Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945

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Auch die Bankiers hielten eine völlige Wiederherstellung der Souveränität des Reiches über das Ruhrgebiet für unumgänglich. Sie glaubten, das Risiko einer Anleihe nur dann übernehmen zu können, wenn die Ruhrindustrie wieder völlig frei und ungehindert arbeite und die Wirtschafts- und Finanzlage des Reiches wieder so weit stabilisiert würde, daß auch nach rein wirtschaftlichen Erwägungen eine Hergabe von Kapital vertretbar sei.

Aber gerade diese Außerachtlassung der Imponderabilien schaffte wieder neue Schwierigkeiten. MacDonald erklärte einmal auf einer Sitzung, er werde als Führer einer Arbeiterregierung bei seiner Partei schwer in Mißkredit geraten, wenn sich herausstelle, daß er sich seine Handlungen von Kapitalisten habe vorschreiben lassen, und die Franzosen waren damals über die entgegengesetzte Auffassung dieser nüchternen Finanziers und Wirtschaftler hell empört, ähnlich wie im Jahre 1948 über die Entscheidungen der anglo-amerikanischen Wirtschaftssachverständigen in der Frage des Industrieniveaus und der großzügigeren Behandlung der gleichen Ruhrindustrie, um die es schon 1924 in London ging.

Kurze Zeit nach der Rückkehr Herriots aus Paris kam es zu einer zweiten Unterredung zwischen ihm und Stresemann. Diesmal fand sie im Rahmen der Konferenz ohne große Geheimnistuerei in einem Zimmer des englischen Auswärtigen Amtes statt. Herriot verbreitete sich dabei erneut über die innerpolitischen Schwierigkeiten, die er in Frankreich bei seiner letzten Anwesenheit gehabt habe. Aber er hatte sein Versprechen gehalten. Der Ministerrat hatte ihn ermächtigt, über die Ruhrräumung zu sprechen und sogar feste Abmachungen darüber zu treffen! Es sei nicht leicht gewesen, die französische Regierung und die Vertreter der Parteien zu diesem Zugeständnis zu bewegen. Er habe es mit der Verpflichtung erkaufen müssen, darauf zu bestehen, daß die Räumung erst … in einem Jahr durchgeführt würde.

Das war für Stresemann natürlich ein schwerer Schlag. „Ich muß Ihnen, Herr Herriot, zwar für Ihre Bemühungen in Paris danken. Sie haben das, was Sie mir vor einigen Tagen zusagten, gehalten, aber leider sehe ich keine Möglichkeit, mit Ihnen auf dieser Grundlage weiterzuverhandeln.“ Er erkenne die Schwierigkeiten der französischen Parlamentslage durchaus an. Aber wenn er sich vorstelle, daß er mit dieser Räumungsfrist vor den deutschen Reichstag treten solle, so sei er sicher, daß das ganze Londoner Abkommen abgelehnt werden würde. Die Folgen für Deutschland würden katastrophal sein, aber die Rückwirkungen würde auch Frankreich, ja ganz Europa zu spüren bekommen, Stresemann wurde bei diesen Ausführungen genau so temperamentvoll wie Herriot, wenn er von den Schwierigkeiten im eigenen Lande sprach. Seine Worte überstürzten sich, seine helle Stimme klang laut durch den Raum.

Herriot erwiderte ebenso heftig, daß er gar nicht daran denken könne, kürzere Räumungsfristen zuzugestehen. Er habe ohnehin schon mit Nollet und Foch in Paris die heftigsten Zusammenstöße gehabt; man habe ihm vorgeworfen, seine eigenen Ministerkollegen hintergangen zu haben. Er sei überhaupt nur nach Paris gefahren, weil er eingesehen habe, daß in der Räumungsfrage etwas geschehen müsse. Auch MacDonald habe ihn übrigens genau so wegen der Ruhr bedrängt, aber es sei jetzt, nachdem er mit so vieler Mühe in Paris ein einigermaßen befriedigendes Ergebnis erzielt habe, für ihn eine große Enttäuschung, wenn Stresemann nun erkläre, er könne sich damit nicht zufriedengeben.

Trotzdem versuchte Stresemann noch mehrmals, bei Herriot eine Verkürzung der Räumungsfrist durchzudrücken. Es dürfe sich nicht um Monate, sondern nur um Wochen handeln. Eine andere Lösung könne er gegenüber dem deutschen Parlament nicht vertreten.

Mit einem fast gequälten Gesichtsausdruck wiederholte Herriot seine Einwendungen, und man schien völlig festgefahren zu sein. In dieser Situation kam Stresemann auf einen Ausweg. Er sagte, in Deutschland würde nicht nur der Abschluß der Räumung, sondern auch deren Beginn von großer Bedeutung sein. Er frage daher Herriot, ob die Räumung wenigstens unverzüglich beginnen könne.

Diesen Gedanken griff Herriot sofort mit einer gewissen Erleichterung auf. Er meinte in erheblich ruhigerem Ton, daß sich darüber natürlich reden lasse und erwähnte dabei etwas von einem Räumungsplan, zu dessen Ausarbeitung er bereits Auftrag gegeben habe. Er würde ihn Strese mann in den nächsten Tagen vorlegen.

So hatte denn die beiderseitige Erregung doch ein gewisses Ergebnis gezeitigt. Stresemann konnte jedenfalls für sich buchen, daß er zwei Schritte vorwärtsgekommen war. Er hatte erreicht, daß die französische Weigerung, überhaupt Abmachungen über die Räumung zu treffen, nicht mehr aufrechterhalten wurde und hatte darüber hinaus eine gewisse Aussicht auf einen baldigen Räumungsbeginn gewonnen. Denn es war klar, daß Herriot in diesem Punkt mit sich reden lassen würde.

Als dann die Anleihefrage erörtert wurde und Stresemann von den Schwierigkeiten sprach, die von den Bankiers gemacht würden, brauste Herriot sofort wieder auf. Besonders ärgerlich schien er auf die Amerikaner, zu sein. Ein amerikanischer Bankier, erfuhren wir bei dieser Gelegenheit, habe ihm eine Liste von 25 Bedingungen überreicht, darunter eine ganze Reihe von politischen Forderungen, von denen die Bankiers die Gewährung der Anleihe abhängig machten. Wenn von den Banken der Versuch gemacht werde, sich in die Politik einzumischen, so verzichte er lieber auf den ganzen Dawes-Plan, rief er erregt Stresemann zu.

Über die Räumungsfrage wurde dann noch tagelang verhandelt. Langsam wurden Fortschritte gemacht. Der Kreis der Teilnehmer erweiterte sich. Marx und Luther begleiteten Stresemann. Der Reichsfinanzminister Luther beteiligte sich äußerst aktiv an den Verhandlungen, und zwar nicht nur auf seinem eigentlichen Sachgebiet, sondern auch in den politischen Fragen. Herriot brachte zu den vorerwähnten erweiterten Verhandlungen den belgischen Ministerpräsidenten Theunis und dessen Außenminister, Hymans, mit. Man trat zu sogenannten „Dreiecksbesprechungen“ zusammen. Die Engländer beteiligten sich nicht unmittelbar, um die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß auf der Konferenz selbst nur vom Dawes-Plan gesprochen würde.

Aber indirekt versuchte Stresemann auch über MacDonald und über den amerikanischen Botschafter, Kellogg, den späteren Außenminister, auf Herriot einzuwirken. Beide versicherten ihm, ihr Möglichstes getan zu haben, konnten aber von keinem Erfolg berichten. Kellogg fügte noch hinzu, er glaube nicht, daß Herriot formell unter die einjährige Räumungsfrist heruntergehen könne, nehme aber an, daß er nach einer Einigung über das Dawes-Abkommen die Räumung doch in Etappen durchführen werde. Es bestehe also Aussicht, daß sie noch in diesem Jahre beginne.

In den nächsten Tagen überstürzten sich die Einzelbesprechungen zwischen den Delegationen Deutschlands, Frankreichs und Belgiens. Dabei wurde um die kleinsten Zugeständnisse in der nunmehr doch im Mittelpunkt der Londoner Konferenz stehenden Ruhrfrage gekämpft. So versuchte z. B. Stresemann, den Beginn der Räumungsfrist vom Tage der Unterzeichnung der Londoner Abmachungen auf den Zeitpunkt der Einigung zwischen den drei Delegationen vorzuverlegen, ein kleiner Unterschied, der aber doch zeigt, wie von deutscher Seite um jeden Fußbreit Gewinn gerungen wurde.

Im Verlauf dieser Verhandlungen beschwor Stresemann mit der Erklärung, er müsse um eine Verschiebung der Konferenz bitten, da er ohne Zustimmung des Berliner Kabinetts und der deutschen Parteien keinesfalls die einjährige Räumungsfrist annehmen könne, eine Krise herauf. Besonders die Belgier schienen über die Entwicklung sehr besorgt zu sein und ließen durchblicken, daß Herriot doch in der Lage sei, mit einer Teilräumung früher zu beginnen. Selbst Nollet versuchte, eine Unterbrechung der Konferenz, die durch die in Aussicht genommene Rückkehr des Finanzministers Luther zur Berichterstattung nach Berlin hervorgerufen worden wäre, zu unterbinden.

Diese „Dreiecksbesprechung“ fand im Garten der Amtswohnung Mac-Donalds hinter dem Hause Nr. 10 Downing Street statt, wo die Augusthitze Londons durch die leise Brise, die vom Green Park herüberwehte, gemildert wurde. Nach einiger Zeit kamen MacDonald und Kellogg hinzu und brachten auch ihrerseits ihre Bedenken gegen eine Vertagung zum Ausdruck. Als Stresemann aber beharrlich bei seinem Standpunkt blieb, daß angesichts der Unnachgiebigkeit der Franzosen eine Rücksprache in Berlin unumgänglich nötig sei, wolle man nicht den ganzen Vertrag in Gefahr bringen, stand Herriot auf, nahm Marx, Stresemann und mich beiseite und erklärte sich überraschenderweise bereit, doch eine Räumung in Etappen vorzunehmen. Er bat allerdings um absolute Diskretion, da er mit dieser Zusage über die ihm von Paris auferlegten Beschränkungen hinausgehe.

Marx und Stresemann gaben erleichtert ihrer Zufriedenheit über diese Zusicherung Ausdruck, erklärten aber gleichzeitig, daß sie wegen des ihnen auferlegten Schweigegebotes im gegenwärtigen Augenblick nicht viel damit anfangen könnten, wo es sich darum handele, die Zustimmung des Berliner Kabinetts und der deutschen Parteien zur Unterzeichnung des Dawes-Abkommens zu erreichen.

Herriot erwiderte nichts darauf, und die drei Staatsmänner kehrten mit mir wieder an den Gartentisch zurück, an dem die übrigen Teilnehmer der Besprechung mit gespannten Blicken auf uns gewartet hatten.

Zu meiner großen Überraschung begann dann Herriot ganz offen von der Geste einer etappenweisen Räumung zu sprechen. Er holte sogar eine Karte hervor, auf der, soweit ich sehen konnte, die Räumung in Etappen schon eingezeichnet war. Nun wurden Marx und Stresemann von allen Seiten bestürmt, die Berliner Reise Luthers aufzugeben und die Zustimmung aus Berlin telegraphisch einzuholen. Sie erklärten sich jedoch lediglich bereit, diese Frage noch einmal zu prüfen. Hätte ich schon eine größere Konferenzerfahrung gehabt, so hätte ich gewußt, daß dies natürlich die Aufgabe des Reiseplanes bedeutete.

 

Am Abend hörte ich dann aus einer Delegationssitzung, daß die Reise Luthers nun tatsächlich nicht stattfinden würde und daß ein langes Telegramm mit einer Darstellung der gesamten Konferenzlage und des Abkommens, so wie es sich aus den Beratungen bisher ergab, nach Berlin abgegangen sei.

Am nächsten Tage schon antwortete das Auswärtige Amt, in einer unter Vorsitz des Reichspräsidenten Ebert abgehaltenen Kabinettssitzung sei der Delegation grundsätzlich die Genehmigung zur Annahme des Abkommens und der letzten Vorschläge Herriots erteilt worden. Damit war die Krise überwunden.

Trotzdem machte Stresemann in einer weiteren Besprechung noch einen allerletzten Versuch, Herriot zur Verkürzung der ganzen Räumungsfrist zu bewegen. Er drang damit nicht durch, erhielt aber die allerdings recht wertvolle Zusage, daß der Dortmunder Bezirk und einige kleinere Gebietsteile sofort nach Unterzeichnung geräumt werden würden.

Bei dieser Unterredung zeigte Herriot wieder eine starke Erregung. „Ich war stets gegen diese Ruhrbesetzung“, rief er mit erhobener Stimme Stresemann zu. „Als mein Vorgänger Poincaré einmarschierte, hat keiner der Alliierten zunächst Widerspruch erhoben. Jetzt aber, wo ich mich mit der Räumung einverstanden erklärt habe, werde ich von allen Seiten unter Druck gesetzt. Ich komme mir vor wie jemand, der eine steile Treppe hinabsteigt und ein kostbares Gut in den Händen trägt – das ist der Friede. Wenn mir jemand in den Rücken stößt, komme ich zu Fall. Auf mich kommt es nicht an, aber wenn ich stürze, geht auch jenes kostbare Gut in die Brüche: der Friede!“

In den letzten Tagen der Konferenz wurden dann in stunden –, oft nächtelangen Sitzungen die technischen Fragen und die Vertragsformulierungen zum Abschluß gebracht. Meine Arbeit betraf dabei wieder hauptsächlich die französisch-sprachigen Verhandlungen, während Kiep weiter für die englischen Übersetzungen sorgte und Michaelis ausgeschaltet blieb. Eine Fülle von technischen Einzelheiten auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet wurde im Zusammenhang mit dem Dawès-Plan geregelt. Der Plan blieb, so wie wir ihn vor Monaten im Sprachendienst übersetzt hatten, die unveränderte Grundlage.

Das Wesentliche an der Londoner Konferenz war „das, worüber eigentlich nicht gesprochen werden durfte“, die zwischen Frankreich, Belgien und Deutschland getroffenen Sondervereinbarungen über die politischen Fragen, d. h. über die Liquidierung des Ruhrabenteuers. Sie wurden nicht in dem eigentlichen Vertrag niedergelegt, sondern fanden ihren Ausdruck in einem amtlichen Briefwechsel zwischen den beteiligten Delegationen. Als das Wichtigste aber erschien mir damals und erscheint mir heute noch das, worüber überhaupt keine schriftlichen Abmachungen getroffen wurden: die grundsätzliche Abkehr von der Methode des Diktates der Sieger über die Besiegten und die erstmalige Einführung eines neuen Verhandlungsverfahrens, indem sich sämtliche Beteiligten als Gleichberechtigte am Verhandlungstisch gegenübersaßen – wenn auch zunächst nur formell; aber auch das war schon ein großer Fortschritt und die unerläßliche Voraussetzung für die spätere Befriedung. – Nach der überreizten, kriegsähnlichen Atmosphäre, die der Ruhreinmarsch heraufbeschworen hatte, war damit trotz aller sachlichen Einschränkungen ein sehr bedeutender Schritt getan.

Wesentlich ergänzt wurde dieses Verfahren durch die erstmalige Aufnahme des persönlichen Kontaktes in ungezwungener Aussprache zwischen den verantwortlichen Staatsmännern. Was ich dabei auf der französischen Seite erlebte, hatte sich gleichzeitig, zwar in weniger dramatischer Form, aber doch im selben Geist, auch auf der englischen Seite in den Gesprächen abgespielt, die MacDonald und Kellogg mit den Deutschen geführt hatten. Es war tatsächlich die Morgendämmerung einer besseren Zeit in den internationalen Beziehungen am Horizont sichtbar geworden. Der Silberstreifen war trotz aller späteren Rückschläge und Vorbehalte keine Illusion gewesen.

Zu den Problemen, die damals in der Luft lagen, gehörte auch die Kriegsschuldfrage. Bekanntlich wurde Deutschland im Versailler Vertrage die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg aufgebürdet. Bald nach Versailles war in Deutschland und auch in der übrigen Welt Widerspruch gegen diese Schuld these erhoben worden, und zwar auf Grund von Dokumenten, die erst allmählich aus den geheimen Archiven der Kanzleien an die Öffentlichkeit gelangten. Die deutsche Regierung hatte ursprünglich die Annahme des Dawes-Planes dazu benutzen wollen, um gegen die Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkriege Stellung zu nehmen. Es bestand die Absicht, diese Erklärung in der Schlußsitzung der Londoner Konferenz abzugeben. Die Schlußrede des Reichskanzlers Marx, die wir vorher übersetzt hatten, enthielt auch einen entsprechenden Passus.

Die deutsche Delegation, der wohl bekannt war, wie scharf die Reaktion der Alliierten auf eine amtliche deutsche Zurückweisung der Schuldthese sein würde, hielt es für erforderlich, zumindest MacDonald vorher zu informieren, um einen Zwischenfall und ein Scheitern der Konferenz im letzten Augenblick nach Möglichkeit zu verhindern. Denn auf dieser These von der Alleinschuld Deutschlands beruhte ja das ganze Gebäude des Nachkriegseuropas, wie es sich aus dem Versailler Vertrag ergab. Letzten Endes bildete sie auch die Grundlage für die mit so vieler Mühe unter Dach und Fach gebrachte Reparationslösung im Dawes-Plan.

So bereitete sich denn Marx darauf vor, MacDonald am letzten Tage der Konferenz, am 16. August, noch unter vier Augen zu informieren. An diesem Tage jagte jedoch eine Besprechung die andere. Es war den ganzen Tag über einfach nicht möglich, MacDonald allein zu sprechen. Immer näher rückte die für 6 Uhr nachmittags im englischen Auswärtigen Amt angesetzte Schlußsitzung. Marx beabsichtigte, MacDonald noch kurz vor deren Eröffnung über sein Vorhaben ins Bild zu setzen. So fuhren wir denn etwas früher in das Foreign Office. Hier stellte sich jedoch heraus, daß die Alliierten bereits seit einiger Zeit in einem anderen Raum unter sich berieten, so daß sich wieder keine Gelegenheit zu einer Aussprache ergab. Die Sitzung der Alliierten zog sich länger, als erwartet, hin; dadurch begann die Schlußkonferenz erst geraume Zeit später als vorgesehen. Natürlich war nun nicht mehr daran zu denken, MacDonald gewissermaßen zwischen Tür und Angel über diesen wichtigen deutschen Schritt ins Bild zu setzen.

Inzwischen hatten wir von einigen nicht an der alliierten Beratung teilnehmenden Engländern gehört, daß in der Schlußsitzung nur die Unterzeichnung des Vertragswerkes vorgenommen werden würde und daß MacDonald als einziger eine Schlußrede halten sollte.

Die drei deutschen Hauptdelegierten berieten sich wegen dieser neuen Lage kurz in einer Ecke des Konferenzsaales. Nun würde ja Marx gar nicht mehr sprechen können und auch seine Erklärung in der Schuldfrage nicht loswerden. Es wurde also beschlossen, die Aktion auf später zu verschieben und die Erklärung bei Annahme des Dawes-Abkommens durch den Reichstag abzugeben. Dies sei, so hörte ich Stresemann sagen, vielleicht ein geeigneterer Augenblick, da er die Gefahr von unangenehmen Reaktionen der Gegenseite praktisch ausschließe.

Wenige Minuten danach war die alliierte Besprechung zu Ende, und die Schlußsitzung der Londoner Konferenz begann. Sie war wie so viele andere Schlußsitzungen, die ich später noch mitmachte, alles andere als feierlich. Monoton verlas Sir Maurice Hankey, der englische Generalsekretär der Konferenz, einige technische Erläuterungen für die Paraphierung des Abkommens„ das in einem vom 16. August datierten Protokoll vorlag. In diesem wurde festgestellt, daß alle beteiligten Regierungen und die Reparationskommission die Annahme des Sachverständigenplans bestätigt und seiner Ingangsetzung zugestimmt hätten. Vier Abkommen zur Durchführung des Planes waren als Anlagen dem Protokoll angeschlossen.

Gleichzeitig mit dem Protokoll und seinen Anlagen wurde ein Schriftwechsel zwischen Frankreich und Belgien einerseits und Deutschland andererseits über die militärische Räumung des Ruhrgebietes veröffentlicht. In diesem wurde zwar die Maximalfrist von einem Jahre beibehalten, in einem zweiten Schreiben Herriots und der Belgier aber wurde die militärische Räumung der Zone Dortmund-Hörde und der seit dem 11.Januar 1923 außerhalb der Ruhr besetzten Gebiete für den Tag nach der Unterzeichnung des Londoner Abkommens vorgesehen.

In einem ebenfalls unter dem Datum des 16. August 1924 veröffentlichten Brief MacDonalds an die Ministerpräsidenten Frankreichs und Belgiens, der dem deutschen Reichskanzler offiziell in Abschrift zugestellt wurde, erklärte dazu noch die britische Regierung, daß sie „mit allem Nachdruck darauf dringe, daß die beteiligten Regierungen jeden nur möglichen Schritt tun, um die Räumung zu beschleunigen, da nach Ansicht der britischen Regierung die Aufrechterhaltung der Besetzung die Durchführung des Dawes-Planes beeinträchtigen und die Abmachungen gefährden könnte, die auf der Londoner Konferenz vereinbart worden sind“.

Mit besonderem Interesse las ich gerade diese Sätze damals am letzten Tage der Konferenz. Zeigten sie mir doch, welch weiten Weg die deutsche Delegation unter Stresemanns Führung seit der Eröffnung der Konferenz zurückgelegt hatte, als „über das eigentliche Thema überhaupt nicht gesprochen werden durfte“.

Nach den nüchternen, technischen Ausführungen von Sir Maurice Hankey ergriff MacDonald das Wort zur Schlußrede. „Meine Freunde!“ redete er die Konferenzteilnehmer an, „ich möchte Sie und uns zum erfolgreichen Abschluß der gemeinsamen Arbeiten beglückwünschen.“ „Könnte sich wohl“, fuhr er fort, „irgend jemand das Unheil vorstellen, das geschehen wäre, wenn unsere Konferenz keinen Erfolg gehabt hätte? Wir haben am heutigen Tage das erste durch Verhandlungen zustande gekommene Abkommen seit dem Kriege erzielt. Wir haben versucht, einander so weit entgegenzukommen, wie es uns die öffentliche Meinung der verschiedenen Länder gestattete.“

In diesem auf Freundschaft und Frieden abgestellten Ton, der MacDonald offensichtlich von Herzen kam, fuhr er noch eine Weile lang fort. Nach einem Ausblick auf die gleichfalls noch durch internationale Vereinbarungen zu lösenden Probleme der interalliierten Schulden, der Abrüstung und der Sicherheit im Rahmen des Völkerbundes schloß er mit folgenden Worten: „Das Allerwichtigste jedoch ist heute, daß wir sicher sind, uns auf dem rechten Wege zu befinden. Ich glaube, daß wir ihn in unseren Beratungen gefunden haben, und, wie lange oder wie kurz die Herrschaft jedes einzelnen von uns sein mag – wir sind nichts als Strohhalme im Wirbel der öffentlichen Gunst –, wir haben allen Grund, stolz darauf zu sein, daß wir das Glück hatten, an dieser historischen Konferenz teilzunehmen, die eben im Begriff ist, so erfolgreich zu enden.“

Wir erwarteten nun, daß zur Paraphierung der Texte geschritten würde, aber zu unserer Überraschung meldete sich noch Herriot zum Wort. Zuerst sah es so aus, als wolle er lediglich im Namen sämtlicher Delegierten MacDonald und der englischen Regierung für deren Gastfreundschaft und für die tatkräftige Mithilfe beim Zustandekommen der Vereinbarungen danken. Dann aber sprach er eine ganze Weile nur Von Frankreich und stellte die schon während der Konferenz vertretenen Thesen wirksam und beredt dar.

„Zwar haben wir nicht alle Fragen lösen können, aber wir sehen schon heute die Morgenröte, die den neuen Tag ankündigt, heraufsteigen und wir können hoffen, daß wir bald das helle Licht des Tages erblicken werden.“

So gut gemeint und zutreffend wohl auch besonders die letzte Äußerung war, so brachte die Tatsache, daß nun doch außer MacDonald einer der Delegationsführer das Wort ergriffen hatte, die deutsche Delegation in einige Verlegenheit. Sollte nun Marx auch seinerseits noch seine vorbereitete Rede halten? Bestand nicht die Gefahr, daß die Erklärung über die Kriegsschuldfrage einen Eklat herbeiführen würde?

Die drei Hauptdelegierten Deutschlands steckten die Köpfe zusammen. Von seinem Platz hinter ihnen beteiligte sich Herr Schubert mit hochrotem Gesicht an der, wie ich aus der Ferne zu bemerken glaubte, offenbar recht erregten Unterhaltung.

Inzwischen hatten sich auch noch die Amerikaner, die Belgier und die Italiener zum Wort gemeldet. Von ihren Ausführungen ist mir heute nichts mehr erinnerlich, was irgendwie bemerkenswert wäre. Nun aber blieb Marx nichts weiter übrig, als seine Rede zu halten. Er meldete sich zum Wort und betonte, welch schweren Entschluß die Annahme des Dawes-Planes für die deutsche Regierung bedeute. Als Jurist begrüßte er die wichtige Rolle, die dem Schiedsgerichtsverfahren in den Abkommen zugewiesen worden sei, und gab zum Schluß seiner Genugtuung über den hohen Geist des Friedens und der Versöhnlichkeit Ausdruck, der auf der Konferenz gewaltet habe. Seine Ausführungen fanden wiederholt lebhaften Beifall, besonders bei den Engländern und Amerikanern. Ich wartete interessiert auf die Aufnahme, die die Distanzierung von der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands finden würde, aber ich wartete vergeblich. Marx setzte sich wieder auf seinen Platz. Er hatte die kritischen Sätze weggelassen.

 

Nach ihm übersetzte Michaelis ins Englische und Französische. Er machte seine Sache hervorragend. Auch den ruhigen Ton von Marx traf er sehr gut. Wieder folgte bei beiden Fassungen starker Beifall, immer ein gutes Zeichen für die Qualität der Übersetzung. Michaelis hatte gut aufgepaßt – auch er ließ den in der vorbereiteten Rede enthaltenen Passus über die Schuldthese weg.

Dann traten die einzelnen Delegierten nacheinander an die Tische auf der einen Seite des großen Sitzungssaales, von dem aus man über den Green Park bis in den Hyde Park hineinsehen konnte. Die Vertragsdokumente wurden paraphiert. Länger als eine halbe Stunde dauerte es, bis der letzte Delegierte seine Initialen daruntergesetzt hatte. Dann schloß MacDonald die Sitzung, und meine erste Großkonferenz war zu Ende.

Noch am selben Abend reiste die deutsche Delegation nach Berlin zurück. Ich selbst glaubte damals die Gelegenheit wahrnehmen zu müssen, im Anschluß an London auch der Hauptstadt Frankreichs einen Besuch abzustatten. „Wer weiß, wann sich eine solche Möglichkeit wieder einmal ergibt“, hatte ich zu dem Leiter des Sprachendienstes gesagt, der mir diese Reise ermöglichte. Darin hatte ich mich gründlich getäuscht. Denn schon im Herbst desselben Jahres begleitete ich die deutsche Wirtschaftsdelegation nach Paris, die dort mit Unterbrechungen drei volle Jahre über einen Handelsvertrag mit den Franzosen verhandelte, so daß ich reichlich Gelegenheit hatte, die Hauptstadt Frankreichs und ihre Bewohner kennenzulernen.