Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945

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Die Schlußsitzung spielte sich in einer unvergeßlichen Atmosphäre der Hoffnung und des guten Einvernehmens ab. „Es gibt von jetzt ab weder Sieger noch Besiegte“, hatte Chamberlain schon am Vortage auf einem Pressefrühstück erklärt, und dieser Gedanke war das Leitmotiv der kurzen Schlußreden, die damals gehalten wurden.

„Mit Locarno muß eine neue Epoche anfangen, sonst ist es eine leere Geste gewesen“, erklärte Briand. „Weder Sieger noch Besiegte“, wiederholte Chamberlain. „Wir haben die Verantwortung für dieParaphierung der Verträge übernommen, weil wir glauben, daß nur auf dem Wege friedlichen Nebeneinanderlebens der Völker jene Entwicklung gesichert werden kann, die für keinen Erdteil so wichtig ist wie für das große europäische Kulturland“, hatte Stresemann ausgerufen. „Locarno ist nicht das Ende, sondern der Anfang einer Periode vertrauensvoller Zusammenarbeit“, hatte Chamberlain noch einmal zum Schluß nach der Paraphierung unter dem brausenden Beifall aller Anwesenden verkündet.

Durch die an dem warmen Oktoberabend weit geöffneten Fenster des kleinen Saales drang der Beifall auf den Vorplatz hinaus, auf dem sich schon seit Stunden eine erwartungsvolle, dicht gedrängte Menge versammelt hatte. Sie nahm ihn auf, und bald wurde im Saal jede Unterhaltung durch das brausende Rufen und Beifallsklatschen unmöglich gemacht, das von draußen hereindrang. Im selben Augenblick begannen die Glocken von Madonna del Sasso zu läuten und am Ufer des Sees stiegen die ersten Raketen eines großartigen Friedensfeuerwerkes auf. Stürmisch verlangte die Menge die Delegierten zu sehen. Luther, Stresemann, Briand und Chamberlain traten auf den schmalen Balkon. Der Beifall wuchs zum Orkan.

Ich konnte die ganze Szene von einem anderen Fenster des Saales aus gut überblicken. Gleichzeitig bemerkte ich auch, daß sich die Vertreter der kleineren Mächte, wie von einem Magnet angezogen, möglichst unauffällig auf die Balkontür zu bewegten, um sich auch ihrerseits der jubelnden Menge zeigen zu können. Mit der unbekümmertsten Miene der Welt gingen sie im Gespräch mit anderen Konferenzteilnehmern, die offensichtlich dasselbe Ziel verfolgten, langsam, wie zufallig, auf den Balkon zu, um dann dicht vor dem Ziel den Gesprächspartner unvermittelt stehen zu lassen und mit einem strahlenden Siegerlächeln auf den Balkon hinauszustürzen.

Nachdem auf diese Weise auch die „Kleinen“ zu ihrem Recht gekommen waren, fand im Saal die allgemeine Verabschiedung statt, und unsere Delegation verließ das Haus. Als wir mit Stresemann und Luther die wenigen Stufen der kleinen Freitreppe hinabstiegen, brauste der Beifall der Menge erneut auf. Dann wurde es plötzlich ganz still. Alle Männer nahmen den Hut ab und bildeten ein schweigendes, ergriffenes Spalier, durch das wir, tief beeindruckt, zu unseren Wagen gingen, um ins Esplanade zurückzufahren.

Aus dem sonnigen Süden kehrten wir zurück in den kalten Norden. Hier war der Bahnhof wieder abgesperrt, aber nicht wegen jubelnder Menschenmengen. Die Deutschnationalen hatten in ihrer großen Presse Sturm gegen das Abkommen gelaufen. Wir hatten schon im Zuge ihre wütenden Angriffe gegen Luther, vor allem aber gegen Stresemann in den Zeitungen lesen können. Wieder verbreitete sich die Attentatsfurcht in der Delegation, und die Namen Rathenau und Erzberger tauchten wieder in den Gesprächen auf. Auf dem Potsdamer Bahnhof erwartete uns das Diplomatische Corps, und der englische Botschafter Lord D’Abernon richtete im Auftrage Chamberlains an Luther und Stresemann folgende Worte: „Ich bin ausdrücklich von Herrn Chamberlain beauftragt, Sie zum Erfolg der Konferenz in Locarno zu beglückwünschen … Der deutschen Regierung wird immer die Ehre bleiben, die Initiative ergriffen zu haben, welche zum Vertrag von Locarno geführt hat.“

In den nächsten Wochen wurde der Vertrag dann trotz der Obstruktion der Deutschnationalen, die ihre Minister aus dem Kabinett zurückzogen und Stresemann wüst beschimpften, vom Reichstag angenommen und fand bei der großen Mehrheit des deutschen Volkes aufrichtige Zustimmung. Allenthalben herrschte das Gefühl, welches durch die Haltung des offiziellen und inoffiziellen Auslandes noch bestätigt wurde, daß Deutschland nunmehr wieder als moralisch Gleichberechtigter in den Kreis der europäischen Nationen aufgenommen worden war. Jeder, der wie ich, viel im Auslande zu tun hatte, merkte im Kleinen wie im Großen diesen Stimmungsumschwung fast täglich. Es war tatsächlich ein neuer Geist auch im persönlichen Verkehr mit den Ausländern eingezogen, und in dieser Beziehung war der später sooft bespöttelte „Geist von Locarno“ durchaus eine Realität.

Auch auf dem Gebiete der Politik hat er, wenn auch für die begreiflicherweise ungeduldigen Deutschen nicht immer schnell genug, seine Wirkung getan. Ich habe das persönlich auf den Konferenzen und Besprechungen der folgenden Jahre sehr genau miterlebt. Wenn man sich heute die Kritik vergegenwärtigt, welche damals die Rechtsparteien an Locarno und an Stresemann übten, und damit die Ergebnisse vergleicht, die Jahr um Jahr durch den Geist dieses Vertrages erzielt wurden und schließlich dazu führten, daß das gesamte besetzte Gebiet fünf Jahre vor der festgesetzten Zeit von der Besatzung befreit wurde, dann kann man über den Kleinmut und die Kurzsichtigkeit der damaligen Opposition eigentlich nur lächeln.

Sein Ende fand Locarno an jenem 7. März 1936, an dem Hitler in selbstherrlicher Unkenntnis der psychologischen Realitäten durch seinen Einmarsch in die entmilitarisierte Zone das Rheinland zum zweiten Male „befreite“ und damit ein weiteres Glied an die Kette jener Uber-raschungsaktionen fügte, die letzten Endes zu einer erneuten Besetzung, diesmal des ganzen Reichsgebietes, durch die vier Alliierten des Zweiten Weltkrieges geführt haben. In dieser „Befreiungsaktion“ wurde er zum Unglück der beiden Vertragspartner von Locarno, Deutschland und Frankreich, zum Unglück Europas und der ganzen Welt, unterstützt durch die Haltung derselben Mächte, die damals im Rathaus von Locarno ihre Unterschrift unter einen Vertrag setzten, der das gewaltsame Vorgehen eines Friedensstörers wie Hitler unmöglich machen sollte.

Unbegreiflich wie an jenem schwarzen Tage im März 1936 ist mir auch heute noch die Passivität Frankreichs und Englands, denen auf Grund der am Lago Maggiore getroffenen Regelung sehr wohl die Möglichkeit gegeben gewesen wäre, durch ein sofortiges Einschreiten der Tollkühnheit des „Staatsmannes“ Hitler einen energischen Riegel vorzuschieben und damit dem Lauf der Geschichte eine andere Richtung zu geben. Hitler selbst hat in meiner Gegenwart einmal erklärt, daß die 24 Stunden nach dem Einmarsch in das Rheinland zu den aufregendsten seines ganzen Lebens gehort hätten. „Wären die Franzosen damals nach Deutschland eingerückt, so wie ich es während dieser 24 Stunden für möglich hielt, dann hätte ich mich mit Schimpf und Schande wieder zurückziehen müssen.“ Ich kann mir keinen stärkeren Beweis für die friedensichernden Qualitäten der Vertragsbestimmungen von Locarno vorstellen als diesen Ausspruch des deutschen Diktators.

Derselbe Botschaftsrat Forster, der am 9. Februar 1924 das von mir übersetzte Locarno-Memorandum Herriot überreicht hatte, vertrat übrigens in einem Bericht, zu dem er kurz vor der geplanten Aktion Hitlers vorsorglich aufgefordert worden war, von Paris aus die Auffassung, daß die Franzosen marschieren würden. Er wurde selbstverständlich sofort danach kaltgestellt, als sich seine Voraussage nicht erfüllte. „Wenn Frankreich nur im geringsten auf seine Sicherheit bedacht ist, dann muß es jetzt unbedingt handeln“, so hatten auch wir damals im Auswärtigen Amt argumentiert. Durch das Ausbleiben der von Vielen erwarteten Folgen der Rheinlandaktion Hitlers stieg dessen Prestige genau so, wie das Ansehen derjenigen sank, welche die Entschlossenheit Frankreichs und Englands falsch eingeschätzt hatten.

5
TRÜBER TAG IN GENF (1926)

„Mit Locarno muß eine neue Epoche anfangen“, hatte Briand im Oktober am Lago Maggiore erklärt. „Locarno ist nicht das Ende, sondern nur der Anfang einer Periode vertrauensvoller Zusammenarbeit“, hatte Chamberlain in der historischen Schlußsitzung ausgerufen. Aber auf die sonnigen Tage von Locarno folgte das trübe, unfreundliche Wetter von Genf, aus der vertrauensvollen Zusammenarbeit der neuen Ära schien wieder das mißtrauenerfüllte Verhältnis der vergangenen Jahre geworden zu sein. Wie auf London, folgte auch auf Locarno ein Wettersturz, der seinen Tiefpunkt im März des folgenden Jahres in Genf erreichte.

Ich war zu dieser Zeit wieder bei der Wirtschaftsdelegation in Paris und erhielt mit einer Plötzlichkeit, die zu meinem nicht geringen Ärger allmählich zur Regel werden sollte, eines Abends ein Telegramm aus Berlin. Diesmal wurde ich nach Genf geschickt. Mir war bekannt, daß im März eine Sondersitzung der Vollversammlung wegen der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund nach Genf einberufen war, aber ich hatte im stillen gehofft, daß man mich wegen meines nicht allzu glänzenden Auftretens in Locarno vielleicht ruhig in Paris lassen würde, wo ich mich bei der Zufriedenheit der beiden Delegationen mit meiner Arbeit und in der angenehmen Atmosphäre der französischen Hauptstadt recht wohl fühlte. Andererseits war ich natürlich nicht für die indirekte Anerkennung unempfindlich, die in meiner Berufung zur Teilnahme an dieser wichtigen außenpolitischen Veranstaltung lag.

So reiste ich denn mit einem lachenden und einem weinenden Auge nach Genf. Mit dem Orientexpreß fuhr ich vom Gare de Lyon ab. „Istamboul“, „Bucuresti”, „Beograd”, „Athènes”, stand es bedeutungsvoll an seinen blauen Schlafwagen. Schon auf dem Bahnsteig schien das Französische vor den fremdartigen, meist slawisch klingenden Lauten der nach Pariser Mode aufgemachten Balkanfahrgäste völlig zurückzutreten. Außer mir war kein Deutscher weit’und breit zu hören und zu sehen.

 

Beim Morgengrauen eines trüben Tages, bei Schnee und Regen und kaltem Wind traf ich fröstelnd am damals weltberühmten Sitz des Völkerbundes ein. Genf präsentierte sich von seiner unfreundlichsten Seite. Welch ein Gegensatz zu meiner letzten Konferenz im Süden! Und genau der gleiche Gegensatz herrschte auch, wie ich sehr bald bemerken sollte, in der politischen Atmosphäre. Dieser trübe Tag .war ein Symbol für den ganzen Verlauf der dortigen Verhandlungen, die sich über zehn Tage hinzogen und mit einer Sensation im Negativen endeten.

Über die Montblanc-Brücke, auf der der Sturm vom Genfer See das Taxi fast umzuwerfen drohte, fuhr ich durch die regennassen Straßen in das Hôtel Métropole, in dem die deutsche Delegation wohnen sollte. Die Herren aus Berlin kamen erst am Abend, so daß ich den ganzen Tag über Zeit hatte, mich in der echt schweizerischen Hotelatmosphäre des großen Hauses wohlzufühlen.

Als Luther und Stresemann dann abends eintrafen, brachten sie gleich die erste Sensation mit. Sie hatten unterwegs ein Telegramm von der deutschen Botschaft in Paris erhalten, wonach Briand von der Kammer gestürzt worden war … Allgemeines Rätselraten, was nun aus der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund werden würde. Würde Briand unter diesen Umständen überhaupt nach Genf kommen? Schon damals sorgten, wie heute, die französischen Kabinettskrisen für Überraschungen in kritischen Augenblicken der internationalen Politik.

Aus Berlin waren übrigens auch Michaelis und Norden mitgekommen, so daß das alte sprachliche Kleeblatt aus London wieder beisammen war. Es wurde mir aber gleich gesagt, daß ich bei den Hauptverhandlungen den Dolmetscher spielen sollte. „Um Gottes willen, werden Sie nicht temperamentvoll“, sagte mir der inzwischen etwas umgänglicher gewordene Staatssekretär von Schubert, „diesmal müssen wir alle darauf sehen, daß wir die Ruhe nicht verlieren.“

Genau das Gegenteil aber trat schon in der ersten Zusammenkunft der Außenminister ein, die sich das letzte Mal so freundschaftlich in Locarno gegenüber gesessen hatten. Kaum wiederzukennen waren die alten Bekannten, die sich am 7. März 1926, einem Sonntag, am frühen Nachmittag in dem großen Salon von Chamberlain im Hôtel Beau Rivage, dem ständigen Sitz der englischen Völkerbundsdelegation, zu einer Vorbesprechung zusammenfanden. Briand war doch noch aus Paris eingetroffen, Vandervelde mit seinem auch diesmal wieder leicht zirpenden Schwerhörigenmikrophon, der alte Scialoja, der wieder schweigsam Italien vertrat, sowie Luther und Stresemann saßen sich an jenem Sonntagnachmittag genau so zwanglos wie im Rathaussaal von Locarno gegenüber. Räumlich waren sie sich zwar nähergerückt, denn es stand kein großer Konferenztisch zwischen ihnen, aber politisch hatten sie sich meilenweit voneinander entfernt.

Was war in der Zwischenzeit geschehen? In Locarno war Deutschland als Großmacht ein ständiger Sitz im Völkerbundsrat zugesichert worden. Deutscherseits hatte man selbstverständlich angenommen, daß es sich dabei um denselben Völkerbundsrat mit der gleichen Zusammensetzung handeln würde, wie er zur Zeit der Locarno-Konferenz bestand. Zu Anfang des Jahres wurde jedoch in der französischen und englischen Presse überraschend von einer Kandidatur Polens für einen ständigen Ratssitz gesprochen. Davon war auf der Locarno-Konferenz weder von Briand noch von Chamberlain auch nur ein Sterbenswörtchen verlautet. Auf deutscher Seite glaubte man zunächst, daß es sich bei den Meldungen über den polnischen Ratssitz um reine Pressemanöver handele. Um so überraschter waren daher Luther und Stresemann, als ihnen kurz vor der Abreise aus Berlin und während der Fahrt im Zuge konkrete Mitteilungen über die Absicht Briands zugingen, tatsächlich für einen ständigen Ratssitz Polens einzutreten.

In der Pressediskussion waren schon seit einigen Tagen allerlei Kombinationen an diese auffallende Anregung geknüpft worden. In Deutschland hatte man natürlich darin sofort einen Schachzug gegen das Reich erblickt, der die Bewegungsmöglichkeit Deutschlands im Völkerbundsrat durch das Hinzutreten Polens einengen sollte.

Die Lage komplizierte sich noch weiter, als aus englischer Quelle bekannt wurde, daß Chamberlain auch Spanien einen ständigen Ratssitz versprochen habe. Darüber hatte sich schon in der englischen Presse eine heftige Kontroverse gegen den britischen Außenminister entwickelt. Gleichzeitig war in Stockholm erklärt worden, daß sich Schweden unter allen Umständen aus grundsätzlichen Erwägungen einer Erweiterung des Völkerbundsrates widersetzen würde. NurDeutschland dürfe aufgenommen werden, so hieß es in der schwedischen Presse. „Der schwedische Außenminister Undén wird gegen Polen und Spanien ein entschiedenes Veto einlegen“, meldete der schwedische Rundfunk.

In dieser reichlich verworrenen Lage begannen die „Freunde“ aus Locarno an jenem Sonntagnachmittag in Genf ihre ganz und gar nicht „freundliche“ Unterhaltung, nachdem die Tee servierenden Kellner das Zimmer verlassen und der Sekretär Chamberlains die Tür zugeriegelt hatte, damit niemand die Aussprache stören konnte. Außer den Staatsmännern waren nur noch Professor Hesnard und ich als Dolmetscher anwesend.

Briand eröffnete das Gespräch in seiner ruhigen, beschwichtigenden Art, wie ich sie aus mancher schwierigen Besprechung von Locarno noch in Erinnerung hatte. Er schien sich von allen Anwesenden am wenigsten verändert zu haben. Während Chamberlain ein zur Wetterlage großartig passendes eisiges Gesicht machte und bewegungslos vor sich hinstarrte, war der französische Außenminister, der nach seinem Sturz dieses Amt nur interimistisch verwaltete, zunächst noch durchaus liebenswürdig. Ich glaubte höchstens eine gewisse Betretenheit bei ihm zu bemerken, als er, sofort auf den Kernpunkt der Schwierigkeiten eingehend, über den polnischen Ratssitz sprach. Ich erfuhr bei dieser Gelegenheit von ihm, daß noch vor Abreise der deutschen Delegation nach Genf die Reichsregierung bei den Großmächten ihre Bedenken gegen eine Ratserweiterung „mit erheblichem Nachdruck“, wie sich Briand ausdrückte, bekanntgegeben hatte, und daß daraufhin erst diese Besprechung auf einen Vorschlag von Chamberlain für Genf in Aussicht genommen worden war.

„Wir haben uns Ihrem Lande gegenüber keinerlei Illoyalität zuschulden kommen lassen, wie es die deutsche Presse behauptet, Herr Stresemann“, erklärte Briand mit zunehmender Heftigkeit und abnehmender Freundlichkeit, „als wir für die Kandidatur Polens eintraten.“ Die Frage der Erweiterung des Rates habe den Völkerbund nicht erst nach Locarno beschäftigt. Sie sei im Gegenteil schon sehr oft in Genf erörtert worden. „Anderen Ländern als Polen gegenüber sind sogar schon seit längerer Zeit feste Versprechungen gemacht worden. Ich meine damit Spanien“, rief er zum Schluß temperamentvoll aus und blickte dabei Chamberlain an, als wolle er sagen, daß dieser und nicht er an dem Durcheinander schuld sei.

Dann sprach Chamberlain. Er benutzte dabei wieder seine Hände in jener etwas ungelenken, nervösen Weise, die mir schon bei gewissen kritischen Situationen in Locarno aufgefallen war. Um einige Grade unfreundlicher als Briand wandte auch er sich gegen die falsche Auslegung, die der Ratserweiterung in der deutschen Presse gegeben würde. „Sie hätten vielleicht Ihre Presse etwas besser unterrichten können“, wandte er sich an Luther, von dem er annahm, daß er sein Französisch besser verstünde als Stresemann, und sprach damit undiplomatisch das aus, was Briand sehr geschickt nur angedeutet hatte, daß nämlich nicht die deutsche Presse, sondern Luther und Stresemann dieses Mißtrauen gegen ihre Partner von Locarno hegten.

Zur Sache selbst konnte auch er weiter nichts sagen, als daß den Vertragspartnern Deutschlands eine „Konspiration“ völlig fern gelegen habe und daß die Frage der Ratserweiterung schon jahrelang im Völkerbund erörtert worden sei. Nach ihm äußerte sich noch der Italiener in demselben Sinne wie Chamberlain und Briand und deutete dabei an, daß auch Italien für die Gewährung eines ständigen Ratssitzes an Polen eintrete.

Nun antwortete zunächst Luther. Er sprach recht gut französisch. In dieser Sprache hatte er sich während seiner Studienzeit in Genf vervollkommnet und hatte sicherlich schon auf der Schule, wie in anderen Fächern, auch darin eine Eins gehabt. Jedenfalls gelang es ihm mit einigen sprachlichen Beihilfen der anderen Gesprächsteilnehmer, den deutschen Standpunkt in aller Klarheit darzulegen.

Wenn man in der Diplomatie noch so mißtrauisch ist und vielleicht gerade dann besonders, beginnt man vielfach seine Ausführungen mit einer Versicherung des Vertrauens gegenüber der Gegenseite. Diese alte Verfahrensregel, die ich in der Praxis noch oft bei meinen Übersetzungen antraf, erlebte ich hier zum ersten Male. Sie machte mir einen nachhaltigen Eindruck.

„Wir haben selbstverständlich nach wie vor volles Vertrauen zu unseren Vertragspartnern aus Locarno“, sagte Luther. „Wir haben nie an eine Verschwörung geglaubt“, erklärte später Stresemann auf deutsch. Ich wußte es besser, aber ich lernte hier und später, welche Umgangsformen man auf dem diplomatischen Parkett, und besonders auf dem von Genf, auch in den schwierigsten Lagen beobachten muß.

Luther und Stresemann erwiesen sich an diesem Nachmittag und während der ganzen Genfer Tage als ausgezeichnete Diplomaten, die ihren gewandten Gegenspielern durchaus ebenbürtig waren. Sie zeigten sich der Form nach zurückhaltend und elastisch, blieben in der Sache selbst aber durchaus unnachgiebig.

Stresemann erklärte rund heraus, es handele sich für Deutschland lediglich darum, daß das in Locarno gemachte Versprechen eines ständigen Ratssitzes jetzt eingelöst würde. Das sei der einzige Punkt, der zur Debatte stehe. Da in Locarno nicht das geringste darüber verlautet sei, daß sich der Völkerbundsrat etwa durch Hinzuziehung anderer Länder in seiner politischen Struktur ändern könne, gelte diese feste Zusage an Deutschland natürlich unbedingt für den Rat, so wie er jetzt zusammengesetzt sei.

Wenn von Briand und Chamberlain darauf hingewiesen worden sei, daß bereits in früheren Jahren ein Anspruch, z. B. Spaniens oder Brasiliens, auf einen ständigen Ratssitz geltend gemacht und seine Honorierung beim Eintritt einer Großmacht in den Rat in Aussicht genommen worden sei, so könne dieses Argument keinesfalls auf Polen Anwendung finden, das früher nie einen Anspruch auf einen ständigen Sitz erhoben habe. „Ich möchte keinen Zweifel darüber lassen“, hörte ich zu meiner Überraschung Stresemanns metallene Stimme zum Schluß sagen, „daß die Vermehrung der ständigen Ratssitze im Zusammenhang mit der Aufnahme Deutschlands bei dieser Tagung in Genf das Reich möglicherweise veranlassen könnte, sein Aufnahmegesuch wieder zurückzuziehen.“

Diese Ankündigung wirkte wie eine Bombe. Sie kam ja auch fast einem Ultimatum gleich. Würde Deutschland diesen Schritt tatsächlich tun, so würde das ganze Werk von Locarno zusammenbrechen. Die Folgen wären unabsehbar gewesen. In erster Linie für Deutschland, aber auch für Europa und nicht zuletzt für die in diesem Hotelzimmer anwesenden Außenminister, die bei einem so eklatanten Schiffbruch ihrer Politik zweifellos sofort von den Parlamenten hinweggefegt worden wären, zumal die neue Linie ohnehin mit scheelen Augen betrachtet wurde.

Briand und Chamberlain sahen sich betroffen an. Das „Fischblut“ des englischen Außenministers mußte wohl doch etwas ins Wallen geraten sein, denn sein Gesicht begann sich fast unmerklich zu röten. Im übrigen aber blieb er völlig beherrscht. Um Briands Lippen spielte jenes halb spöttische, halb beruhigende Lächeln und in seinen Augen leuchtete jene überlegene Heiterkeit auf, die er in kritischen Momenten oft zur Schau trug. Er verlor auch in Situationen wie dieser nicht so schnell den Kopf.

„Mais voyons, Monsieur Stresemann, na hören Sie mal, Herr Stresemann“, warf er in ruhigem Ton ein, „ganz so schlimm wird es ja nun auch nicht sein.“ Stresemann hatte wohl selbst gemerkt, wie betroffen die „Kollegen von der anderen Seite“ über seine Ausführungen waren. Mit einem Geschick, wie ich es bei keinem deutschen Außenminister wieder erlebt habe, fing er die etwas bedrohliche Situation sofort wieder ein, indem er erklärte, daß Deutschland selbstverständlich grundsätzlich keine Einwendungen gegen den Eintritt dieses oder jenes Landes in den Völkerbundsrat habe. Es sei auch nicht grundsätzlich gegen Polen eingestellt.

„Sie müssen aber verstehen, meine Herren, daß wir nicht, ehe wir selbst Mitglied des Völkerbundes sind, über Änderungen seiner Organisation eine Meinung äußern können. Sind wir erst einmal selbst aufgenommen, sind wir ohne weiteres zu Konzessionen in der Frage der Ratserweiterung bereit“, erklärte er und hatte bewußt oder unbewußt mit dem in jeder diplomatischen Unterhaltung, vor allem aber in dem Genfer Jargon wahrhaft magisch wirkenden Wort „Konzession“ den Nagel auf den Kopf getroffen. Sichtlich hob sich die Stimmung in dem kleinen Raum, auch wenn die Konzession Stresemanns nur Zukunftsmusik war. Die Mienen glätteten sich weiter, als er die Andeutung über die Konzessionen noch dadurch konkretisierte, daß er – auch wieder völlig im Einklang mit der Methode der Genfer Konferenzen – eine Kommission zum Studium der ganzen Frage vorschlug. Sichtlich erleichtert schien mir Chamberlain zu sein, der in England schon vor seiner Reise nach Genf wegen seiner ungeschickten Politik in der Frage der Ratssitze so heftig angegriffen worden war, daß er ein Scheitern des Locarno-Paktes an dieser Frage als Außenminister nicht überlebt haben würde.

 

Diese erste Unterredung am Sonntagnachmittag dauerte über drei Stunden. Viel wurde noch über Einzelfragen gesprochen, noch viel mehr wiederholt, wie das besonders in Genf üblich war. Zu irgendeiner Einigung kam es nicht, aber es war wenigstens ein völliger Bruch vermieden worden. Man trennte sich gegen Abend zwar nicht so herzlich wie in Locarno, aber doch freundlicher, als ich es bei der eisigen Atmosphäre, die zu Anfang herrschte, vermutet hatte. Am Abend reiste Briand wieder nach Paris zurück; er war ja von der Kammer gestürzt worden, und es mußte ein neues französisches Kabinett gebildet werden. Das hatte man an dem aufregenden Nachmittag im Beau Rivage eine Weile lang ganz vergessen.

Als wir das Hotel verließen, drängten sich die Journalisten in der Halle. Jeder suchte aus dem Gesichtsausdruck der Außenminister irgend etwas zu entnehmen. Die zahlreichen Fragen, die auf deutsch, französisch und englisch auf Luther und Stresemann niederprasselten, als sie sich mühsam und so ganz unministeriell ihren Weg durch die Weltpresse bahnten, blieben unbeantwortet. Sie lächelten nur, aber das war für Genf schon Antwort genug. „Genfer Aussprache im ganzen zufriedenstellend“, „Mühelose (!) gegenseitige Klärung der Situation“, so lauteten am nächsten Tage die Zeitungsüberschriften in den Hauptstädten Europas. Briand hatte, als er nach uns das Hotel verließ, anscheinend den Journalisten auch zugelächelt.

Im übrigen beschwerte sich die Presse schon sehr bald über „das völlige Stillschweigen der Delegationen“, die Heimlichkeit zweiten Grades der Verhandlungen. Ein erfahrener Beobachter hätte schon daraus seine Schlüsse ziehen können, denn wenn Staatsmänner schweigen und geheimnisvoll tun, bedeutet das meistens nicht, daß sie sich einig sind.

Jetzt lernte ich auch eine Besonderheit Genfs kennen, die Zusammenballung der Weltpresse. Selbstverständlich waren auch die Journalisten hinter mir her „wie der Teufel hinter der armen Seele“, wie es der witzige Vertreter eines Berliner Mittagsblattes, der es wegen seines frühen Redaktionsschlusses immer besonders eilig hatte, treffend charakterisierte. Ich kannte die meisten Sonderberichterstatter der deutschen, französischen und englischen Presse schon von Locarno her. Aber dort hatte unser Delegationshotel weit außerhalb des Ortes gelegen und die Halle war nie so dicht gedrängt voll Journalisten gewesen, wie hier im Métropole in Genf. So wurden diese Tage und die ganze Genfer Zeit für mich zu einer ausgezeichneten Schule in der diplomatischen Kunst, zu reden und doch nichts oder nur sehr wenig zu sagen. Zuerst fand ich diese Unterhaltungen, denen man nur als Taubstummer hätte ausweichen können, recht anstrengend, denn ich wußte aus einem besonderen Fall in Locarno, daß die Presse sich auf das unbemerkte Kreuzverhören ganz ausgezeichnet versteht. Damals hatte der Vertreter des Berliner Acht-Uhr-Abendblattes aus einem plötzlichen Zögern von mir, als wir über den voraussichtlichen Endtermin der Konferenz sprachen, sofort richtig gefolgert, daß dieser unmittelbar bevorstehen müsse, und sein Blatt dadurch in die Lage versetzt, den glücklichen Abschluß am Lago Maggiore als einzige Berliner Zeitung in großer Balkenüberschrift bereits am Abend vor dem eigentlichen Schlußtag zu bringen.

Außer in den Hotelhallen traf man die Journalisten noch in der berühmten „Bavaria“, einem kleinen in der Nähe des Métropole gelegenen rauchigen Bierlokal. Dort war bis in die späte Nacht hinein die „Weltmacht Presse“ auf zahlreichen „ständigen Barsitzen“, je nach Nationalität Bier, Whisky oder Wein trinkend, vertreten. Das kleine Restaurant war die größte Nachrichtenzentrale der Welt an den Tagen, wo sich die Vertreter der Mächte in Genf versammelten. Dort fanden sich nicht nur Pressevertreter, sondern öfter auch die Politiker bis hinauf zu den Außenministern und deren Berater, Beamte des Völkerbundssekretariats oder auch gewöhnliche internationale Schlachtenbummler der Konferenzen ein. Dort erfuhr man schon am Abend vorher, was am nächsten Tag in der Weltpresse zu lesen sein würde. Man konnte in diesem kleinen Raum den Puls der Weltmeinung fühlen. Das war auch der Grund, weshalb sich dann und wann ein Außenminister persönlich blicken ließ. Öfter konnte man Stresemann dort treffen, wie er, hinter einem großen Bierglas mit einer dicken Zigarre im Mund, von Journalisten umringt, über seine Politik sprach oder sich in geistreichem, witzigem Wortgefecht mit den Vertretern der deutschen Oppositionspresse und Presseleuten aus anderen Ländern bis in die tiefe Nacht hinein unterhielt. Die Bavaria war daher nicht nur ein Treffpunkt der Presse, sie war eine Institution, wie ich sie sonst nirgendwo in Europa wieder angetroffen habe, und ich frage mich manchmal, ob wohl die Vereinten Nationen, die ja ihr Gewerbe viel mehr im Umherziehen von einem Ort zum anderen, zwischen San Franzisko, Lake Success, London und Paris ausüben, etwas Ähnliches entwickelt haben.

Wie wichtig diese Bavaria für das Genfer Getriebe war, erkannte ich gleich in den ersten Tagen der Krise. Dieses Bierlokal, an dessen Wänden die von den berühmten Karikaturisten Dersö und Kelen gezeichneten Bilder der Prominenten des Völkerbundes hingen, war ein Stimmungsbarometer, von dem man die jeweilige Lage ablesen konnte, auch wenn man als Noch-nicht-Aufgenommener keinen Zutritt zu den heiligen Hallen des Völkerbundspalastes selbst hatte. Wer in der Bavaria seinen Whisky trank, war oft besser unterrichtet als jemand, der von einer Delegation zur anderen stürmte. Er mußte allerdings gut zwischen Dichtung und Wahrheit unterscheiden, er mußte auch beim gesprochenen Wort der Journalisten so gut zwischen den Zeilen lesen können, wie dies die Deutschen erst in der Schule von Goebbels gelernt haben.

Durch die Rückkehr Briands nach Paris trat zunächst in den Genfer Besprechungen eine gewisse Pause ein. Chamberlain berief kurz danach eine weitere Sitzung der Locarno-Mächte ohne Briand auf den 10. März ein, die sich auch wieder über zweieinhalb Stunden hinzog. Er versuchte, den Deutschen nahezulegen, an einer inoffiziellen Ratssitzung über das leidige Thema der Erweiterung dieser Körperschaft teilzunehmen. Das lehnte Stresemann jedoch mit der Begründung ab, daß Deutschland, wie er bereits am Sonntag ausgeführt habe, diese Frage nichts angehe. Auch hier ging es wieder etwas bewegt zu, ohne daß irgendwelche neuen Elemente in der Diskussion aufgetreten wären. Diesmal allerdings sickerten Nachrichten darüber auch in die Presse. „Discussion orageuse“ schrieb die französische Presse, „Schwerer Rückschlag“ meldeten die Engländer, „Düsteres Schweigen“ warf die deutsche Presse den Delegierten vor.