hilsen. Vorher holte ich mir noch ein Truthahn-Sandwich mit russischem Dressing aus dem Feinkostladen und setzte mich damit auf eine Bank im Central Park. Nach jeder Sitzung bei Dr. Hilsen freute ich mich schon auf die nächste Woche. Die Unterhaltungen mit ihm waren wie ein Rettungsfloß, an das ich mich klammern konnte. Endlich unternahm ich etwas – nahm mein Schicksal in die eigenen Hände. Ich war bereit, mich der Herausforderung zu stellen.


Ich mit 16, flankiert von Mom und Dad in unserer Wohnung in der 75th Road.


Anfang 1968, kurz nach meinem 16. Geburtstag, wurde in der English Power Hour mit Scott Muni ein neuer Hit aus England namens „Fire Brigade“ von The Move gespielt. Er handelte von einem Girl, das so heiß war, dass man die Feuerwehr rufen musste. Nun, ich war ein eingefleischter Anglophiler und The Move waren eine meiner Lieblingsgruppen. Zu dieser Zeit orientierte sich mein Songwriting sehr eng an dem, was ich im Radio hörte. Als ich nun „Fire Brigade“ hörte, verliebte ich mich in die Konzeption des Songs. Also setzte ich mich hin und begann einen Song um dieselbe Idee herum zu entwickeln. Ich hatte das Stück noch nicht oft genug gehört, um ihm auch musikalisch zu Leibe zu rücken, aber ich hatte mich in ein Thema verrannt, das mich wirklich ansprach – und so entstand dann der folgende Refrain:

Get the firehouse

’Cause she sets my soul afire

Ich nannte den Song „Firehouse“. Das war ein echter Fortschritt für mich. Mit jedem neuen Song wurde meine Zielstrebigkeit stärker. Ich hatte zwar vielleicht kein Sozialleben, aber ich hatte Musik und einen Traum.

So viele Menschen sind unglücklich. Sie brauchen jemanden, der sie unterhält. Vielleicht könnte ich das ja machen?

Eines Tages in der Highschool nahm mich ein Lehrer beiseite. „Warum kommst du nicht in den Unterricht? Warum passt du dich nicht an?“, fragte er mich.

„Weil ich ein Rockstar werde“, verkündete ich kühn.

Der Kerl sah mich an, und sein Gesichtsausdruck gab mir einen klaren Einblick in seine Gedankenwelt: Du armer Narr. Dann rang er sich zu einem schwachen Lächeln durch und sagte: „Viele Leute wollen Rockstars werden.“

„Yeah“, antwortete ich, „aber ich werde einer sein.“

Abgesehen von meiner Band, den Post War Baby Boom, hatte ich nicht viel in meinem Leben – nur meine Gitarre, meine Stereoanlage und – in zunehmendem Ausmaß – Konzerte. Ich beneidete die Kids, die in ihren Freundeskreisen verkehrten und sich am Wochenende trafen, denn ich hatte nichts dergleichen. Ich kriegte auch nicht heraus, wie man solche Dinge bewerkstelligte. Also ging ich zumeist allein auf die Konzerte. Es war etwas, das mich erfüllte.

1968 sah ich Jimi Hendrix live in einer kleinen Location am Hunter College auf der Upper East Side in Manhattan. Ich sah The Who, die Yardbirds und Traffic. Außerdem noch Otis Redding und Solomon Burke. Dann noch einmal Hendrix. Buchstäblich jedes Wochenende traten viele Bands nacheinander im Fillmore East oder dem Village Theater auf, was es mir ermöglichte, drei Bands für drei oder vier Dollar zu bestaunen. Ich badete förmlich in Musik an diesen Wochenenden.

Die britischen Bands umgab eine verruchte Eleganz: Sie hatten tolle Frisuren, trugen Samt und Seide und waren nicht nur in Bezug auf ihre musikalische Ausrichtung, sondern auch in puncto Auftreten und Präsentation sehr stimmig. Sie bestanden aus individuellen Persönlichkeiten, aber vertraten auch eine gemeinsame Identität als Band. Die Mitglieder der einzelnen Gruppen waren auf eine Art stylish, in der sie sich gegenseitig gut ergänzten. Sie verkörperten außerdem eine Sexualität, die den amerikanischen Gruppen dieser Zeit fehlte.

Ich sah mir auch viele amerikanische Bands an – Jefferson Airplane, Grateful Dead, Moby Grape und Quicksilver Messenger Service, um nur ein paar zu nennen. Die meisten Leute in diesen Bands sahen aus wie Penner, die gerade erst aus dem Bett gerollt waren – alleine aus dem Bett gerollt waren. Ein fetter Typ mit Zöpfen war nichts, was mich positiv angesprochen hätte. Wenn ich eine Band mit einem bärtigen Kerl nur sah, dachte ich mir: Was hat Sigmund Freud in einer Rockband verloren? Ich glaube, dass die ursprüngliche Idee für die Lightshows, die diese Bands auf der Bühne einsetzten, daher stammte, dass man die Aufmerksamkeit auf die wabernden und pulsierenden Farben auf der Leinwand hinter der Bühne und weg von den ungepflegten Chaoten lenken wollte, die aussahen, als hätten sie gerade noch auf der Straße ein paar Kröten geschnorrt. Die meisten amerikanischen Bands sahen aus wie die wöchentliche Zusammenkunft eines Kommunen-Rats. Es sprach mich einfach nicht an. Wenn man sich ihrer Optik in Kombination mit ihrem Sound aussetzte, war es alles andere als eine Überraschung, dass Leute auf ihren Konzerten LSD einwarfen.

Ich wusste jedoch, dass LSD nichts für mich war. Auf Konzerten sah ich Leute, die dieses Zeugs genommen hatten, durchdrehen. Ich bekam auch mit, dass ein Junge aus meiner Nachbarschaft deswegen eingeliefert werden musste. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich ein Vorzeigeanwärter für einen Flug über das Kuckucksnest war, und da wollte ich die Kontrolle lieber nicht aus der Hand geben. Ich hatte bereits genügend Probleme und hatte außerdem gesehen, was die Drogen bei meiner Schwester angerichtet hatten. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ein derartiger Kontrollverlust mich auf einen sehr, sehr schlechten Weg bringen würde.

Die britischen Bands wurden zu einer Art Schablone für die Richtung, in die ich mich hinbewegen wollte. Und diese Blaupause wurde im folgenden Jahr immer umfangreicher, als ich Bands wie Humble Pie, Slade und Grand Funk Railroad sah, die eine nahezu kirchliche Stimmung verbreiteten und eine Art religiöse Verbindung zu ihrem Publikum aufbauten. Ein Frontmann wie etwa Steve Marriott von Humble Pie war der Anführer einer Kongregation, die die Frohe Botschaft des Rock ’n’ Roll verkündete.

Ja, ich glaube!

Obwohl ich die Musik durch meine Venen pulsieren fühlen konnte, musste ich natürlich auch an Geld kommen, um mir Konzertkarten, Gitarrensaiten und importierte englische Musikmagazine wie den Melody Maker, New Musical Express und Sounds, die an bestimmten Zeitungsständen im Greenwich Village erhältlich waren, leisten zu können. Aber Jobs waren rar gesät. Deshalb schlug ich sofort zu, als mir ein Cousin meiner Mutter eine Stelle in seiner Sinclair-Tankstelle, nicht weit vom Palisades Parkway, anbot.

Gleich darauf kaufte ich ihm einen klapprigen Rambler ab, damit ich nach der Schule zu meinem Job fahren konnte. Ich musste dann von Harlem, wo sich die Music & Art befand, über die George-Washington-Bridge bis nach Orangeburg, New York, fahren, wo die Tankstelle lag, und meine Schicht runterreißen, um im Anschluss nach Hause nach Queens zu fahren.

Es war eine harte Arbeit, zum einen wegen der Distanzen, die ich hinter mich bringen musste, zum anderen, weil ich absolut keine Ahnung von Autos hatte. Ich war der ungeschickteste Mensch der Welt. An einem meiner ersten Arbeitstage hielt eine Karre bei uns und der Fahrer befahl mir, den Ölstand zu checken. Also öffnete ich die Motorhaube und zog den Messstab heraus – das konnte ich immerhin. Ich wusste außerdem sogar, wie man davon ablas.

„Sie sind schon etwas knapp.“

„Okay“, sagte er, „dann füll mir etwas nach.“

„Klar“, antwortete ich und machte mich an die Arbeit.

Nach ein paar Minuten erkundigte sich der Fahrer bei mir: „Hey, Junge, warum dauert das denn so lange?“ Nun, ich hatte einen Trichter in das Loch für den Messstab gesteckt und versuchte, Öl in diese Öffnung zu kippen. Ich wusste nicht, dass es dafür einen Einfüllstutzen gab.

Trotz meiner anfänglichen Schwierigkeiten machte ich mich eine Weile lang ganz gut in meinem Job. Es gab sogar eine attraktive Mitarbeiterin, deren Overall sich ebenso schnell ausziehen ließ wie meiner.

Schließlich – es war an einem Wochenende – veröffentlichte eine lokale Zeitung, die so um die fünf Cent das Stück kostete, in ihrer Ausgabe eine Werbung für Sinclair mitsamt einem Benzingutschein im Wert von einem Dollar. Leser konnten ihn beim Tanken bei uns einlösen und so einen Dollar sparen. Dann wiederum sollten die einzelnen Sinclair-Filialen die Gutscheine einschicken, um das Geld von der Zentrale zurückzubekommen. Der Cousin meiner Mutter wies mich an, so viele Exemplare dieser Zeitung wie nur möglich zu kaufen. Ich sollte sie dann in einem geliehenen Wagen zur Tankstelle transportieren und die Gutscheine ausschneiden. Er plante, sie bei der Firmenleitung gegen Geld einzutauschen, ohne auch nur einen Tropfen Benzin in Kundenautos gepumpt zu haben. Das Geld für alle Zeitungen, für die ich jeweils fünf Cent hatte abdrücken müssen, wollte er mir erstatten sowie mir, als Ausgleich für meine Bemühungen, einen Anteil von der Kohle zukommen lassen, die er sich von der Firma Sinclair erwartete. Ich brachte ihm viele Wagenladungen mit Zeitungen und er verdiente Tausende Dollars, aber gab mir nie mein Geld zurück, ganz zu schweigen von einem Anteil an seiner Beute. Von einem Familienmitglied über den Tisch gezogen! Ich kündigte.

Danach besorgte ich mir einen Job in einem noblen Feinkostladen namens Charles and Company. Er war auf kalte Platten, Käse und in Dosen abgepackte Köstlichkeiten spezialisiert und betrieb Filialen in ganz New York. Ich musste dort eine Perücke tragen, um meine Haarpracht zu verstecken. Sie war total eng und ich bekam Kopfweh von dem Ding. Aber ich arbeitete halt hinter dem Ladentisch, bereitete Sandwiches zu und füllte Salate und Aufstriche in Behälter; daher war es notwendig, sie zu tragen. Eines Tages besuchte uns der für den Bezirk zuständige Manager. Nachdem er seinen Verpflichtungen nachgegangen war, kam er zu mir und sagte: „Du weißt, dass du eines Tages selbst Manager von einem unserer Läden werden könntest.“ Ich denke, er wollte mich damit anspornen, aber es hatte genau den gegenteiligen Effekt auf mich. Ich wusste, dass ich nicht hierher gehörte.

Gott, nein. Alles, nur nicht das hier.

Im Herbst 1968, zu Beginn meines dritten Jahres an der Highschool, fand ich heraus, dass Post War Baby Boom nicht die richtige Gruppe für mich war. Zumindest war das die Ansicht der anderen Bandmitglieder. Jon Rael und der Rest waren nun am College. Die meisten von ihnen gingen aufs Bard oder auf die SUNY in New Paltz – außerhalb der Stadt, aber nicht aus der Welt. Ich hatte mir gedacht, dass wir weiterhin zusammen spielen könnten, zum Beispiel, wenn sie Ferien hatten. Ich hätte sie auch an den Wochenenden besuchen können, aber sie hatten andere Pläne. Sie informierten mich auch nicht darüber, dass ich draußen war. Ich kam dahinter, als sie an einem Wochenende nach Hause kamen und einen neuen Gitarristen im Schlepptau hatten, der zu allem Überdruss auch noch besser war als ich.

 

Sie hatten Auftritte am College, und dieser Kerl war nun Teil der Truppe. Das schmerzte vor allem deswegen, weil sie mir nichts gesagt hatten. Ich ließ die Situation erst einmal sacken, um darüber nachzudenken, was zu tun wäre.

Ich muss ein besserer Gitarrist werden.

Aber nicht weniger wichtig:

Ich werde weiterhin Songs schreiben.

Nein, es ging noch etwas darüber hinaus:

Mach das Beste aus dem, was du hast. Es gibt keinen Grund, erst auf eine Band zu warten.

Ich hatte keine Band – egal! Ich hatte Songs und schrieb ständig neue. Zu diesem Zeitpunkt besaß ich bereits ein Aufnahmegerät, mit dem ich meine Songs mitschnitt. Bei mir kam die Musik, die Melodie, immer zuerst. Der Text wurde später nachgereicht.

Vielleicht kann ich ja andere Leute dazu bringen, meine Songs aufzunehmen?

Einige der Magazine, die ich mir kaufte – Hit Parader und Song Hits etwa – druckten Songtexte ab. Am unteren Ende der Seite, auf der ein Songtext zu lesen war, stand dann immer die Information über den Verfasser und den Musikverlag.

Als Songwriter, der keine Band hat, muss ich mich nach anderen Möglichkeiten umsehen.

Ich war ein solcher Einzelgänger, dass es tatsächlich Sinn hatte, es auf eigene Faust zu versuchen. Und so verbrachte ich einen guten Teil des Schuljahrs damit, Musikverlage anzurufen, um sie davon zu überzeugen, dass ich ihnen mein Material mal vorspielen sollte. Am besten erinnere ich mich an ein Vorspielen im Brill Building, das schon damals legendär war. Ich ging mit meiner Gitarre rein und traf mich mit jemandem, der eingewilligt hatte, sich meine Sachen anzuhören.

Es war witzig, dass ich mich zwar immer scheute, meiner Band die Songs zu präsentieren, die ich geschrieben hatte, es aber leicht fand, sie einfach Leuten vorzuspielen, die ich nicht kannte. Aber obwohl manche von ihnen sehr nette und ermutigende Worte für mich fanden, nahm mich niemand unter Vertrag.

Ich musste noch viel über mein Handwerk lernen.


Ich hing weiterhin gerne und oft im Middle Earth, diesem Kifferladen, ab. Oft besuchte ich auch das Pärchen, dem der Shop gehörte, in ihrem nahegelegenen Apartment. Wir relaxten und ich spielte auf meiner Akustikgitarre. Im selben Gebäude wohnte ein Freund von ihnen, der auch Gitarre spielte, und manchmal ging ich dann zu ihm rüber, um zu jammen. Ich rief nie an, bevor ich vorbeischaute – ich kreuzte einfach auf.

Gelegentlich rauchte ich Pot, und es war irgendwie lustig, auf dem Boden rumzusitzen und über abgefahrenes Zeug nachzusinnen, etwa über Leben auf anderen Planeten oder über Baumrinde. Allerdings war es auch nicht besonders produktiv, und ich realisierte, dass ich meine Zeit nicht mit Pot und Sandwiches vergeuden durfte, wenn ich Songs schreiben wollte. Ich hatte immer noch ein Ziel vor Augen.

Sozialer Umgang mit Leuten, die älter als ich waren, wurde zu einem willkommenen Zeitvertreib für mich. Es fiel mir leichter, als mit Kids in meine Alter abzuhängen. Außerdem musste ich diese Erwachsenen ja nicht jeden Tag sehen, wenn ich nicht wollte. Ungefähr zur selben Zeit freundete ich mich mit einer Frau an, die einen Block entfernt wohnte und Sandy hieß. Sie war mit einem Typen namens Steven verheiratet, war Mitte zwanzig und hatte drei Kinder. Ich fing an, mit ihr und ihrem Ehemann abzuhängen, so wie ich das auch mit dem Paar aus dem Middle Earth tat. Ich verbrachte viel Zeit mit ihnen und es war toll, nicht ständig zu Hause sein zu müssen.

Eines Tages, als ich mit Sandy abhing, sagte sie: „Ich muss dir etwas erzählen.“

Okay …

„Steven hat mich verlassen.“

„Das ist ja schrecklich!“, antwortete ich und nahm sie in den Arm. Eine Weile hielten wir uns auf dem Sofa aneinander fest, dann … führte sie mich in ihr Schlafzimmer.

Uuaah, was geht denn hier ab? Das ist der totale Wahnsinn!

So was wie sexuelle Technik war bei mir de facto noch nicht vorhanden, aber ich bin mir sicher, dass mein Überschwang Sandy ansprach: Ich war ein menschlicher Presslufthammer. In diesem Alter brachte es mich ja schon in Stimmung, wenn ich einfach nur meine Hose auszog. Und wenn auch noch jemand dabei war, dann erst recht.

Bis dahin war es für mich fast unmöglich gewesen, jemanden zu finden, mit dem ich Sex haben konnte. Aber diese Erfahrung änderte alles. Zu meinem Glück kam Steven nicht mehr zurück, was bedeutete, dass ich immer öfter bei Sandy zu Besuch war. Sie wohnte ja schließlich auch ganz in der Nähe. Der sexuelle Rummelplatz, der mir Hochgefühle bescherte, die ich bis dahin nicht gekannt hatte, lag nur ein paar Schritte von meiner Haustür entfernt.

Diese Dates konnte sich ziemlich lange hinziehen, da wir warten mussten, bis ihre Kinder eingeschlafen waren. Eines Nachts rief ich von Sandys Wohnung aus meine Mom an und teilte ihr mit, dass es wieder mal spät werden würde.

„Ernsthaft, Stan, was geht da vor sich?“, fragte sie mich.

„Mom, sie hat viele Probleme.“ Meine Mom wusste, dass sich Steven und Sandy getrennt hatten, und war misstrauisch, was unsere Beziehung zueinander betraf. Aber ich denke, dass sie die Wahrheit gar nicht wissen wollte.

Sobald mir klar geworden war, dass ich als jüngerer Mann eine gewisse Anziehungskraft auf Frauen ausübte, die älter als ich waren, veränderte sich meine Situation radikal. Das Einzige, was mir mein Vater jemals über Sex mitgeteilt hatte, war, dass er mich im Stich lassen würde, wenn jemand ein Kind von mir kriegte. Mir wurde vermittelt, dass Sex schäbig und schmutzig war. Aber, Junge, hatte ich Bock darauf! Und als ich erst einmal Sex gehabt hatte, fuhr ich darauf ab. Nun bekam ich ihn, ohne dass ich mich irgendeiner ausgeprägteren Intimität stellen musste, die vielleicht Voraussetzung gewesen wäre, um ein Mädchen meines Alters davon zu überzeugen, mit mir in die Kiste zu hüpfen. Ich hätte das nicht gekonnt. Auf keinen Fall. Intimität empfand ich immer noch als Belästigung – als ob jemand in meine seelische Festung, die ich um mich herum errichtet hatte, einzudringen versuchte. Ich wollte niemanden an mich heranlassen. Aber nun, mit älteren Frauen, konnte ich den Akt an sich genießen und im Anschluss sofort das Weite suchen.

Tu es und dann raus hier.

Und ihnen gefiel das nicht weniger als mir. Die Schleusen waren geöffnet.

Sehr bald schon sah mich eine andere Frau aus der Gegend mit meiner Gitarre und fragte, ob ich jemanden kennen würde, der ihrem Sohn Unterricht geben konnte. Sie war geschieden.

„Nun ja, ich könnte ihm Stunden geben“, sagte ich.

Sie verbrachte ihren 39. Geburtstag mit mir im Bett. Ich war da gerade einmal 17.

Meine Instinkte und Hormone trieben mich immer öfter in solche Situationen. Es war wie eine Droge. Eine wundervolle Droge. Ich hatte nun Zugang zu etwas Magischem gefunden, ohne dabei meine Deckung aufgeben und mich einer ernsthaften Beziehung oder echter Intimität stellen zu müssen. Ich musste mir keine Sorgen machen, dass jemand Gefühle von mir erwartete.

Es gab keine Regeln. Ich hinterfragte nie den moralischen Aspekt meines Treibens. Wenn irgendjemandes Ehefrau mit mir pennen wollte, hey, warum nicht? Der Umstand, dass es da noch jemanden gab, kümmerte mich nicht die Bohne. Das war deren Problem. Wenn sich eine Frau mir zur Verfügung stellen wollte, dann reichte mir das.

Der Ehemann des Kiffershop-Pärchens schien sich in ein Mädchen, das sehr oft in den Laden kam, verguckt zu haben. Eines Abends, als das Pärchen eine Party bei sich zu Hause schmiss, fing er an, sie anzubaggern. Ich denke, dass sich das Pärchen ohnehin in Richtung einer offenen Beziehung entwickelte, doch an diesem Abend schien sich die Frau sehr über ihren Ehemann, der sich da mit einer anderen davonstahl, aufzuregen. So landete ich wieder einmal in einem Schlafzimmer mit einer Ehefrau. Ihr Schäferhund schien übrigens nicht minder an mir interessiert zu sein als sein Frauchen.

Hey, diese Leute sind alle Erwachsene.

Ich wollte gar keine Freundin. Auch keine Beziehung. Das hätte mir Angst gemacht. Aber ich konnte trotzdem meine Bedürfnisse befriedigen, ohne mich dabei emotional auf irgendjemanden einlassen zu müssen. Und Situationen, die andere womöglich abgeschreckt hätten – es bestand ja immerhin die Chance, dass jemandes gehörnter Ehemann mir die Eier hätte abschneiden wollen, so wie es meinem Dad angedroht worden war –, entsprachen meiner Idealvorstellung.