Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945

Tekst
Z serii: eva digital
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

4
MORGENRÖTE IN LOCARNO (1925)

In seinem Schlußwort auf der Londoner Konferenz hatte Herriot zwar schon die Morgenröte erblickt, die den neuen Tag ankündigte, aber die Wirklichkeit sah in den Wochen, die unmittelbar auf die Konferenz folgten, erheblich anders aus. Die Überschwenglichkeit der Stimmung unter den Delegierten, als die mühevolle Arbeit der Londoner Tage und Nächte nun endlich ihren Abschluß gefunden hatte, war den harten Realitäten des politischen Lebens in Frankreich und Deutschland gewichen.

Ich selbst wurde einige Zeit nach meiner Rückkehr aus Paris Mitglied einer Delegation, die in Koblenz mit den Alliierten über die Anwendung der Londoner Beschlüsse auf die Liquidation des Ruhrabenteuers zu beraten hatte. Der Unterschied zwischen der freundlichen Atmosphäre in London und der herablassend feindlichen Haltung, die die Vertreter der alliierten Besatzungsbehörden in Koblenz den deutschen Delegierten gegenüber einnahmen, wirkte auf mich wie ein kalter Wasserstrahl. Ich erfuhr hier zum ersten Male, wie weit der Weg von den obersten Spitzen eines Landes bis zu den unteren Organen ist. Hier in Koblenz herrschte noch der Geist Poincarés in reinster Form. Mit der Zigarette zwischen den Lippen blickten uns unsere französischen und belgischen Gesprächspartner mit eisiger Ablehnung an, und auch die Engländer verhielten sich nicht viel freundlicher.

Es war ein eigenartiges Gefühl für mich, im eigenen Lande von Ausländern als unerwünschter, höchstens geduldeter Gast behandelt zu werden, wenn ich mit den übrigen Delegierten das von den Besatzungsbehörden in Koblenz zum Verhandlungsort bestimmte Gebäude des Oberpräsidiums betrat. Nicht wie in London am runden Tisch saßen hier die Deutschen als Gleichberechtigte den anderen gegenüber. Hier war wieder alles streng nach Siegern auf der einen Seite des Tisches und Besiegten auf der anderen eingeteilt. Dem entsprach auch der Geist, in dem die Verhandlungen geführt wurden. Es war eine eigenartige „Morgenröte“. Mit unendlicher Mühe und Geduld mußte hier von deutscher Seite den Besatzungsvertretern Schritt für Schritt erneut das abgerungen werden, was in London unter den Großen beschlossen worden war.

Nach drei Wochen Koblenz wurde ich eines Tages überraschend nach Paris zur deutschen Handelsvertragsdelegation versetzt und verschwand damit für lange Zeit aus Berlin. Diese deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen waren ebenfalls ein Kind der Londoner Konferenz. Ganz unbemerkt neben den großen Ereignissen war hier eines Nachmittags im Hyde Park Hotel, dem Sitz der französischen Delegation, in einer Besprechung zwischen Stresemann und Staatssekretär Trendelenburg aus dem Reichswirtschaftsministerium auf deutscher Seite und Herriot, Clémentel und dem Ministerialdirektor Seydoux von der Außenhandelsabteilung des französischen Außenministeriums der erste Schritt zur Ausgestaltung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen getan worden. Er führte 1927 nach dreijährigen Verhandlungen zu dem großen deutschfranzösischen Handelsvertrag, der nicht nur für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Nachbarländern, sondern auch für die gesamte Wirtschaftsentwicklung Europas von ausschlaggebender Bedeutung wurde. In diesen jahrelangen Verhandlungen, über die später noch mehr zu sagen sein wird, wurde auch der Grundstein für die Industrievereinbarungen gelegt, die in den 20er und 30er Jahren die privatwirtschaftliche Struktur einer ganzen Reihe wichtiger Industriezweige Europas bestimmten.

Zunächst aber gab mir Paris Gelegenheit, die Schwierigkeiten zu beobachten, die Herriot in Frankreich zu überwinden hatte, um die Londoner Beschlüsse, und besonders die so schwer erkämpfte Ruhrlösung, durchzuführen.

In der Kammer fand Herriot oft recht scharfe Worte gegen Deutschland; er schien plötzlich ein anderer Herriot zu sein als der Mann, den ich von der Londoner Konferenz her in Erinnerung hatte. „Er kämpft um die Existenz seiner Regierung“, erklärten mir die Franzosen von der Handelsdelegation. Ich verstand beim Lesen der wilden Vorwürfe, die wegen seiner Zugeständnisse in der Ruhrfrage in großen Teilen der Pariser Presse gegen ihn erhoben wurden, jetzt die Bedenken besonders gut, die er in London Stresemann gegenüber wegen der innerpolitischen Opposition in Frankreich geäußert hatte. Hier in Paris konnte ich mir auf einmal die in London etwas eigenartig wirkende Unruhe und sein gelegentliches temperamentvolles Aufbrausen erklären. Er hatte damals schon gewußt, was für ein Sturm sich bei seiner Rückkehr nach Frankreich erheben würde.

Genau derselbe Sturm entstand auch in Deutschland gegen Marx und Stresemann wegen der Londoner Vereinbarungen. Nur mit Mühe wurde das Dawes-Abkommen im Reichstag durchgebracht. Eine etwas eigenartige Rolle spielten dabei die Deutschnationalen, die sich auf Veranlassung der Parteileitung bei der Abstimmung in Neinsager und Jasager teilten, um ihren grundsätzlich ablehnenden Standpunkt zum Ausdruck zu bringen, trotzdem aber die Regierung nicht zu gefährden, wodurch den Sozialdemokraten der Weg ins Kabinett frei geworden wäre. Diese Farce war natürlich ein gefundenes Fressen für die Pariser Kabarettisten, wie überhaupt von Paris aus die Vorgänge in Deutschland in einer ganz neuen Perspektive erschienen und manches klarer zu erkennen war als von Berlin aus.

Anfang Februar 1925 wurde ich eines Abends überraschend auf die deutsche Botschaft bestellt. Auf Weisung des Staatssekretärs von Schubert, der mich persönlich zu allerstrengstem Stillschweigen verpflichtete, mußte ich noch am selben Abend in der Botschaft eine Note übersetzen. Sie sollte trotz der Abwesenheit des Botschafters unverzüglich Herriot übergeben werden. Das Schriftstück umfaßte nur wenige Seiten. Es war aber eines der für die politische Entwicklung der nächsten Zeit wichtigsten Dokumente. Es handelte sich um den deutschen Vorschlag, welcher der im Oktober des Jahres stattfindenden Konferenz von Locarno zugrunde lag und dort zu dem sogenannten Rheinpakt und den Schiedsverträgen führte, durch die das Reich endgültig als moralisch gleichberechtigter Partner wieder in den Kreis der europäischen Nationen aufgenommen wurde.

„Deutschland könnte sich auch mit einem Pakt einverstanden erklären, der den gegenwärtigen Besitzstand am Rhein garantiert, indem die am Rhein interessierten Staaten sich gegenseitig verpflichten, ihren Besitzstand in diesem Gebiet zu achten und gemeinsam die Erfüllung dieser Verpflichtung garantieren“, so lautete u. a. dieser Vorschlag. Weiterhin war darin die Rede von einer Garantie der Entmilitarisierung des Rheinlandes und von Schiedsvereinbarungen zwischen Deutschland und den an einem solchen Pakt teilnehmenden Staaten.

Während ich diesen gewichtigen Text übersetzte und mir dabei allmählich klar wurde, warum ich so eindringlich auf seine Geheimhaltung verpflichtet worden war, kam der deutsche Geschäftsträger, Botschaftsrat Forster, von Zeit zu Zeit ins Zimmer, um nachzusehen, ob ich denn immer noch nicht fertig sei. Er war etwas aufgeregt, denn auch er war sich der Wichtigkeit des Augenblicks voll bewußt, wenn wir natürlich auch noch nicht ahnen konnten, welche Folgen sich aus diesem äußerlich so unscheinbaren Dokument ergeben sollten. Kaum hatte ich die letzte Seite beendet, als er die Note schon in seine Mappe steckte und sich in feierlichem Anzug mit Zylinder und schwarzem Mantel auf den Weg zu Herriot machte.

Ich blieb noch eine Weile in dem kleinen Zimmer der Botschaft nachdenklich sitzen. Wieder einmal war mir, wie so oft noch in späteren Jahren, eine Schweigepflicht auferlegt worden, und ich scheute mich etwas vor den neugierigen Fragen meiner Kollegen in der Botschaft und in der Wirtschaftsdelegation. Mir war in jenem Augenblick schon klar, daß es sich bei dieser Note um einen bedeutsamen deutschen Beitrag zur Lösung der sogenannten Sicherheitsfrage handelte, die neben den wirtschaftlichen Problemen (Reparationen) damals wie heute eines der Hauptthemen der internationalen Politik war.

Unwillkürlich gingen meine Gedanken zurück zu der Zeit um 1919, als Frankreich unter dem noch frischen Eindruck des ungleichen Stärkeverhältnisses gegenüber Deutschland begreiflicherweise nach Möglichkeiten Ausschau hielt, seine Sicherheit zu gewährleisten. So hatte es das linke Rheinufer als Zukunftssicherung verlangt. Auf der Pariser Friedenskonferenz hatten sich aber England und Amerika dieser Forderung, welche die Schaffung eines neuen Elsaß-Lothringens auf deutscher Seite bedeutete, widersetzt und nach langem Hin und Her Frankreich als Ersatz einen Garantievertrag angeboten. Im englischen Parlament war dieser Vertrag von dem Beitritt der Vereinigten Staaten abhängig gemacht worden. Als sich dann der amerikanische Kongreß ablehnend verhielt, fiel die Garantie völlig ins Wasser, und Frankreich hatte weder das linke Rheinufer noch den Schutz Englands und Amerikas erhalten.

Poincaré hatte mit seiner Ruhrbesetzung und der Förderung des Separatismus erneut den Versuch gemacht, Frankreichs Sicherheit durch Vorverlegung seiner Einflußgrenze nach Osten sogar noch über das linke Rheinufer hinaus zu festigen. Dieser Plan war aber am Widerstand der Deutschen und an der Ablehnung Englands gescheitert. Durch die Londoner Abmachungen von 1924 war Frankreichs Bemühungen in dieser Richtung praktisch ein unüberwindlicher Riegel vorgeschoben worden. Das hatte naturgemäß zu jenen Stürmen der Entrüstung gegen Herriot geführt, deren Niederschlag ich selbst in Paris in der Presse und in der Kammer miterlebt hatte. Zweifellos aber waren Herriot in London von den Engländern, genau so wie seinerzeit auf der Pariser Konferenz, Ersatzlösungen angeboten worden. Das hatte sich im Herbst 1924 auf der jährlichen Vollversammlung des Völkerbundes bestätigt, als von MacDonald das sogenannte Genfer Protokoll „zur friedlichen Regelung internationaler Streitigkeiten“ in einer aufsehenerregenden Rede vorgeschlagen wurde, der Herriot natürlich wärmstens sekundierte. In diesem Protokoll wurde die Sicherheitsfrage auf eine breite internationale Basis gestellt und nicht mehr allein durch das Versprechen Englands, Frankreich bei einem Angriff zu Hilfe zu kommen, gelöst.

 

Wieder aber hatte es im englischen Parlament Schwierigkeiten gegeben. Auch die englischen Dominions hatten sich gegen jede automatische Hineinziehung in europäische Streitigkeiten gewehrt, so daß dieser Versuch, Frankreichs Sicherheitswünsche zu befriedigen, ebenso fehlschlug. Das war die Lage im Februar 1924.

Auch auf deutscher Seite hatte man schon frühzeitig erkannt, daß viele der politischen Schwierigkeiten mit Frankreich behoben und dessen immer wieder hervortretende Bemühungen, seine Grenzen auf Kosten Deutschlands nach Osten vorzuschieben, abgewendet werden könnten, wenn man seiner begreiflichen Sorge um die Sicherheit auf andere Weise entgegenkäme.

So hatte die Regierung Cuno Ende 1922 zu diesem Zweck bereits vorgeschlagen, daß Deutschland und Frankreich gemeinsam mit anderen am Rhein interessierten Mächten sich gegenseitig verpflichten sollten, eine Generation lang ohne eine vorherige Volksbefragung keinen Krieg gegeneinander zu führen. Diese Verpflichtung sollte unter die Garantie der Vereinigten Staaten gestellt werden. Der Vorschlag wurde jedoch mit Hohn von Poincaré zurückgewiesen und war in seiner Begrenzung auf eine Generation und der etwas verdächtig wirkenden Verbindung des Krieges mit einer Volksbefragung auch nicht gerade glücklich formuliert gewesen.

Das alles kannte ich nur vom Hörensagen, d. h. ich hatte es in der Presse oder in Büchern gelesen. Eine persönliche Erinnerung war mir jedoch bei der Übersetzung der deutschen Note ebenfalls in den Sinn gekommen. Im September 1923 hatte Stresemann als Reichskanzler in Stuttgart eine viel beachtete außenpolitische Rede gehalten, die auch im Sprachendienst für die Auslandspresse übersetzt worden war, und zur Sicherheitsfrage folgendermaßen Stellung genommen:

„Da der Alpdruck Frankreichs vor einem etwaigen deutschen Angriff, so völlig töricht er uns erscheinen mag, noch heute weite Kreise der französischen öffentlichen Meinung beherrscht, haben unsere Botschafter und Gesandten in Paris, London, Rom und Brüssel mitgeteilt, daß Deutschland bereit sei, dem Sicherheitspakt der am Rhein interessierten Mächte beizutreten, sei es, daß er sich auf Abmachungen über die Vermeidung eines Krieges bezöge, sei es, daß er die Garantierung des gegenwärtigen Besitzstandes am Rhein zum Gegenstand hätte. Außerdem sei Deutschland, zur Bekundung seines Friedenswillens, bereit, mit allen Staaten Schiedsgerichtsverträge zu schließen, wie wir dies mit der Schweiz und Schweden bereits getan haben.“

Als ich mich an diese Sätze erinnerte, war mir an dem Februarabend auf der Botschaft in Paris, auch ohne daß ich im einzelnen über die Entstehungsgeschichte der deutschen Note unterrichtet war, sofort klar, daß der geistige Urheber Stresemann sein müsse, der mit jener Hartnäckigkeit, die ich in London so deutlich erlebt hatte, immer wieder von neuem versuchte, auf dem Wege der Befriedung Frankreichs vorwärtszukommen. Mir war damals unbekannt, daß Stresemann bei seinen Bemühungen von dem englischen Botschafter in Berlin, Lord D’Abernon, starke Anregungen empfangen hatte und daß dieser auch die ursprünglich recht ablehnende Haltung des damaligen Außenministers, Austen Chamberlain, ins Gegenteil zu verwandeln gewußt hatte.

Voller Spannung wartete ich in den nächsten Tagen auf ein Echo von Herriot. Der einzige, mit dem ich darüber sprechen konnte, war Botschaftsrat Forster; der aber konnte mir auch nichts sagen, denn Herriot hatte sich darauf beschränkt, die Note mehr oder weniger kommentarlos entgegenzunehmen und ihre Prüfung zuzusagen.

So kam mir dieser Vorgang allmählich wieder aus dem Sinn. Meine ganze Aufmerksamkeit wurde von den Wirtschaftsverhandlungen gefangengenommen. Sie brachten mir sehr viel Arbeit. Nacheinander zogen sämtliche Sparten der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen auf industriellem und landwirtschaftlichem Gebiet an mir vorüber. Ich assistierte deutschen und französischen Wirtschaftsführern mit berühmten Namen wie Thyssen, Vögler, Citroën, Duchemin und Prominenten des Comité des Forges, die als Sachverständige zur Beratung über den sie besonders angehenden Verhandlungsabschnitt herangezogen wurden. Der weitaus wichtigere Teil der damaligen Pariser Gespräche waren jedoch die ebenfalls unter meiner Mitwirkung geführten privaten Unterhaltungen zwischen den deutschen und französischen Industriellen, die den Grundstein für die Zusammenarbeit in vielen Industrien legten und den Kristallisationspunkt für spätere mehrseitige Industrieverständigungen in Europa bildeten. Wenig berührt von den politischen Schwankungen, waren diese Abmachungen zwischen den einzelnen Industrien bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein wichtiger Faktor des europäischen Wirtschaftslebens und seiner Stabilisierung.

Ich mußte mich fast wie in der Schule auf jede dieser Verhandlungen genauestens vorbereiten, lernte den deutschen und den französischen Zolltarif beinahe auswendig und gewann einen recht guten Überblick über die Praxis des Warenaustausches zwischen den europäischen Ländern. Von der Schwerindustrie bis zur weichen Faßseife, von den aus Südfrankreich in Eiltransporten nach Hamburg und Berlin verfrachteten frischen Blumen bis zu den Kämpfen um die Weinzölle, von Lederwaren bis zu feuerfesten Steinen war alles in meinem Repertoire enthalten. Von Politik und Sicherheit hörte ich kein Sterbenswörtchen mehr.

Erst als ich im Sommer während einer mehrmonatigen Verhandlungspause nach Berlin zurückkam, konnte ich feststellen, daß das in der Februarnote gemachte deutsche Paktangebot inzwischen Gegenstand eines eingehenderen Meinungsaustausches auf schriftlichem Wege zwischen Deutschland, Frankreich und England gewesen war. Bei meiner Rückkehr waren die Dinge so weit gediehen, daß sich in London ein Juristenausschuß mit der Ausarbeitung eines genauen Vertragsentwurfes beschäftigte. Das später bei vielen Konferenzen als stabiles Element in Erscheinung tretende Dreigestirn der Kronjuristen Deutschlands, Frankreichs und Englands, Gaus, Fromageot und Hurst, hatte hier die letzte Hand an die Vorbereitungen für die Konferenz gelegt, die Oktober 1924 in einem damals noch völlig unbekannten kleinen Kurort der Südschweiz am Lago Maggiore, in Locarno, stattfand und diesen Namen innerhalb von wenigen Tagen weltbekannt und zu einem Symbol für die Friedenshoffnungen Europas machte. Die Morgenröte, von der Herriot ein Jahr vorher gesprochen natte, brach mit den herrlichen Herbsttagen in Locarno an.

Am 2. Oktober fuhr ich zum zweiten Male in einem Sonderzug als Mitglied einer großen Delegation von Berlin ab. Das äußere Bild dieser Abreise ähnelte mit den starken polizeilichen Absperrungen des Bahnhofs wegen der Attentatsfurcht, den zahlreichen offiziellen Persönlichkeiten und ausländischen Diplomaten, die sich zur Verabschiedung eingefunden hatten, dem unserer Abfahrt nach London im August des vergangenen Jahres. Nur bestand diesmal der Zug aus Schlafwagen, denn die Reise würde erst am nächsten Nachmittag südlich der Alpen enden.

Die beiden Hauptdelegierten Deutschlands waren Stresemann und Luther, der inzwischen Reichskanzler geworden war. Unter den Dolmetschern fehlte Michaelis, dem man seine Entgleisung in London doch nicht verziehen hatte. Außer mir war für die Übersetzungen nur noch Dr. Norden mitgekommen, der mir unterwegs interessante Einzelheiten über die Entstehungsgeschichte dieser Konferenz zu berichten wußte. Er hatte überall im Auswärtigen Amt Freunde und Bekannte, betrieb das Dolmetschen mehr oder weniger zwangsweise nur als Nebentätigkeit und gehörte im übrigen zu einem Referat der Rechtsabteilung. Er war immer ausgezeichnet im Bilde.

So erfuhr ich von ihm, daß zunächst auf die Februarnote überhaupt keine Reaktion erfolgt war. Norden erzählte mir, daß D’Abernon schon Ende Dezember in einem Gespräch mit dem Staatssekretär von Schubert von dem Plan einer deutschen Initiative erfahren und ihn sofort aufgegriffen habe und daß die erste Anregung zunächst Chamberlain unterbreitet worden sei. Dieser habe sie jedoch ziemlich brüsk abgelehnt, weil sie zu seinen eigenen Plänen im Widerspruch stand. Erst daraufhin habe man sich von deutscher Seite in aller Eile entschlossen, direkt an Frankreich heranzutreten, und habe am 9. Februar die Note übergeben, die damals durch meine Hände gegangen war. Herriot hatte die ganze Angelegenheit ruhen lassen, war inzwischen gestürzt worden, und erst sein Nachfolger Briand hatte die Frage wieder aufgenommen. Allerdings hatte sich Frankreich erst im Juni zu einer ausführlichen Gegenäußerung mit allerhand Abänderungsvorschlägen herbeigelassen. Erst so, erzählte mir Norden, sei es auf dem Wege über die Juristenbesprechung in London zur Konferenz von Locarno gekommen.

In Deutschland herbstelte es im Oktober schon ziemlich stark, in den höheren Lagen der Alpen standen die Bäume völlig kahl da und die Landschaft sah so aus, als bereite sie sich auf den nahen Winter vor. Das änderte sich mit einem Schlage, als wir auf der anderen Seite des Gotthard-Tunnels in den Schweizer Tessin hineinfuhren. Hier hatte man den Eindruck, mitten im Hochsommer zu sein, und je weiter wir nach Süden kamen, desto stärker wurde das Gefühl, daß sich die Jahreszeit nach rückwärts bewegte.

Über Bellinzona fuhr unser Zug auf einer kleinen Nebenstrecke bis nach Locarno. Die Hauptdelegierten waren von der letzten Station aus schon im Wagen vorausgefahren. So stießen wir auf dem kleinen Bahnhof von Locarno bei den Journalisten und den internationalen Schlachtenbummlern der großen Konferenzen, die sich in Massen auf dem Bahnsteig drängten, auf arg enttäuschte Gesichter.

In dem etwas außerhalb von Locarno, in Minusio, gelegenen Hotel Esplanade war die ganze Delegation geschlossen untergebracht. Am nächsten Tage trat ich dann zum ersten Male in Gegenwart von Luther und Stresemann als Dolmetscher auf einem Empfang der ausländischen Presse im Esplanade Hotel in Aktion. Luther machte einige Ausführungen über Deutschlands Friedensbestrebungen, von denen mir heute wohl deshalb keine Einzelheiten mehr in Erinnerung sind, weil ich als Dolmetscher dabei nicht in Aktion zu treten brauchte. Das gleiche gilt für Luthers erste Unterhaltung mit Briand in Ascona, die von den Journalisten viel beachtet wurde. Um so deutlicher erinnere ich mich aber an das, was Stresemann der Presse sagte, und zwar weil es Sowjetrußland betraf, dessen Haltung gegenüber den Bemühungen der damaligen Westmächte, mit Deutschland in Locarno zu einer Einigung zu gelangen, sowie ganz allgemein gegenüber dem Völkerbund schon damals genau so argwöhnisch war wie heute gegenüber den Westmächten und den Vereinten Nationen.

Wenige Tage vor der Abreise der deutschen Delegation nach Locarno hatte sich der sowjetische Volkskommissar für Auswärtiges, Tschitscherin, in Berlin eingefunden und eine damals viel beachtete Unterredung mit Stresemann gehabt, aus der sich allerlei sensationelle Kombinationen in der Presse ergaben. Seitdem die Welt durch den Abschluß des Vertrages von Rapallo zwischen Deutschland und Sowjetrußland am 17. April 1922 auf der Konferenz von Genua verblüfft worden war, wurde alles, was sich zwischen den Sowjets und der deutschen Republik abspielte, mit Aufmerksamkeit und Mißtrauen von den Westmächten verfolgt.

Stresemann wies in dieser ersten Pressekonferenz von Locarno die sehr aufmerksam mitschreibenden Journalisten darauf hin, daß er sich mit Tschitscherin im wesentlichen über den Handelsvertrag zwischen Deutschland und Rußland unterhalten habe, und daß daran keinerlei Sensation zu suchen sei. Mit einer gewissen Betonung fügte er hinzu, daß man wohl in Rußland eine Zeitlang gefürchtet habe, Deutschland werde in Locarno eine vollkommene Umstellung seiner Politik vornehmen und sich ausschließlich nach Westen orientieren, „Für uns gibt es keine Option zwischen Ost- und Westpolitik. Wir wollen nach beiden Seiten gute Beziehungen unterhalten“, erklärte Stresemann in diesem Zusammenhang. Die Journalisten stürzten hinaus an die Telefone, und die erste große Meldung aus Locarno ging in die Welt, noch ehe die Konferenz eigentlich begonnen hatte.

Am nächsten Vormittag, am 5. Oktober 1925, wurde dann die Konferenz bei herrlichem Sommerwetter in dem schmucklosen Sitzungssaal des kleinen Rathauses eröffnet. In diesem Raum stand in der Mitte ein großer viereckiger Tisch, um den herum sich die Hauptdelegierten zwanglos auf recht unbequemen Holzstühlen gruppierten. An jeder Seite des Tisches hatten 4 bis 5 Personen Platz, so daß nur die Hauptdelegierten am Tisch selbst sitzen konnten, alles andere aber sehen mußte, wo es auf einem Stühlchen im Hintergrund unterkam. Zu beiden Seiten dieses Tisches, der fast den ganzen Raum füllte, stand noch je ein schmaler, kleiner Tisch, an dem eigentlich nur zwei Personen Platz hatten, der aber immer von Sekretären und Sachverständigen, die ihre Akten ausbreiten wollten oder etwas zu schreiben hatten, belagert war. An dem kleinen Tisch hinter den deutschen Delegierten hatte auch ich mir einen Platz „erobert“. Es war, wie sich später zu meinem Leidwesen herausstellte, ein akustisch sehr ungünstiger Standort, da Stresemann und Luther, die ich zu übersetzen hatte, immer von mir weg sprachen und ich alle Mühe hatte, ihnen zu folgen, wenn etwa an dem gleichen Tisch noch jemand mit Papieren raschelte oder gar eine geflüsterte Unterhaltung stattfand. Links neben der deutschen Delegation saßen die Italiener; die Engländer nahmen unter Führung von Austen Chamberlain die noch an der linken Breitseite freien Plätze ein. Den Deutschen gegenüber saßen die Franzosen Briand, Berthelot und Fromageot. An der rechten Seite des Tisches hatten die Belgier Platz genommen, die von Außenminister Vandervelde geführt wurden. Auch Gaus und Staatssekretär Kempner von der Reichskanzlei hatten sich auf dieser Seite noch an den Tisch gezwängt, wodurch der Kreis zur deutschen Delegation wieder geschlossen wurde.

 

In den Endphasen der Konferenz, als auch die Tschechoslowakei und Polen hinzugezogen wurden, war die Enge noch größer, denn der kleine, stets lächelnde Dr. Benesch und der immer mißmutig dreinblickende polnische Außenminister, Graf Skrzynski, wollten natürlich auch am Tisch der Großen sitzen. Es war also, technisch gesehen, eine sehr improvisierte Konferenz, die da im Rathaus von Locarno zusammentrat. Sie hielt keinen Vergleich mit der wohl vorbereiteten Veranstaltung vom Vorjahre in London aus, wo neben dem geräumigen Hauptsitzungssaal noch viele andere Räume zur Verfügung standen, wo die Dolmetscher ihre Plätze am großen Tisch unmittelbar neben ihren Delegierten hatten, wo die Sekretäre und Sachverständigen in Ruhe arbeiten konnten und sich der ganze technische Apparat einer solchen Zusammenkunft schon nach den ersten Stunden völlig eingespielt hatte.

Hier in Locarno, das merkte man auf Schritt und Tritt, war man auf dem Lande. Es war fast rührend zu sehen, wie sich die Stadt, vom Bürgermeister bis zum geringsten Einwohner, bemühte, den Konferenzteilnehmern das Leben angenehm zu machen, und wie weit entfernt von diesem Ziele sie in den technischen Einrichtungen blieben.

Rührend in seiner Einfachheit, aber gerade vielleicht deshalb um so überzeugender, wirkte inmitten dieser Versammlung der Großen Europas auch der Bürgermeister des kleinen Städtchens, der in wohlgesetzten Worten auf französisch die Teilnehmer begrüßte und sich dann unter vielem Lächeln und Händedrücken sichtlich voll Stolz über seine Teilnahme an dem historischen Augenblick zurückzog.

Nun waren die Staatsmänner unter sich, denn die Besprechungen fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Einen Vorsitzenden gab es nicht. Chamberlain hatte nur im Namen der Konferenz dem Bürgermeister gedankt. Von da ab fanden die Beratungen trotz des viereckigen Tisches im Stile einer englischen „Round Table“-Konferenz als ein Gespräch völlig gleichberechtigter Teilnehmer statt. Ohne Umschweife würde die sachliche Aussprache über die einzelnen Artikel des von den Juristen in London vorbereiteten Vertragsentwurfes begonnen. Luther und Stresemann benutzten sofort die Gelegenheit, deutsche Abänderungsvorschläge vorzubringen und kurze Begründungen dafür abzugeben. Es verlief alles sehr nüchtern und geschäftsmäßig. Selbst bei den Punkten, über die in den nächsten Tagen noch recht erregte Aussprachen stattfinden sollten, kam es zu keinen Zwischenfallen.

Dabei handelte es sich einmal um die Frage, in welcher Weise der Osten, d. h. Polen und die Tschechoslowakei, in das Sicherheitssystem eingeschaltet werden sollten. Vor allem in Polen waren gegen den Rheinpakt erhebliche Bedenken laut geworden. Deutschland wollte unter keinen Umständen die viel umstrittene Ostgrenze mit dem polnischen Korridor und die Gebietsabtretungen in Oberschlesien formell anerkennen, wie es dies in seinem Angebot vom 9. Februar mit der Westgrenze getan hatte. Das hatten die Polen natürlich herausbekommen. Die polnische Presse tobte, das polnische Parlament protestierte, und das polnische Auswärtige Amt hatte sich um Hilfe an seinen Verbündeten Frankreich gewandt. Es lag also reichlicher Zündstoff in diesem Problem. Aber am ersten Tage kam es noch zu keiner Explosion. Briand bemerkte nur mit sarkastischem Lächeln, daß dieses Ostproblem der erste rheumatische Anfall sei, den die Konferenz erleide.

Eine weitere große Schwierigkeit war der von den Alliierten geforderte Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. Damit in Zusammenhang stand die Kriegsschuldfrage, die die deutsche Delegation schon auf der Londoner Konferenz hatte vorbringen wollen. Sie war schließlich vor Annahme der Dawes-Gesetze unter recht aufregenden Umständen in einer Erklärung der Reichsregierung vorgebracht worden, in der es hieß, daß „die uns durch den Versailler Vertrag unter dem Druck übermächtiger Gewalt auferlegte Feststellung, daß Deutschland den Weltkrieg durch seinen Angriff entfesselt habe, den Tatsachen der Geschichte widerspricht. Die Reichsregierung erklärt daher, daß sie diese Festlegung nicht anerkennt.“

Kurz vor Abreise der deutschen Delegation nach Locarno wurde die Auffassung der Reichsregierung in dieser Frage den anderen Ländern noch offiziell zur Kenntnis gebracht, wodurch die Konferenz selbst fast in Gefahr geraten wäre. „Es kann kein Zweifel sein“, erklärte die deutsche Regierung, „daß überall da„ wo bei den politischen Auseinandersetzungen so grundlegende Fragen wie der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zur Erörterung gelangen, der Standpunkt zu wahren ist, daß Deutschland niemals einen politischen Akt vollziehen kann, der als Anerkennung irgendwelcher eine moralische Belastung des deutschen Volkes in sich schließender Feststellungen anzusehen wäre. Das wird … bei einem etwaigen Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, aber auch dann, wenn es nicht dazu kommen sollte, den Signatarmächten des Versailler Vertrages, denen gegenüber die jetzige mit den bevorstehenden Verhandlungen zusammenhängende Erklärung nicht abgegeben ist, unmittelbar zum Ausdruck gebracht werden. Das ist nichts anderes als ein selbstverständlicher Ausdruck der Überzeugung, daß sich die Mitglieder der Völkerbundsgemeinschaft nicht nur äußerlich, sondern auch moralisch als gleichberechtigt anerkennen müssen, wenn sie das Friedensziel des Völkerbundes verwirklichen wollen.“

Das war der reichlich explosive Hintergrund der ‚Erwähnung dieser Frage hier auf der ersten Sitzung. Als sich Stresemann zu diesem Punkt äußerte und gerade das Wort „Kriegsschuldfrage“ aussprach, hustete jemand in meiner Nähe, so daß mir die folgenden Worte des deutschen Außenministers unverständlich blieben. Auf sie aber kam es in diesem Augenblick ganz besonders an. Es handelte sich darum, ob er diese Frage jetzt zur Diskussion stellen wollte, oder ob sie etwa, wie in London, wieder vertagt werden würde. Ich befand mich in einer scheußlichen Lage. Irgend jemanden fragen konnte ich natürlich in der Eile nicht. Hätte ich meine französische Übersetzung unterbrochen und Stresemann, der ein ganzes Stück vor mir saß, schnell noch einmal gefragt, wäre die Aufmerksamkeit der ganzen Konferenz gerade auf diesen delikaten Punkt gelenkt worden, der möglicherweise – und hier stand mir sekundenlang die Szene mit den aufgeregt diskutierenden drei deutschen Delegierten in der Schlußsitzung in London vor Augen – jetzt, im Anfangsstadium der Besprechungen, nur sehr vorsichtig und andeutungsweise vorgebracht werden sollte. Ich nahm also mein Herz in beide Hände und sagte auf französisch die Worte so, wie ich nach meiner Kenntnis der Sachlage glaubte, daß sie Stresemann gebraucht hätte, d. h. ich gab eine Ankündigung der deutschen Stellungnahme zu dem Problem. Scharf beobachtete ich dabei Stresemann und Luther von hinten. Jeden Augenblick darauf gefaßt, daß sie sich wütend nach mir umdrehen würden, und daß es einen Eklat mit mir geben würde, ähnlich dem, dem der arme Michaelis in London zum Opfer gefallen war.