Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945

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Zum ersten Male sprach an jenem Abend auch Stresemann persönlich mit mir. Er war so freundlich, mir einige anerkennende Worte über meine Arbeit zu sagen, und bat mich, ihn von nun ab bei allen Verhandlungen zu unterstützen. Auch der Reichskanzler deutete an, er sei nach dem Ruhrzwischenfall mit Herriot vom Vormittag sehr erfreut gewesen, daß sich dank meiner ruhigeren Sprache trotz der umstrittenen Punkte und der delikaten Fragen, die auf der Sitzung behandelt worden seien, keine Schwierigkeiten mit Herriot mehr ergeben hätten.

Von nun an fuhr ich regelmäßig mit Marx und Stresemann vor- und nachmittags in die Konferenzsitzungen, die manchmal im britischen Auswärtigen Amt, manchmal auch in den Räumen des englischen Premierministers im Unterhaus stattfanden.

Heute erscheinen mir die damals in den offiziellen Sitzungen behandelten Fragen verhältnismäßig unwichtig gegenüber der politischen Entwicklung, die sich in Privatgesprächen anbahnte. Auch hier spielten sich die wichtigsten Vorgänge außerhalb der Verhandlungsräume ab.

Das Ereignis, das alles andere, was auf der Konferenz sonst noch geschah, an Wichtigkeit übertraf und dessen Rückwirkungen weit über die Lebensdauer des Dawes-Abkommens hinausreichten, war die erste persönliche Begegnung, die hier in London nach dem Weltkriege von 1914 zwischen dem deutschen und dem französischen Außenminister stattfand. Es war das erstemal seit über zehn Jahren, daß sich die außenpolitischen Vertreter dieser beiden Nachbarvölker unter vier Augen in einer fast zweistündigen persönlichen Aussprache gegenübersaßen.

Es war nicht ganz leicht gewesen, diese Begegnung zustande zu bringen. Im Anschluß an jene Abendsitzung, an der ich zum ersten Male als Dolmetscher für Stresemann auftrat, hatte Herriot noch persönlich darum gebeten, daß man keinen Versuch machen möge, eine Besprechung mit dem deutschen Reichskanzler oder dem Reichsaußenminister herbeizuführen. Aber bereits an einem der nächsten Tage hatte er durch einen Vertrauensmann seinen Wunsch übermitteln lassen, mit der deutschen Delegation in Fühlung zu kommen. Daraufhin waren zunächst formelle Höflichkeitsbesuche ausgetauscht worden, die nur von sehr kurzer Dauer waren und bei denen von allem anderen als von Politik gesprochen wurde. Ich hatte allerdings schon bei diesen kurzen Gelegenheiten den Eindruck, daß sich Herriot bemühte, Marx und Stresemann so freundlich wie möglich entgegenzukommen. Er hatte sogar versucht, mit ihnen etwas deutsch zu sprechen, und erschien beide Male aufgeräumt und zugänglich.

Einige Tage später kam durch Vermittlung MacDonalds ein wirkliches politisches Gespräch, zwar nicht mit Marx, der ja als Reichskanzler der eigentliche Gesprächspartner des französischen Ministerpräsidenten gewesen wäre, sondern mit dem Reichsaußenminister Stresemann zustande. Aber da die außenpolitischen Probleme dem Reichskanzler fern lagen, war die Kombination Stresemann-Herriot natürlich die bei weitem günstigere.

Bezeichnend für die Stimmung in Frankreich war es, daß diese Besprechung mit großer Sorgfalt vor der Öffentlichkeit geheimgehalten werden mußte. Es wurde uns gesagt, daß Herriot der öffentlichen Meinung seines Landes gegenüber eine persönliche Aussprache mit dem deutschen Außenminister nicht vertreten könne und daß ihm die Rechtsopposition in der Kammer und sogar innerhalb seines Kabinetts die größten Schwierigkeiten machen würde, wenn über das Zusammentreffen mit Stresemann auch nur das geringste verlaute. In Frankreich sei man natürlich argwöhnisch und werde aus dieser Begegnung den naheliegenden Schluß ziehen, daß in London eben doch nicht nur über die Reparationen verhandelt worden sei, sondern darüber hinaus die als tabu bezeichneten politischen Fragen, vor allen Dingen das Ruhrproblem, behandelt worden seien, entgegen den Zusicherungen, die Herriot vorher in Frankreich hatte abgeben müssen.

So wurde denn diese Unterredung mit einem Geheimnis umgeben, das eines Detektivromanes würdig gewesen wäre. Die Hallen der Delegationshotels waren natürlich Tag und Nacht von der Presse der ganzen Welt belagert. Nicht einen Schritt konnten die Staatsmänner tun, ohne daß es mindestens einem Journalisten sofort auffiel. Wenn einer der Außenminister mit einem der großen Autos, die die englische Regierung ihnen zur Verfügung gestellt hatte, irgendwohin fuhr, folgte ihm meist ein ganzes Rudel von Journalistenwagen; mit einem Geschick, das man sonst nur auf Sechstagerennen im Berliner Sportpalast anzutreffen pflegte, hängten sie sich an das „Hinterrad“ des betreffenden Ministerwagens und verloren es auch im dichten Gewühl der Londoner Straßen nicht mehr.

Um dieser „Verfolgung“ zu entgehen, verließen Stresemann und ich das Hotel zu Fuß durch einen Nebenausgang. Ich glaube, es war sogar die Lieferantentreppe. Wir schlenderten dann gemächlich Piccadilly entlang und blieben an einigen Schaufenstern stehen, um den Eindruck zu erwecken, daß wir nur einen Bummel durch die Straßen machen wollten, sollte uns doch einer der Journalisten aufgespürt haben und uns gefolgt sein. Es war alles genau so, wie es in den Detektivgeschichten beschrieben wird. Es spielten sogar richtige Detektive dabei mit. Das waren die beiden englischen „Inspectors“ von Scotland Yard, die für Stresemanns Sicherheit zu sorgen hatten; sie waren die einzigen, die über unser eigentliches Ziel Bescheid wußten. Sie folgten uns so „unauffällig“, wie das in ihren Dienstvorschriften vorgesehen ist, und wie sie es, besonders in England, durch lange Übung meisterhaft verstehen. Durch nichts unterschieden sich die beiden freundlichen englischen Gentlemen, die im eifrigen Gespräch miteinander scheinbar ihre Umgebung völlig vergessen hatten, von den übrigen Straßenpassanten, ganz im Gegensatz zu ihren kontinentalen Kollegen in Deutschland oder in Frankreich, denen man, damals jedenfalls, am Schlapphut und Regenmantel oder dem ungerollten Regenschirm, wenn nicht gar an einem wachtmeisterlichen Schnurrbart, den Beruf oft sofort ansah.

Im dichtesten Gewühl des Piccadilly Circus erwartete uns ein englischer Wagen, den wir mit einiger Hast bestiegen, und in dem sich nach einigen hundert Metern unsere beiden „Inspectors“ zu uns gesellten. Wir fuhren einmal die große Straße bis zum Buckingham Palace entlang und bogen dann in die Mall ein, wo wir vor dem großen Gebäude des Royal Automobile Club hielten.

Unsere beiden englischen Kriminalpolizisten gingen uns in das Gebäude voran, wechselten ein paar schnelle Worte mit dem uniformierten Portier und geleiteten uns dann zum Fahrstuhl, der sich sofort in Bewegung setzte, ohne auf noch andere gerade vom Eingang herkommende Fahrgäste zu warten. In einem Film hätte diese Szene auch nicht naturgetreuer dargestellt werden können.

In einem der oberen Stockwerke gelangten wir dann nach einigem Hin und Her in ein Zimmer, an dessen Tür das Schild „Private“ hing. Wir gingen hinein, während unsere beiden englischen Begleiter plötzlich verschwunden waren.

Auf unseren Gesprächspartner Herriot brauchten wir nicht lange zu warten. Er erschien schon ein paar Augenblicke nach unserem Eintreffen. Sicherlich war er auf ebenso geheimnisvolle Weise an den Ort unserer Zusammenkunft gelangt wie wir. Er hatte niemand mitgebracht, denn es sollte ja ein Gespräch von Mann zu Mann werden, abseits und außerhalb der diplomatischen Gepflogenheiten. Körperlich machte Herriot wieder den gleichen etwas unbeholfenen Eindruck auf mich wie das erstemal. Er war so ganz anders als das Bild, das ich mir von einem Franzosen gemacht hatte. Er hätte ebensogut ein pommerscher Landwirt sein können mit seinen breiten Schultern, seinem massigen Kopf und seinem riesigen Umfang. In diesem gewaltigen Körper aber steckte ein echt französischer Geist mit all seiner feingeschliffenen Formulierungskunst und seiner scharfen, verstandesmäßigen Durchdringung der Probleme. Herriot hatte ein gutmütiges, offenes Gesicht und richtete seine großen Augen fest und forschend auf Stresemann und mich. Wie bei der ersten Begegnung auf der Konferenz hatte ich auch diesmal den Eindruck, daß von Zeit zu Zeit ein gewisses Mißtrauen in seinen Blicken aufleuchtete. Das geschah zwar immer nur für ganz kurze Zeit, aber es war doch nicht zu verkennen.

Mit einem halben Lächeln reichte Herriot Stresemann und mir die Hand und nickte dabei freundlich mit dem Kopf. Dann ließ er seinen schweren Körper in den dritten Sessel an dem kleinen runden Tisch sinken, streckte behaglich die Beine von sich, holte eine große Pfeife hervor und stopfte sie langsam und bedächtig aus einem noch größeren Tabaksbeutel. Was ich allgemein über Pfeifenraucher bemerkt habe, fiel mir auch hier wieder ein. „Er raucht die Friedenspfeife“, schoß es mir durch den Sinn.

Ehe das Gespräch begann und meine Aufmerksamkeit durch die technische Seite meiner Aufgabe in Anspruch genommen wurde, hatte ich noch ein paar Augenblicke lang so deutlich wie selten das Gefühl, der Eröffnung eines neuen Kapitels, ja eines ganz neuen Buches in der Geschichte der beiden Nachbarvölker, der Deutschen und der Franzosen, beizuwohnen. Fast körperlich wurde mir bewußt, daß in diesem Augenblick von den beiden mir gegenübersitzenden Männern eine unsichtbare, aber trotzdem äußerst reale, scharf trennende Grenze überschritten wurde.

Aus diesen Überlegungen wurde ich durch Stresemanns Stimme herausgerissen, der gleich zu Beginn der Unterhaltung ohne Umschweife auf die Kernpunkte des damaligen deutsch-französischen Verhältnisses zu sprechen kam.

„Gerade Sie als alterfahrener Parlamentarier, Herr Herriot, werden verstehen“, erklärte Stresemann mit einer leicht näselnden, metallisch preußischen Stimme, „daß ich unmöglich vor den Reichstag hintreten kann, um ihm die Annahme des Dawes-Abkommens zu empfehlen, ohne daß über den Hauptpunkt, der die Gemüter in Deutschland seit Anfang des vergangenen Jahres bewegt, die Ruhrfrage und ihre Liquidation, etwas von mir gesagt wird.“

 

Während ich Herriot diese Worte übersetzte und er mir sehr aufmerksam zuhörte, denn er verstand nur sehr wenig Deutsch, verfolgte ich voll innerer Spannung sein Mienenspiel. Ich war durchaus darauf gefaßt, daß er bei der Erwähnung des ominösen Wertes Ruhr wieder so erregt aufbrausen würde wie in der ersten großen Sitzung der Konferenz. Mit einer gewissen Überraschung stellte ich jedoch fest, daß er völlig ruhig blieb und daß sein Interesse auch bei den nachfolgenden Ausführungen Stresemanns nicht geringer wurde und sich in seinen Mienen keinerlei Ablehnung widerspiegelte. Im Gegenteil, von Zeit zu Zeit nickte er sogar zustimmend oder sagte auf deutsch „Ja“ zu diesem oder jenem Punkt.

Stresemann hatte also offenbar die richtige Taktik gewählt. Als er sah, daß Herriot sich der Erörterung dieser Fragen in einem Gespräch von Mann zu Mann nicht entziehen wollte, ergriff er die Gelegenheit mit beiden Händen und gab Herriot ein umfassendes Bild der politischen Lage in Deutschland. In solchen Situationen erwies sich Stresemann immer als Meister. Je länger er sprach, desto mehr erwärmte er sich für die Gedankengänge, die ihm am Herzen lagen, und um so klarer und eindringlicher wurden die Formulierungen, die er zu den einzelnen Punkten fand.

Er schilderte die Gefühle, die die Ereignisse an der Ruhr im deutschen Volk wachgerufen hatten, und zeigte an einzelnen Beispielen, wie sehr ihm die Rechtsopposition unter Ausnutzung dieser natürlichen patriotischen Aufwallung schon während der Vorverhandlungen über das Dawes-Abkommen immer neue Schwierigkeiten bereitet habe. Deshalb müsse hier in London unter allen Umständen gleichzeitig mit der Reparationsvereinbarung auch die Aufhebung der Besetzung des Ruhrgebietes beschlossen werden.

Stresemann hütete sich als geschickter Politiker wohl davor, in diesem Augenblick auf die Rechtsfrage einzugehen. Denn daß der Ruhreinfall Poincarés eine Verletzung des Versailler Vertrages bedeutete, hatte man nicht nur bei uns in der Pressepolemik gegen Frankreich festgestellt, es war auch in der Note des konservativen englischen Außenministers, Lord Curzon, Anfang des Jahres den Franzosen bescheinigt worden. Wie sich später herausstellte, vertrat auch Herriot den Standpunkt, daß die Ruhraktion zu Unrecht erfolgt war. Daß Stresemann es vermied, dieses für Frankreich ungünstige Moment hier zu erwähnen, zeigte den großen Taktiker im hellsten Licht. Es hat bei so delikaten Verhandlungen keinen Zweck, dem Partner gleich von vornherein sein ganzes, von ihm selbst im Innern vielleicht längst erkanntes Unrecht vorzuhalten und dadurch lediglich eine menschlich verständliche Widerstandsregung hervorzurufen.

Herriot stellte den deutschen innerpolitischen Schwierigkeiten Stresemanns die Opposition im eigenen Lager, in der französischen Kammer und sogar in der eigenen Regierung, besonders von seiten des französischen Kriegsministers, entgegen.

„Ich habe überhaupt nur an der Londoner Konferenz teilnehmen können“, fügte Herriot temperamentvoll hinzu, „weil ich in der Kammer und im Senat versprach, daß hier in London von der Ruhr und von politischen Dingen nicht gesprochen würde. Es sollte nur ein Beschluß über die Durchführung des Dawes-Planes gefaßt werden.“

„Eine eigenartige Konferenz, auf der vom Thema nicht gesprochen werden darf“, warf Stresemann sarkastisch ein, aber Herriot störte sich nicht an diesem ironischen Zwischenruf, sondern fuhr fort: „Dieses Versprechen glaubte ich ohne weiteres abgeben zu können, weil mir MacDonald bei unserer Zusammenkunft in Chequers ausdrücklich versichert hatte, daß die Ruhr auf der Londoner Konferenz mit keinem Wort erwähnt werden würde.“

Stresemann schüttelte den Kopf. „Sie können sich mein Erstaunen vorstellen“, sprach Herriot weiter, „als am zweiten Tage nach Eröffnung der Verhandlungen in London MacDonald mir in einer Verhandlungspause unversehens auf die Schulter klopfte und mich fragte, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt:,Was machen wir nun mit der Ruhr, Herr Herriot?’ Ich wäre fast zu Boden gesunken vor Überraschung.“

Herriot hatte sich warm geredet bei der Schilderung dieses Zwischenfalles und stellte nun in sehr temperamentvoller Weise die Schwierigkeiten dar, auf die er sich in Frankreich gefaßt machen müsse, wenn er trotz des abgegebenen Versprechens Zugeständnisse in der Frage der Ruhrräumung machen würde.

„Die unausbleibliche Folge wäre der Sturz meiner Regierung. Und damit wäre der Sache des Friedens und der Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland ein schlechter Dienst geleistet, denn mein Nachfolger wäre entweder Poincaré, der schon jetzt eifrig gegen mich arbeitet, oder ein anderer, ihm geistesverwandter Politiker der Rechten.“

Diese anscheinend unabänderlich negative Reaktion Herriots wirkte auf Stresemann wie ein kalter Wasserstrahl. Jetzt aber zeigte sich seine zweite große Eigenschaft. Er ließ sich auch von einem anscheinend unüberwindlichen Hindernis nicht abschrecken. Beharrlich bemühte er sich immer von neuem, seinem Ziel näherzukommen. Insofern war diese grundlegende Aussprache mit dem französischen Ministerpräsidenten charakteristisch für Stresemanns gesamte Außenpolitik, so wie ich sie in den folgenden Jahren miterlebte.

Er versuchte auf einem anderen Wege bei Herriot Verständnis für die Notwendigkeit und die Möglichkeit eines Nachgebens in der Ruhrfrage zu gewinnen. Dieser hatte im Verlauf seiner Bemerkungen auf das ungeheure Mißtrauen hingewiesen, das in Frankreich immer noch gegenüber Deutschland herrschte, und hatte angedeutet, man müsse zunächst einmal feststellen, ob Deutschland auch wirklich abgerüstet habe, ehe Frankreich auf politischem Gebiet zu Konzessionen bereit sein würde. Herriot hatte die Frage der Militärkontrolle mit der Räumung der Ruhr verbunden und dabei gleichzeitig auf die Befürchtungen Frankreichs wegen der nationalistischen Tendenzen in der deutschen Innenpolitik hingewiesen.

Stresemann erwiderte schlagfertig, das beste Mittel, den nationalistischen Bestrebungen in Deutschland entgegenzuarbeiten, bestehe für Frankreich darin, Deutschland gegenüber eine vernünftige Politik zu verfolgen, wodurch den nationalistischen Elementen das Wasser abgegraben werde. Er zeigte, wie stark in Deutschland die Kräfte seien, die einer deutsch-französischen Verständigung positiv gegenüberstünden. Er wies insbesondere auf die Haltung der deutschen Industriellen hin, die trotz der Agitation Hugenbergs in ihrer großen Mehrheit für die Annahme des Sachverständigengutachtens eingetreten seien. Die Elemente der Vernunft und der Verständigung hielten in Deutschland den nationalistischen Strömungen durchaus die Waage. Es sei das klügste, was Frankreich tun könne, diesen vernünftigen Elementen durch eine geeignete Politik zu einem Übergewicht zu verhelfen.

In diesem Zusammenhang kam Stresemann auf die Gesten zu sprechen, die Frankreich ohne große Opfer Deutschland gegenüber machen könne, und deren Wirkung im Reich sehr nachhaltig sein würde. Auch hierbei handele es sich in erster Linie um die Liquidation des Ruhrunternehmens. Einer der wichtigsten psychologischen Faktoren sei dabei eine Amnestie für die sogenannten Ruhrverbrecher, die von Militärgerichten abgeurteilt worden seien.

In diesem Punkt erklärte sich Herriot ohne weiteres zu einer Geste bereit. Es war charakteristisch für seine menschliche Einstellung und zeigte sein wirkliches Verständnis für die Lage, daß er wörtlich dazu bemerkte: „Ich liebe Frankreich und ich liebe jeden, der für Frankreich kämpft; deshalb habe ich volles Verständnis dafür, daß Deutschland für jeden eintritt, der im Ruhrkampf für Deutschland gekämpft hat.“

Wer das Kernproblem der Liquidation der Ruhrunternehmung auf rein menschlichem Gebiet so klar erkannt hat und es offen zugibt wie dieser Franzose, dachte ich mir bei diesen Worten, der ist in seinem Innern sicherlich ebenso wie Stresemann von der Notwendigkeit überzeugt, gleichzeitig mit dem Dawes-Abkommen auch eine Vereinbarung über die Ruhrräumung zu treffen. Dies genau so offen auszusprechen wie sein Einverständnis in der Amnestiefrage, hinderten ihn wohl nur die Schwierigkeiten im eigenen Lager. Herriot war ein „homme de bonne volonté“, aber er fühlte sich nicht stark genug und war zu sehr in das Spiel der französischen Parteien verwickelt, als daß er sofort eine kühne Initiative hätte ergreifen können, um das von ihm als notwendig Erkannte durchzusetzen.

Zwei Stunden zog sich dieses wahrhaft historische Gespräch in Rede und Gegenrede hin. Immer wieder und mit immer eindringlicheren Argumenten ging Stresemann zum Angriff vor. Man merkte deutlich, wie er mit jedem Male überzeugender auf Herriot wirkte, der sich jedoch stets von neuem hinter der Opposition im eigenen Lager verschanzte; besonders der Name des Kriegsministers Nollet, des früheren Leiters der alliierten Kontrollkommission in Deutschland, fand dabei wiederholt Erwähnung.

Offensichtlich fühlte sich Herriot zu unsicher, um irgend etwas Positives zuzusagen. Während sich das Gespräch immer länger ausdehnte, sank die Temperatur von Viertelstunde zu Viertelstunde merklich. Herriot wurde immer nervöser, weil er die mit steigendem Nachdruck von Stresemann geforderte Räumung des Ruhrgebietes nicht zugestehen konnte, und Stresemann wurde seinerseits immer ungeduldiger, weil er so gar keine konkrete Wirkung seiner Worte verspürte.

Schließlich geriet das Gespräch vollends ins Stocken, minutenlang saßen sich die beiden Männer schweigend gegenüber. Nicht etwa, daß sie sich im Laufe des Gespräches auseinandergeredet und sich persönlich entzweit hätten. Ganz im Gegenteil, menschlich waren sie sich beide sicherlich nähergekommen. Denn sie hatten ohne Umschweife in aller Offenheit nicht als Politiker, sondern als Männer, die um den europäischen Frieden besorgt waren, miteinander geredet, hatten dabei aber erkennen müssen, wie fast hoffnungslos groß die Schwierigkeiten waren, die sich ihnen entgegenstellten.

Am Ende einer solchen Gesprächspause holte Herriot auf einmal tief Luft, so, als habe er sich zu einem schweren Entschluß durchgerungen. Ich fürchtete schon, er wolle Stresemann sagen, er müsse leider einsehen, daß sie beide nicht in der Lage seien, über die Ruhrräumung eine Einigung zu erzielen, und daß es besser sei, die Unterredung abzubrechen.

Zu meiner Überraschung aber trat genau das Gegenteil ein. Irgendwie ungehemmter und befreiter, redete sich Herriot die ganze Abneigung von der Seele, die er von vornherein gegen das Ruhrabenteuer empfunden hatte. Er sei sich darüber klar, daß die jetzige Stimmung in Deutschland, über die sich Frankreich so beunruhige, letzten Endes das Werk Poincarés sei, und er stimme Stresemann durchaus darin zu, daß man durch eine vernünftige Politik die nationalistische Haltung gewisser deutscher Kreise am besten eindämmen könne. In dieser Erkenntnis wolle er daher Stresemann zusagen, daß er sich nach Paris begeben werde, um dort seinen ganzen Einfluß zugunsten einer Räumung des Ruhrgebietes, von deren Notwendigkeit er selbst überzeugt sei, geltend zu machen. Es sei durchaus ungewiß, mit welchem Erfolg er aus Paris zurückkehren werde; vielleicht werde er überhaupt nicht zurückkommen, weil er mit der Möglichkeit rechne, bei dem Vorschlag einer Ruhrräumung oder der bloßen Andeutung, daß er mit Stresemann trotz seiner gegenteiligen Zusage über diese Frage gesprochen habe, gestürzt zu werden.

„Auf jeden Fall verspreche ich Ihnen aber, Herr Stresemann, daß ich alles in meinen Kräften Stehende tun werde, Ihren begreiflichen Wunsch nach irgendeiner Abmachung über die Ruhrräumung zu erfüllen und Ihnen dadurch Ihre Stellung gegenüber Ihren eigenen Landsleuten zu stärken“, fügte er ernst hinzu. Man glaubte ihm ohne weiteres, daß er dieses Versprechen halten würde, sah ihm aber gleichzeitig die Besorgnis an, die er wegen des zu erwartenden Kampfes in Paris hegte.

Bei diesen Worten hellte sich die vorher recht düster gewordene Atmosphäre der Unterredung zusehends auf. Mir fiel das Wort von dem Silberstreifen wieder ein. Es zeigte sich tatsächlich ein erster Hoffnungsschimmer am Horizont. In Deutschland hatte man angesichts der Ereignisse des letzten Jahres und der französischen Politik seit Beendigung des Krieges die Franzosen im Unterbewußtsein immer irgendwie als einer Einigung mit Deutschland abgeneigt angesehen. Nun hatte sich innerhalb von zwei Stunden bei diesem Franzosen, der uns hier gegenübersaß, das Gegenteil herausgestellt. Das war etwas, was mich mit großer Hoffnung für die Zukunft erfüllte. Daß diese Erwartungen nicht unberechtigt waren, zeigten nicht nur die nächsten Tage auf der Londoner Konferenz, sondern auch die nächsten Jahre der deutsch-französischen und europäischen Politik. Dieses wahrhaft historische erste Gespräch bewies mir, daß selbst größte Schwierigkeiten von Männern guten Willens überwunden werden können. Bildete doch diese Aussprache hinter den verschlossenen Türen des englischen Automobilclubs in London den ersten Auftakt zu jener glücklichen Entwicklung in den Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, die gegen Ende der 20er Jahre ihre konkreten Ergebnisse zeitigte. Unbeachtet von der großen Öffentlichkeit wurde in dieser Stunde der Grundstein für das spätere europäische Gebäude gelegt.

 

Aber auch die „Eingeweihten“, ja selbst die deutsche Delegation in London wußten zunächst nichts davon. Auf dem Rückweg ins Ritz-Hotel, den wir diesmal ohne Umwege im Wagen zurücklegten, erteilte mir Stresemann den Auftrag, eine Aufzeichnung über das Gespräch auf Grund meiner Dolmetschernotizen anzufertigen und mit niemandem, auch nicht mit dem Reichskanzler, über das Vorgefallene zu sprechen. Ich durfte meine Aufzeichnung auch nicht diktieren, sondern mußte sie mit eigener Hand niederschreiben. Stresemann wollte die zarte Pflanze der neuen Verständigungspolitik, die an die Stelle der reinen Gewaltpolitik treten sollte, vor allen schädlichen Einwirkungen schützen. Er selbst war von dem Gespräch hoch befriedigt.

So saß ich denn am Abend jenes Augusttages in einem kleinen Zimmer im obersten Stockwerk des Ritz-Hotels, von dem aus der Blick weit über die Dächer Londons schweifte. Ich war tief beeindruckt von der Aufgabe, die mir anvertraut worden war, von dem plötzlichen Hineingestelltsein in die große Politik, und füllte Seite um Seite meiner ersten außenpolitischen Aufzeichnung, auf die noch unzählig viele andere in den nächsten 21 Jahren folgen sollten.

Als ich 1939 in das Ministerbüro versetzt wurde und in den Panzerschränken des historischen Zimmers der „grauen Eminenz“ in der Wilhelmstraße 76 herumstöberte, fand ich auch diese erste eigenhändige Aufzeichnung wieder. Die reichlich ungelenken Ausführungen, die ich damals als Anfänger in London niedergeschrieben hatte, machten mir deutlicher als vieles andere den ungeheuren Unterschied klar, der zwischen einem Stresemann und den „Staatsmännern“ bestand, für die ich in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg Aufzeichnungen anzufertigen hatte. Und das unerwartete Wiedersehen mit der hoffnungsvollen Zeit zu Beginn der Ära Stresemann bestärkte das Gefühl für die herannahende Katastrophe, das sich mir seit 1933 immer mehr aufgedrängt hatte.

Herriot begab sich tatsächlich an einem der nächsten Tage nach Paris. Der Finanzminister Clémentel und der Kriegsminister Nollet begleiteten ihn. Von der Fühlungnahme zwischen Herriot und Stresemann war auch nicht das geringste in die Öffentlichkeit durchgesickert, aber mit jenem feinen Witterungsvermögen, das ich bei den großen Journalisten, mit denen ich in der Folgezeit so oft zusammengekommen bin, immer bewundert habe, schrieb die englische Presse sehr treffend, daß von Herriots Reise nach Paris Erfolg oder Mißerfolg der Konferenz abhinge. Wie gut die Presse informiert war, ersah ich mit Staunen aus der Meldung einer Nachrichtenagentur, in der klipp und klar ausgesprochen wurde, daß zwischen Herriot und seinem Kriegsminister Nollet ein schwerer Konflikt in der Frage der Räumung des Ruhrgebietes ausgebrochen sei. Nollet habe sich scharf gegen jede derartige Maßnahme ausgesprochen und wolle die Räumungsfrage mit der Militärkontrolle verknüpfen, um auf diese Weise Zeit zu gewinnen.

Daß ich voller Spannung alle Nachrichten aus Paris verfolgte, war nur natürlich. Sprechen durfte ich ja mit niemand über das, was mich bewegte, und so hatte ich um so mehr Zeit zum Nachdenken. Wie recht Herriot in seiner Beurteilung der kritischen Situation seines Kabinetts in Frankreich gehabt hatte, erfuhr ich einen oder zwei Tage nach der Unterredung aus der Äußerung eines französischen Delegationsmitgliedes, mit dem ich in einer Verhandlungspause ins Gespräch kam.

Solche Gespräche waren nicht selten. Die jüngeren Mitglieder der französischen Delegation waren zu mir nicht nur in London, sondern auch bei späteren Gelegenheiten immer außerordentlich freundlich. Ich war nach meiner Arbeit auf der Konferenz gewissermaßen in die „Familie“ der technischen Mitarbeiter der einzelnen Delegationen aufgenommen worden. Genau so wie unsere Chefs trafen auch wir Kleineren und Kleinsten uns in der Folge immer wieder an den verschiedensten Stellen Europas zu gemeinschaftlicher Arbeit. Man wurde immer näher mit den einzelnen Sekretären und Sachverständigen der anderen Delegationen bekannt, man tauschte ungezwungen kritische Bemerkungen über die hohen Minister aus, und es bildete sich eine richtiggehende internationale Kameradschaft zwischen uns heraus. Im Laufe der Zeit gehörte ich mehreren solcher internationalen Familien an, deren Mitglieder sich in fast regelmäßigen Zeitabständen trafen.

Da war zunächst die Reparationsfamilie, wie ich sie zum ersten Male in London kennenlernte. Dann trat später eine allgemein politische Familie in Erscheinung, mit der ich zum ersten Male in Locarno und später beim Völkerbund in Genf auf den regelmäßigen Ratssitzungen und Vollversammlungen zusammentraf. Daneben bestand noch die Wirtschaftsfamilie, deren Mitglieder sich bei den Wirtschaftsverhandlungen und Weltwirtschaftskonferenzen begegneten, und den Abschluß bildete die mit Militärs stark durchsetzte Abrüstungsfamilie. Die Minister mochten kommen und gehen, aber die Sekretäre und die technischen Berater blieben meistens dieselben und bildeten auf diese Weise einen nicht zu unterschätzenden, internationalen Zusammenhalt, der durchaus den Namen einer Familie verdiente.

Daß für mich persönlich außerdem noch ein starker Kontakt zu den Dolmetschern bestand, insbesondere später zu den hervorragenden Könnern des Völkerbundes in Genf, ist selbstverständlich. Aber auch hier fiel mir besonders angenehm das freundliche Entgegenkommen meiner ausländischen Kollegen auf, die mich, den Neuling und den Jüngsten in ihrem Kreise, unterstützten und mir in manchen beruflich schwierigen Augenblicken, an denen es nicht fehlen sollte, Mut zusprachen.

Als damals in London bei solch einer „Familienunterhaltung“ einer der Sekretäre der französischen Delegation so ganz leichthin, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, erklärte: „Wer weiß, ob Herriot überhaupt aus Paris wieder zurückkommt“, konnte ich wegen meines Schweigegebotes das Gespräch natürlich nicht vertiefen und nach dem Warum fragen. Aber ich fürchtete, daß die pessimistische Voraussage von Herriot sich nun doch bewahrheiten würde. Mit Stresemann sprach ich in den ganzen Tagen nicht über die politische Lage oder den Verlauf der Konferenz. Er hatte den Kopf mit anderen Dingen zu voll, und ich war ja auch schließlich nur der Dolmetscher, mit dem er keine tiefgründigen Gespräche führen würde.

Um so erfreuter war ich, als an einem der nächsten Tage ein Kommuniqué über die kritische Sitzung des französischen Ministerrates in Paris herauskam, in dem es hieß, daß das Kabinett dem Ministerpräsidenten Herriot „einmütig seine volle Zustimmung“ erteilt habe, und daß dieser sich bereits auf dem Rückweg nach London befinde.

Die Konferenz hatte inzwischen mehrere Unterausschüsse gebildet, in denen die einzelnen technischen Fragen über die Durchführung des Dawes-Planes beraten wurden. Interessant erschien mir insbesondere der Einfluß, der sich von außenher, von seiten der Bankiers, geltend machte; sie sollten die Gelder für die Deutschland zu gewährende Anleihe aufbringen, welche zur Ingangsetzung des Dawes-Planes notwendig war. Diese nüchternen, unsentimentalen Rechner stellten dafür eine Reihe von Bedingungen auf, die lediglich von wirtschaftlichen und finanziellen Überlegungen diktiert waren und sich in vielen Punkten mit den deutschen Forderungen deckten.