Hinter der Maske - Die Autobiografie

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Ein „Zuhause“ kann sehr vieles bedeuten. Für die meisten Menschen ist es ein Ort der Ruhe und Geborgenheit. Mein erstes Zuhause war alles andere als das.

Ich kam am 20. Januar 1952 als Stanley Bert Eisen zur Welt. Das New Yorker Apartment, in das mich meine Eltern mitnahmen, befand sich an der Ecke West 211th Street und Broadway, ganz im Norden Manhattans. Ich wurde mit einer Ohrmuschelfehlbildung namens Mikrotie geboren, wobei sich das Knorpelgewebe des äußeren Ohrs nicht ordentlich entwickelt, was dazu führt, dass einem stattdessen eine unterschiedlich ausgeprägte, knorpelig-deformierte Masse wächst. Ich hatte nur ein kleines Rudiment auf der rechten Seite meines Kopfes. Das hatte zur Folge, dass ich nicht bestimmen konnte, aus welcher Richtung ein Geräusch kam, und dass es mir sehr schwer fiel, Menschen akustisch zu verstehen, wenn irgendwelche Hintergrundgeräusche die jeweilige Stimme überlagerten. Das führte so weit, dass ich instinktiv solche Situationen mied.

In meiner frühesten Erinnerung sehe ich mich mit meinen Eltern in unserem abgedunkelten Wohnzimmer sitzen. Die Rollläden waren heruntergezogen, als ob die Unterhaltung, die wir führten, ein Geheimnis gewesen wäre: „Wenn dich je wer fragt, was mit deinem Ohr los ist, erzählst du, dass du so geboren wurdest.“

Meine Eltern schienen zu glauben, dass die Angelegenheit nicht existieren würde, wenn sie sie ignorierten. Diese Philosophie bestimmte unseren häuslichen Alltag und somit mein Leben über große Teile meiner Kindheit hinweg. Ich bekam simple Antworten auf komplexe Fragen. Aber wenn meine Eltern meine Problematik auch gerne ignorierten – außer ihnen tat das leider niemand. Die Kinder schienen mich auf meine Fehlbildung zu reduzieren. Ich war für sie ein Objekt und kein kleiner Junge. Jedoch waren Kinder nicht die einzigen, die mich anstarrten – auch Erwachsene taten es, was sogar noch schlimmer war. Eines Tages auf einem Markt an der 207th Street, einen Katzensprung von unserer Wohnung entfernt, fiel mir auf, dass ein Erwachsener, der in der Schlange stand, mich angaffte, als wäre ich ein Ding und kein Mensch. Ich wünschte mir nur, dass er aufhören würde. Wenn dich jemand anstarrt, ist die Situation nicht nur auf dich und diese Person beschränkt. Ein solches Verhalten zieht Aufmerksamkeit auf sich – und im Mittelpunkt zu stehen, war der Horror für mich. Ich fand die musternden Blicke und das gnadenlose Interesse sogar noch übler als Spott und Hohn. – Fast überflüssig hinzuzufügen, dass ich nicht viele Freunde hatte.

An meinem ersten Tag im Kindergarten wollte ich, dass meine Mutter sobald wie möglich wieder ging, was sie stolz machte. Allerdings hatte ich dafür einen anderen Grund, als sie dachte. Es hatte nichts damit zu tun, dass ich nun unabhängig und selbstsicher gewesen wäre. Ich wollte nur nicht, dass sie mitbekäme, wie ich angestarrt würde. Sie sollte nicht sehen, dass ich anders behandelt würde. Ich befand mich in einer neuen Umgebung mit neuen Kindern und wollte nicht vor ihr gedemütigt werden. Dass sie stolz auf mich war, zeigte mir, dass sie keine Ahnung von mir hatte. Meine Ängste waren ihr zu hoch.

Eines Tages kam ich weinend heim. „Jemand hat mir ins Gesicht gespuckt“, schluchzte ich. Ich suchte Aufmunterung und Schutz bei meiner Mutter. Ich nahm an, sie würde mich fragen, wer das getan hätte, um im Anschluss die Eltern des anderen Kindes zu finden und ihnen klarzumachen, dass so ein Verhalten nicht akzeptabel wäre. Aber stattdessen sagte sie: „Heul dich nicht bei mir aus, Stanley. Du musst deine Kämpfe schon selbst austragen.“

Meine Kämpfe selbst austragen? Ich bin fünf!

Ich will niemandem wehtun. Ich will nur, dass mich die Leute in Frieden lassen.

Eine Stunde später ging ich allerdings wieder hinaus, fand den Jungen und verpasste ihm eine aufs Auge. Er konnte sich da aber schon nur mehr dunkel an den ganzen Vorfall erinnern und wusste sich gar nicht zu erklären, warum ich so eine große Sache daraus machte.

Eines war danach klar: Mein Zuhause war nicht der Ort, an dem ich Hilfe finden würde. Egal, ob ich verprügelt, gehänselt oder sonst irgendetwas würde, ich musste mich schon selbst darum kümmern.

Wir lebten praktisch neben der PS 98, der Grundschule, die ich besuchte. Der Schulkomplex umfasste drei verschiedene Höfe, die durch Maschendrahtzäune getrennt waren. Da gab es einen Jungen, dessen Name ich nicht kannte, der aber dafür meinen wusste. Aus sicherer Entfernung rief er mir, kaum dass er mich erblickt hatte, von der anderen Seite des Zauns hinterher: „Stanley, das einohrige Monster! Stanley, das einohrige Monster!“

Ich hatte keine Ahnung, woher mich dieser Junge kannte. Alles, was mir durch den Kopf schoss, war: Warum tust du mir das an? Du tust mir weh. Wirklich, wirklich weh.

Er war ein normaler, unauffälliger Schüler in meinem Alter und hatte braune Haare. Außerdem hätte ich ihn, wenn ich ihn in die Finger bekam, leicht verhauen können, da er nicht besonders groß war. Aber er blieb stets außerhalb meiner Reichweite auf der anderen Seite des Zauns oder auf der anderen Seite des Schulhofs, von wo er leicht in die nahe gelegenen Wohnblocks entkommen konnte, bevor ich ihn mir hätte vorknöpfen können.

Wenn ich diesen Jungen nur drankriegen könnte.

Aber eines Tages schnappte ich ihn tatsächlich. Ich hörte ihn wieder einmal rufen: „Stanley, das einohrige Monster!“ So wie immer eben. Zuerst zuckte ich zusammen. Die Stimme in meinem Kopf bettelte: Hör doch endlich auf damit! Alle können dich hören! Deinetwegen starren sie mich jetzt alle an!

Und so wie immer gab es kein Entrinnen vor den Blicken.

Aber dieses Mal war ich schneller als er und griff ihn mir. Er hatte eine Scheißangst. „Schlag mich nicht!“, heulte er. Er sah aus wie ein verängstigtes Kaninchen.

„Dann hör endlich auf damit!“, sagte ich ihm, während ich ihn festhielt. Ich schlug ihn nicht. Als ich ihn so sah, wollte ich nicht mehr. Ich hoffte, dass er mich in Ruhe lassen würde, wenn ich ihn verschonte. Also ließ ich ihn ziehen. Er war kaum 30 Meter von mir entfernt, da drehte er sich zu mir um und krakeelte erneut: „Stanley, das einohrige Monster!“

Warum?

Warum tust du mir das bloß an?

Warum nur?

Obwohl ich nicht in der Lage war, es in Worte zu fassen, fühlte ich mich unfassbar verwundbar und nackt, unfähig, mich vor den Blicken und den Hänseleien, die überall auf mich lauerten, zu schützen. Und so entwickelte ich schon früh ein explosives Gemüt.

Statt meine Ausbrüche als Hilferuf zu interpretieren, reagierten meine Eltern mit Drohungen. „Wenn du damit nicht aufhörst“, sagten sie in drohendem Ton, „schicken wir dich zum Psychiater.“ Ich hatte zwar keine Ahnung, wer oder was ein Psychiater war, aber es hörte sich bedrohlich an, nach einer diabolischen Bestrafung. Ich stellte mir vor, dass ich in ein Krankenhaus verfrachtet würde, wo man mich einer qualvollen Behandlung unterzöge.

Nicht, dass ich mich zu Hause jetzt besonders behütet gefühlt hätte: Meine Eltern gingen regelmäßig aus und ließen mich und meine Schwester Julia, die nur zwei Jahre älter als ich war, alleine zurück. „Macht bloß niemandem die Tür auf“, war alles, was sie uns rieten. Dann waren meine achtjährige Schwester und ich mit meinen sechs Jahren auf uns gestellt. Wir hatten eine solche Angst, dass wir mit Messern und Hämmern unter unseren Kissen zu Bett gingen. Am nächsten Morgen standen wir früh genug auf, um unsere Waffen wieder an ihre angestammten Aufbewahrungsorte zurückzuschmuggeln, um nicht von unseren Eltern angeschrien zu werden.

Ich teilte mir mit Julia ein kleines Zimmer. Meine Eltern schliefen auf einer ausziehbaren Couch im Wohnzimmer. Julia hatte schon sehr früh mentale Probleme. Meine Mutter sagte, dass sie schon immer „anders“ gewesen sei, sogar schon als Baby. Sie war wild und gewalttätig. Sie machte mir Angst, und während meine eigenen Probleme sich verschlimmerten, trug ich mich mit der Sorge, dass ich genau wie sie werden könnte.

Meine Eltern waren mir da keine große Hilfe, aber andererseits unterstützten sie sich auch gegenseitig nicht besonders. Meine Mom – sie hieß Eva – war sehr dominant, und mein Dad – William – nahm ihr das übel. Sie präsentierte sich gerne als stark und ihn als unterwürfig. Sie sah sich als die Klügere von beiden, aber eigentlich war es eher mein Dad, der sehr gescheit und belesen war.

Er hatte bereits mit sechzehn die Highschool abgeschlossen, und unter anderen Umständen wäre er womöglich aufs College gegangen. Jedoch bestand seine Familie darauf, dass er arbeiten ging, um Geld nach Hause zu bringen – was er dann auch tat. Als ich schließlich zur Welt kam, arbeitete mein Dad Vollzeit als Büromöbelverkäufer. Notgedrungen akzeptierte er diesen Job, aber er mochte ihn nie besonders.

Meine Mutter blieb nach meiner Geburt als Hausfrau daheim; vorher war sie als Krankenschwester und als Hilfslehrerin an einer Sonderschule tätig gewesen. Später arbeitete sie dann in einer Einlösestelle, wo Leute sich irgendwelche Sachen abholen konnten, nachdem sie Heftchen mit Stempelmarken gefüllt hatten, die in verschiedenen Läden für Kundentreue ausgegeben wurden.

Die Familie meiner Mutter war vor den Nazis aus Berlin zuerst nach Amsterdam geflüchtet. Sie hatten alles zurücklassen müssen. Meine Großmutter hatte sich von ihrem Mann scheiden lassen, was damals eher selten war. Nachdem sie erneut geheiratet hatte, zogen sie nach New York. Familienmitglieder meiner Mutter waren anderen Menschen gegenüber sehr herablassend. So waren sie sich nicht zu blöd, sich über meine Haare oder meine Klamotten lustig zu machen. Ich fand bald heraus, dass es für diese Arroganz und Selbstgerechtigkeit überhaupt keine Grundlage gab. Sie waren nicht erfolgreich, einfach nur respektlos. Wenn du nicht einer Meinung mit meiner Mutter warst, dann sagte sie einfach nur: „Oh, ich bitte dich“, was sie mit verachtungsvollem Ton ausstieß, um dir klarzumachen, dass deine Meinung nicht im Geringsten zählte.

 

Die Eltern meines Vaters stammten aus Polen. Er war das jüngste von vier Kindern. Mein Dad erzählte mir, dass sein ältester Bruder – Jack – als Buchmacher arbeitete und Alkoholiker war. Sein anderer Bruder – Joe – litt immer schon unter unkontrollierbaren manischen Stimmungsschwankungen, die ihn sein ganzes Leben lang stark einschränkten. Außerdem hatte Dad noch eine Schwester namens Monica, die anscheinend dem Druck ihrer Mutter nachgab, nicht das heimische Nest zu verlassen, und ihr Leben lang unverheiratet blieb. Schon als Kind fand ich diese Erwartungshaltung meiner Großmutter ziemlich selbstsüchtig. Mein Dad erzählte mir auch von einer schwierigen und unglücklichen Kindheit. Er verabscheute seinen Vater, der schon vor meiner Geburt verstorben war.

Meine Eltern waren keine glücklichen Menschen. Ich weiß nicht, worauf ihre Ehe beruhte, außer dem, was später als Co-Abhängigkeit bezeichnet werden sollte. Es gab keine Wärme oder Zuneigung bei uns. Freitag war meist der schlimmste Tag der Woche. Mein Vater regte sich auf, und das Resultat war unvermeidlich: Meine Eltern zerstritten sich und daraufhin sprach mein Vater dann das ganze Wochenende kein Wort mit meiner Mutter. Wenn man sich eine Stunde lang so benimmt, ist das schon kindisch, aber es ist echt verrückt, seine eigenen Eltern tagelang so zu sehen.

Zusätzlich zu den Problemen, die sie selbst miteinander hatten, beschäftigte meine Eltern auch noch meine Schwester, die jahrelang zwischen Nervenheilanstalten und zu Hause pendelte. Da ich als das gute Kind galt, bekam ich immer weniger Aufmerksamkeit von meinen Eltern. Das gute Kind zu sein hieß in meinem Fall nicht, gelobt zu werden – es bedeutete, dass ich ignoriert wurde. Deshalb ließ man mich so ziemlich alles tun, was ich wollte. Das gab mir nicht wirklich ein Gefühl von Sicherheit. Sicherheit kommt von Grenzen und Regeln – ohne solche fühlte ich mich verloren, ungeschützt und verletzlich. Ich wollte keine meiner Freiheiten und genoss sie nicht. Eigentlich war genau das Gegenteil der Fall: Ich war fast wie gelähmt vor Angst, weil niemand da war, um mir zu sagen, dass ich mich in Sicherheit befand.

Ich war sehr oft allein. Jeder neue Tag brachte Unsicherheit mit sich, als würde ich mich ohne Fangnetz über einem Abgrund bewegen. Jedes Mal hieß es, dass ich mich einer Welt stellen musste – für die ich mich aber unzureichend gerüstet fühlte. Und ich musste mir große Mühe geben, die unausgesprochenen Botschaften, die ich zu Hause erhielt, zu dechiffrieren.

In der Musik fand ich meine Zuflucht.

Musik war eines der wenigen großartigen Geschenke, das ich von meinen Eltern erhielt – dafür werde ich ihnen auch immer dankbar sein. Sie gaben mir zwar oft das Gefühl, wie ein Schiffbrüchiger zu treiben, aber trotzdem warfen sie mir – ohne es zu wissen – ein Rettungsseil zu. Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal Beethovens 5. Klavierkonzert in Es-Dur hörte. Ich war fünf Jahre alt und war total von den Socken. Meine Eltern machten Kunst und Kultur zu einem natürlichen Bestandteil unseres Lebens. Sie liebten klassische Musik. Sie hatten eine große hölzerne Musiktruhe von Harman/Kardon und lauschten am liebsten den Klängen von Komponisten wie Sibelius, Schumann oder Mozart. Aber es war vor allem Beethoven, der mich in Staunen versetzte.

An den Wochenenden hörte ich mit meiner Mom Live from the Met auf WQXR, eine Tradition, die sich auch fortsetzen sollte, als ich älter wurde. Sobald ich begann, Radio zu hören, entdeckte ich auch den Rock ’n’ Roll. Egal, ob Eddie Cochran, Little Richard oder Dion & The Belmonts – es war reinste Magie. Sie sangen über das Leben der Teenager, von dem ich sogleich zu träumen anfing. All diese Oden an eine idyllisch verklärte Vorstellung von Jugendlichkeit berührten mich sehr. Sie erfüllten mich mit Vorfreude auf meine eigene Zeit als Teenager und transportierten mich an einen wunderbaren Ort, an dem die größten Sorgen den Beziehungen und der Liebe galten. Mensch, was für ein perfektes Leben diese jungen Leute haben mussten!

Eines Nachmittags ging ich mit meiner Großmutter spazieren. Wir überquerten die Brücke in die Bronx, wo ein Schallplattenladen lag. Wir gingen hinein und meine Großmutter spendierte mir meine allererste Schallplatte, eine Shellack-Single, die auf 78 Umdrehungen in der Minute lief: „All I Have to Do Is Dream“ von den Everly Brothers.

When I want you to hold me tight …

Während die meisten anderen Kinder durch die Nachbarschaft tollten und Cowboy und Indianer spielten, saß ich drinnen und hörte wie besessen Sachen wie „A Teenager in Love“ und „Why Do Fools Fall in Love“. Eine Zeit lang wurden viele alte Standards in Doo-Wop-Versionen neu eingesungen und ich war richtig genervt, wenn meine Mom einen davon in der Wohnung vor sich hin trällerte. „So geht der nicht, Mom! Hör zu, der geht so …“ Dann sang ich etwa den „dip da dip dip dip“-Teil aus „Blue Moon“, einem Klassiker aus den Dreißigerjahren, in der Version der Marcels. Manchmal gab sie sich respektlos gegenüber dem neumodischen Kram, doch zumeist fand sie es einfach nur amüsant.

Und dann sah ich schließlich auch einige der Sänger und Bands, die mir so gefielen, mit eigenen Augen.

Der berühmte Rock-’n’-Roll-DJ Alan Freed begann ungefähr gleichzeitig mit Dick Clarks neuer landesweit ausgestrahlten Sendung American Bandstand im Fernsehen aufzutreten. Die Wildheit und die Gefahr, die etwa ein Jerry Lee Lewis ausstrahlte, ließen mich alles andere als kalt – zum Beispiel, wenn er seinen Piano-Schemel wegtrat und seine Haare mit einer Kopfbewegung herumschleuderte. Was allerdings doch an mir vorbeiging, war die Sexualität der Musik. Das war auch nicht sonderlich überraschend angesichts dessen, was ich von zu Hause kannte. Die romantische Fantasie, die mir vorschwebte, war rein und steril, und sogar als ich älter wurde, behielt ich diesen Blick auf die Welt bei. Es sollten noch viele, viele Jahre vergehen, bis ich begriff, wovon ein Song wie „Will You Still Love Me Tomorrow“ von den Shirelles tatsächlich handelte.

Und trotzdem waren all diese Leute cool. Sie waren cool, weil sie sangen. Sie waren auch deswegen cool, weil ihnen andere ihre Aufmerksamkeit schenkten und ihnen zujubelten. In Form ihres Publikums hatten diese Musiker alles, nach dem ich mich als kleiner Junge verzehrte.

Bewunderung. Wow!

Außer uns lebten noch ein paar andere jüdische Einwandererfamilien im Norden Manhattans, aber die Gegend war überwiegend irisch geprägt. Unsere unmittelbaren Nachbarn waren zwei liebenswürdige katholische Schwestern namens Mary und Helen Hunt, die beide nie geheiratet hatten. Sie wurden zu so etwas wie Großmütter oder Tanten für mich. Als mein Zwang, es meinen neuen Idolen gleichzutun, stärker wurde, ging ich regelmäßig zu ihnen rüber in ihr Apartment, um für die beiden zu singen und zu tanzen. Sobald ich irgendeinen Song gelernt hatte, klopfte ich bei ihnen und trug ihn vor, während ich mich selbst mit einer kleinen Choreografie begleitete, was hieß, dass ich zumeist von einem auf das andere Bein hüpfte.

Wenn ich sang, milderte es vorübergehend meine Zweifel und meinen Schmerz.

Es fühlte sich einfach so richtig an.


Es war einmal … Paul „Starchild“ Stanley als Baby.


Meine Schwester, mein Dad und ich im Inwood Hill Park in der Nähe unseres Apartments, Uptown Manhattan, 1952.


Mit Mom und Dad im Lake Mohegan, New York.


Oberste Reihe, dritter von links: Meine Baseballspieler-Pose auf dem Klassenfoto der ersten Klasse. PS 98, 1958.


Kurz bevor ich mit acht in die dritte Klasse kam, übersiedelte meine Familie von Manhattan in ein jüdisches Arbeiter-Wohngebiet am hinteren Ende von Queens. So etwas hatte ich noch nie gesehen – Bäume umrandeten den Block und wuchsen direkt aus dem Gehsteig heraus. Und gegenüber an der Straße lag eine Baumschule, die einen ganzen Block einnahm. Anfangs dachte ich, dass da ein Förster herumstreifen müsste. Oder Lassie.

Die meisten Erwachsenen aus der Gegend fuhren zum Arbeiten nach Manhattan, aber dennoch funktionierte die Nachbarschaft wie in einer Kleinstadt mitten im Nirgendwo. Auf einer Länge von nur ein paar Blocks, die von Bäumen gesäumt waren, befanden sich eine Bücherei, ein Postamt, ein Metzger, eine Bäckerei, ein Schuhgeschäft, ein Lebensmittelmarkt, ein Spielzeugladen, ein Haushalts- und Eisenwarengeschäft, eine Pizzeria und ein Eissalon. Allerdings fiel mir auf, dass etwas fehlte: ein Plattenladen.

Die meisten Gebäude waren zweigeschossig. Manche waren als Doppelhäuser gebaut, andere – so wie unseres – waren in vier Apartments unterteilt, wovon sich zwei im Parterre (mitsamt straßenseitigem Garten) und zwei im ersten Stock befanden. Ich teilte mir immer noch ein Zimmer mit meiner Schwester Julia, aber meine Eltern hatten nun endlich ihr eigenes Schlafzimmer. Es lebten auch viele Kinder in der Gegend.

Meine neue Schule war die PS 164. In den Schulbänken saßen jeweils zwei Kinder. Ich betete darum, dass mich die Lehrer auf die rechte Seite des Pults setzen würden, damit meine Banknachbarn mein linkes Ohr – mein gutes – zu Gesicht bekämen. Ich wollte nicht, dass jemand das, was ich für meine schlechte Seite hielt, sehen konnte – mal ganz abgesehen davon, dass ich niemanden hören konnte, der mich von meiner gehörlosen Seite ansprach.

Irgendwann während des ersten Schultags rief mich eine Lehrerin namens Mrs. Sondike zum Lehrerpult, um mein Ohr zu begutachten.

Oh Gott, bitte tun Sie das nicht.

„Lass mich einen Blick auf dein Ohr werfen“, sagte sie.

Nein, nein, nein!

Sie nahm mich in Augenschein wie ein wissenschaftliches Präparat.

Es war mein schlimmster Albtraum. Ich war wie versteinert. Völlig am Boden zerstört.

Was soll ich bloß machen?

Voller Verzweiflung wollte ich meinen Mund aufmachen und sagen: „Tun sie das nicht.“ Aber ich blieb stumm. Ich atmete tief ein und wartete darauf, dass es vorbei war.

Wenn ich es ignoriere, dann existiert es nicht. Behalte deinen Schmerz für dich!

Kurze Zeit nach diesem Vorfall ging ich mit meinem Vater spazieren.

„Dad, findest du, dass ich gut aussehe?“

Er wirkte überrascht. Er blieb stehen und senkte seinen Blick.

„Nun“, sagte er, „du siehst nicht übel aus.“

Danke.

Zehn Punkte für meinen Dad! Das war genau die Art Aufmunterung, die ein hoffnungslos verunsicherter junger Einzelgänger wie ich nötig hatte. Leider wurde das zur Norm bei meinen Eltern.

Ich fing an, eine Mauer um mich herum hochzuziehen. Ich stieß die Kinder vorsorglich von mir weg. Ich fing an, mich wie ein Klugscheißer oder Clown aufzuführen, bis letztlich niemand mehr gerne in meiner Nähe war. Ich wünschte mir einerseits, nicht immer alleine zu sein, aber andererseits tat ich Dinge, die die Leute von mir fernhielten. Mein innerer Konflikt war mitunter qualvoll. Ich war hilflos. Viele andere Kinder aus der Nachbarschaft besuchten gemeinsam den Hebräischunterricht, was ihre Freundschaften aus der Schule 164 vertiefte bzw. zu neuen Bekanntschaften abseits der Schule führte. In meiner Familie zündeten wir Kerzen an und feierten oberflächlich jüdische Feiertage, aber sehr religiös waren wir nicht. Ich hatte auch keine Bar-Mizwa. Aber der Grund, warum ich nicht dorthin ging, hatte nichts mit alldem zu tun. Ich sagte meinen Eltern ganz einfach, dass ich keine Lust darauf hatte. Allerdings klärte ich sie nicht über das Warum auf: Klar, ich fühlte mich schon als Jude, aber ich wollte nicht noch mehr Leuten ausgesetzt sein. Das Leben war auch so schon trist genug, da musste ich mich nicht noch in zusätzliche Situationen bringen, in denen ich durch die Angst vor Demütigung wie gelähmt gewesen wäre.

 

Okay, die Schule ist um drei vorbei. Wie wärs denn mit einer Zugabe um halb vier mit ein paar anderen Kindern? Großartig.

Die Schule hatte einen Glee-Club, eine Art Schulchor, der mich interessierte. Eine Chance zu singen! Jedes Jahr studierte man dort ein Musical ein, und jeder durfte für eine Rolle vorsingen. Gleich im ersten Jahr entschloss ich mich, mein Glück zu versuchen. Als ich an der Reihe war, ging ich auf die Bühne, die sie im Schulsaal hatten, und öffnete den Mund, um vor all den anderen Leuten meine Stimme ertönen zu lassen. Jedoch war alles, was herauskam, ein schwaches Piepsen. So landete ich schließlich, statt eine eigene Rolle zu bekommen, im Chor – als einer der Matrosen in HMS Pinafore oder was auch immer. Ich bewarb mich jedes Jahr für eine Rolle in einer dieser Inszenierungen, aber jedes Mal blieb mir beim Vorsingen die Stimme im Hals stecken – ein kleines Stimmchen war alles, was ich hervorbrachte. Also sang ich jedes Mal im Chor, obwohl ich wusste, dass ich die meisten der anderen Schüler, die sich die Hauptrollen sicherten, hätte an die Wand singen können.

Auch Pfadfinder gab es an meiner Schule. Nachdem ich ein paar meiner Mitschüler in ihren blauen Uniformen gesehen hatte, dachte ich darüber nach, mich ihnen anzuschließen, und als ein neuer Freund namens Harold Schiff ebenfalls in Uniform aufkreuzte, nahm ich sein Angebot an, ihn auf eines der Treffen zu begleiten. Harold gehörte zu den Mainstream-Kids, freundete sich aber auch mit ein paar Außenseitern wie mir an. Und er verstand sich gut mit einigen anderen Jungs aus der Pfadfindergruppe. So etwa mit Eric London, der mit ihm gemeinsam im Schulorchester spielte, oder mit Jay Singer, der Klavier lernte. Ich hatte Eric und Jay zwar im Glee-Club kennengelernt, aber ihre Freundschaft mit Harold basierte hauptsächlich auf dem gemeinsamen Besuch des Hebräischunterrichts. Ich blieb lieber für mich. Auch wenn ich mal wo mitmachte, hielt ich mich eher am Rande des Geschehens auf.

Jeder bei den Pfadfindern war hinter Leistungsabzeichen her. Es gab zum Beispiel welche für Fertigkeiten im Knotenbinden oder dafür, alten Ladys über die Straße zu helfen. Mir war das eigentlich scheißegal. Mich interessierte nur das Camping. Und das machten wir auch immer wieder an den Wochenenden. Ich hatte aber stets ein Problem, wenn ich bei Wanderungen die anderen aus den Augen verlor. So fand ich heraus, dass man keinen Orientierungssinn hat, wenn man halbseitig taub ist. Ich erinnere mich, dass ich auf einer Lichtung stand und jemanden rufen hörte: „Wir sind hier drüben!“ Ich hatte null Ahnung, woher die Stimme gekommen war. Ohne die Fähigkeit, die Herkunft von Geräuschen zu peilen, war das unmöglich. Ich fühlte mich ausgeliefert, da ich nicht wusste, wo ich war. Wieder einmal fühlte ich mich verloren.

Mein Instinkt sagte mir, ich müsste mich an meine Eltern halten, aber immer, wenn ich von so einer Situation zu ihnen kam und nach Sicherheit suchte, ließen sie mich wieder hängen. „Ignoriere es, dann wird schon alles gut“, blieb das Credo unseres Haushalts. Die alte Leier. Ich hätte mich über etwas mehr Rückendeckung anstelle von Haue gefreut, aber da war einfach nichts zu machen. Meine Eltern weigerten sich standhaft, meine Probleme wahrzunehmen, obwohl sie nicht von der Hand zu weisen waren. Ich schlafwandelte zu Hause. Manchmal kam ich dann in der Nacht zu mir und realisierte, dass ich im Wohnzimmer stand. Manchmal bekam ich auch mit, wie mich meine Eltern zurück in mein Zimmer führten. Sie wussten Bescheid, wollten es aber nicht wahrhaben, und was wirklich schieflief, wollten sie gar nicht wissen.

Ich hatte auch zwei wiederkehrende Albträume. In einem davon war es stockfinster und ich befand mich auf einem Schwimmdock auf einer riesigen Wasserfläche, weit von jeder Küste entfernt. Ich war gestrandet und ganz allein. Schließlich schrie ich um Hilfe. Nacht für Nacht. Ich wachte dann schreiend in meinem Bett auf.

Im zweiten Albtraum saß ich auf der Fahrerseite eines Autos, das einen dunklen, leeren Highway entlang schoss. Das Gefährt hatte kein Lenkrad. Ich versuchte es durch Gewichtsverlagerung zu manövrieren, aber hatte letztlich keine Chance, es unter Kontrolle zu bringen.

Jede Nacht weckten mich diese Albträume ruckartig, sodass ich schrie, verwirrt und zu Tode erschrocken war.

Auch der Zustand meiner Schwester verschlechterte sich zusehends. Als ich in die Junior-High kam, wurde Julias Verhalten immer selbstzerstörerischer. Meine Eltern begannen, sie vorübergehend in staatliche Heilanstalten zu geben. Nachdem das wenig Wirkung zeigte, gaben sie ein Vermögen für eine teure psychiatrische Privatklinik aus. Wenn sie zu Hause war, büxte sie oft aus und meine Eltern verbrachten ihre Tage damit, sie zu suchen. Ab und an wachte ich morgens auf und sah, dass meine Eltern wieder einmal keinen Schlaf gefunden hatten. Ich wunderte mich dann: Wird sie das alles noch umbringen?

Julia hing zumeist im East Village ab, schlief in den Wohnungen diverser Leute und nahm Drogen und Medikamente. Als sie einmal wieder bei uns war, klaute sie die Silberdollars, die meine Mutter in einer Schublade gesammelt hatte, um sich Medikamente zu besorgen. Ich weiß mittlerweile, dass das, was sie tat, Selbstmedikation heißt, aber damals durchblickte ich das Ganze nicht wirklich. Wenn sie weg war, war sie weg. Und wenn sie da war, hatte ich Schiss vor ihr.

An einem Nachmittag holten meine Eltern Julia von einer Einrichtung ab, wo man sie einer Elektroschock-Therapie unterzogen hatte – und ließen mich mit ihr allein. Sie lieferten sie einfach bei uns ab und ließen mich mit dieser Spinnerin von Schwester, die gerade einmal ein paar Stunden aus der Nervenheilanstalt draußen war, alleine zurück! Während sie weg waren, wurde Julia sauer und jagte mich mit einem Hammer bewaffnet durch die Wohnung. Ich hatte eine Heidenangst.

O Gott, kommt doch endlich zurück.

Dann hörte ich einen Mordskrach. Julia schwang den Hammer wie wild gegen die Tür und ließ nicht mehr locker.

Bäng! Bäng! Bäng!

Sie hämmerte mit voller Kraft, bis das Holz nachgab und splitterte. Dann hörte sie plötzlich auf. Der Hammer war im Holz steckengeblieben, und auf einmal herrschte Stille. Ich kauerte mich zusammen und zählte die Minuten und Stunden.

Werden sie kommen, bevor es wieder losgeht?

Dann kamen sie endlich.

„Was ist denn hier passiert?“, fragten sie. Ich erklärte ihnen, dass Julia mich mit einem Hammer verfolgt hatte. Aber nun fuhren sie mich an, als ob es meine Schuld gewesen wäre. Zuerst schrien sie mich an, dann schlugen sie mich. Ich hatte solche Angst gehabt, und nun kannte ich mich überhaupt nicht mehr aus.

Ihr habt mich mit ihr allein gelassen! Das war eure Entscheidung, nicht meine! Sie hat versucht, mich umzubringen!

Auch die Schule war weiterhin eine Herausforderung. Noch in der Grundschule wurde ich in den Begabtenzweig geschickt, und auch in der Junior-High landete ich wieder in der Begabtenklasse.

Ich hätte das nicht auf Grundlage meiner Noten geschafft, da ich kein sehr guter Schüler war, jedoch öffnete mir eine Art Intelligenztest die Tür in diese Klasse. Obwohl mein IQ es rechtfertigte, dass ich die Begabtenklasse besuchte, war ich einer der schlechteren Schüler dieses Zweigs. Ich denke, alle wunderten sich über mich und dachten, dass ich nicht lernen wollte. Was allen verborgen blieb, war, dass mein Gehör einen schrecklichen Nachteil für mich darstellte. Vieles konnte ich einfach gar nicht wahrnehmen. Und wenn ich erst einmal einen Satz überhört hatte, kannte ich mich nicht mehr aus. Sobald ich den roten Faden verloren hatte, gab ich auf.

Bei Elternabenden erzählten meine Lehrer meinen Eltern stets dasselbe: „Er ist intelligent, aber er bringt sich nicht ein“, oder „Er hat Köpfchen, aber er schöpft sein Potenzial nicht aus.“ Kein Lehrer sagte jemals: „Er ist ein aufgeweckter Junge, aber er kann nicht verstehen, was ich sage.“

Damals blieben derartige Einschränkungen einfach unbemerkt.

Andererseits: Meine Eltern wussten, dass ich auf einer Seite taub war – und trotzdem kamen sie nach jedem Elternabend nach Hause und rügten mich: „Gott hat dir dieses wundervolle Gehirn geschenkt und du benutzt es nicht.“