Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945

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Unter diesen Umständen waren die ersten Jahre im Völkerbund, vor allem die Ratssitzungen, für mich eine rechte Nervenanspannung. Auf meinem kleinen Stühlchen hockend, den Kopf tief über meine improvisierte Schreibunterlage gebeugt, machte ich fieberhaft Notizen, wenn der deutsche Delegierte, wie mir schien, hoch über mir und von mir weg in den Raum hineinsprach, und mußte mich sehr zusammennehmen, mich nicht durch Nebengeräusche oder durch die sich an mir vorbeiwindenden Sekretäre ablenken zu lassen. Wenn ich dann aufstand, sah ich die gespannten Gesichter der Ratsmitglieder zu mir gewandt; Chamberlain schien in meiner Einbildung immer ein besonders kritisches Gesicht zu machen. Vor der Ratstafel saß etwas tiefer die Weltpresse an langen Tischreihen wie das Publikum in einem Theater vor der Bühne und paßte, wie mir schien, ebenso kritisch auf meine Übersetzung auf wie Chamberlain. Weiter hinten das Publikum mit Lorgnons und Operngläsern, die in der ersten Zeit auch nicht gerade beruhigend auf mich wirkten. Hinter mir glaubte ich die deutschen Sachverständigen manchmal leise Kritik an meiner Übersetzung üben zu hören. Gelegentlich rief mir auch dieser oder jener im allerletzten Augenblick noch schnell etwas zu – hätte er es doch vor der Sitzung getan und mich so gründlich über sein Spezialproblem informiert wie den Außenminister!

Bei diesen Ratssitzungen bewunderte ich übrigens immer von neuem Stresemanns phantastisch schnelle Auffassungsgabe. In kritischen Situationen während der Debatte genügten oft ein paar Worte, die ihm ein deutscher Sachverständiger schnell von hinten zuflüsterte – wobei ich den Hals reckte und die Ohren mächtig spitzte –, um ihn zu langen Ausführungen über einen ihm vorher völlig unbekannten Gegenstand, meist in sehr plastischen und treffenden Formulierungen, instand zu setzen.

So waren denn diese Ratstagungen, die in den ersten Jahren in vierteljährlichem Abstand stattfanden, für mich jedesmal ein richtiggehendes Staatsexamen, und ich war heilfroh, wenn ich am Ende der acht Tage, die diese Sitzungen meistens dauerten, wieder im Zuge saß, um mich an sprachlich weniger aufregende Verhandlungsorte zu begeben.

Die Herbsttagung des Völkerbundes im Jahre 1926 hatte neben den Szenen beim Einzug der deutschen Delegation noch einen zweiten Höhepunkt. Das war ein Ereignis, welches sich in völliger Stille hinter den verschlossenen Türen eines kleinen, unscheinbaren Restaurants in einem verschlafenen französischen Dorf jenseits der Schweizer Grenze abspielte: das Gespräch von Thoiry zwischen Briand und Stresemann, das damals eine Weltsensation war und nach London und Locarno eine weitere Etappe auf dem Wege der Annäherung zwischen den beiden Völkern und der friedlichen Regelung der zwischen ihnen bestehenden Probleme bildete. In noch stärkerem Maße als das Gespräch zwischen Herriot und Stresemann auf der Londoner Konferenz von 1924 war diese Zusammenkunft von einem Geheimnis umgeben, das eines Detektivromanes würdig gewesen wäre.

Der deutsche und der französische Außenminister mußten sich auch im Jahre 1926 vor einer unerwünschten Einmischung ihrer Rechtsopposition in ihre Friedensarbeit schützen. Wären ihre Bemühungen vorzeitig, d. h. im ersten Entwicklungsstadium des langsamen Sichherantastens an die Schwierigkeiten, Gegenstand der öffentlichen. Diskussion im Parlament und in der Presse geworden, so wären sie bei der Kompliziertheit der Fragen, um deren Regelung es sich handelte, mit großer Wahrscheinlichkeit zum Mißerfolg verurteilt gewesen. Daher war diese Geheimhaltung unbedingt notwendig.

So begann der Aufbruch der beiden Minister am Morgen des 17. September 1926 unter höchst geheimnisvollen Umständen. Den wachsamen Augen der Journalisten, welche die Hotelhallen des Métropole und des Hotel des Bergues fast ständig bewachten, konnte natürlich die Abfahrt von Stresemann und Briand nicht verborgen bleiben. Sofort schlossen sich ihnen mehrere Wagen mit Pressevertretern an, denn irgendwie war trotz äußerster Geheimhaltung der Presse doch bekanntgeworden, daß eine Zusammenkunft geplant war.

Plötzlich hielten die Ministerwagen etwas außerhalb von Genf am Seeufer, und Briand und Stresemann begaben sich auf ein Motorboot, um auf das jenseitige Ufer hinüberzufahren. Schon glaubten sie, ihre Verfolger von der Weltpresse auf diese Weise abgeschüttelt zu haben. Einige der Journalisten aber kehrten in rasendem Tempo wieder nach Genf zurück, brausten unter den Flüchen sämtlicher Verkehrspolizisten durch die Stadt hindurch und fuhren das jenseitige Ufer des Sees entlang, so daß sie gerade noch zurechtkamen – als die beiden Außenminister das Motorboot verließen und zwei an der Landungsstelle haltende Wagen bestiegen, die sich sofort in Richtung auf die französische Grenze in Bewegung setzten. Lachend fuhren die Journalisten hinterher. Sie glaubten, nun gewonnenes Spiel zu haben.

Aber auch dieser Fall war in dem Schlachtplan vorgesehen, den Briand und Stresemann einige Tage vorher in einer Ecke jenes dunklen und engen „Wandelganges“ des Hotels Victoria zwischen zwei Sitzungen entworfen hatten. Die französischen Zollstellen an der Grenze waren angewiesen worden, sämtliche ab 9 Uhr früh die Grenze passierenden Autos genauestens auf ihre Papiere zu prüfen. Dadurch würden die beiden Ministerwagen vor etwaigen Verfolgern einen Vorsprung erhalten, der nicht mehr einzuholen war.

Genau so wirkte sich diese Maßnahme an jenem Morgen auch aus. Die beiden Ministerwagen fuhren ungehindert über die Grenze, und die Journalisten mußten zu ihrem Ärger eine hochnotpeinliche und langwierige Zolluntersuchung über sich ergehen lassen, die wohl eine halbe Stunde lang dauerte.

Briand und Stresemann waren ihnen nun doch entkommen. Zwar fuhren ihre Verfolger nach Erledigung der Zollformalitäten noch eine Weile lang kreuz und quer durch die Gegend jenseits der Grenze. Sie telefonierten an verschiedene bekannte Hotels und Speiselokale bis nach Annecy und selbst nach Aixles-Bains, aber es war alles vergeblich. Die beiden Außenminister hatten von dem Grenzübergang aus einen Haken geschlagen, waren in das nicht allzu weit entfernt gelegene Dörfchen Thoiry in die Gastwirtschaft des Père Léger gefahren und unterhielten sich dort im Anschluß an ein ausgezeichnetes Frühstück über zwei Stunden lang. Als sie aber danach vor die Tür des Hauses traten ... begrüßte sie ein mehrstimmiges Oh und Ah der Pressevertreter! Es waren zwar nur ganz wenige, denen der Treffpunkt bekanntgeworden war, aber das genügte, um die Nachricht noch am Abend des Tages in der ganzen Welt als große Sensation zu verbreiten.

Entdeckt wurde das Geheimnis durch einen eigenartigen Zufall. Die Weisung an die französischen Grenzstellen wegen der genauen Kontrolle des Grenzüberganges hatte sich nur auf Autos bezogen. Einer der Journalisten aber, ein Franzose, wenn ich mich recht erinnere, hatte die Verfolgung auf dem Motorrad unternommen und war daher fast so unbehelligt über die Grenze gelangt wie die beiden Minister selbst. Er hatte dann von Thoiry aus einigen Freunden den Tip gegeben, und auf diese Weise war die kleine Journalistengruppe vor dem Hause des Père Léger zustandegekommen.

Bei dem eigentlichen Gespräch von Thoiry war als Dolmetscher nur der Vertraute Briands, Professor Hesnard, anwesend. Von deutscher Seite hatte lediglich Legationssekretär Feine die Fahrt als Begleiter Stresemanns mitgemacht. Ich selbst war in Genf geblieben.

Hesnard erzählte mir aber noch am Abend des Tages ziemlich ausführlich, wie die Unterhaltung verlaufen war, denn er betrachtete mich schon damals durchaus als ein Mitglied der „engeren Familie“, das über kurz oder lang doch mit diesen vertraulichen Besprechungen oder ihrer Fortsetzung befaßt sein würde.

Die Lösungsmöglichkeiten, die von Briand und Stresemann ins Auge gefaßt wurden, beruhten im wesentlichen auf einer beschleunigten Beendigung der Besetzung deutschen Gebietes als Gegenleistung für deutsche Wirtschafts- und Finanzhilfe bei der Sanierung der äußerst ernsten französischen Wirtschaftslage. Briand mochte sich wohl darüber klar sein, daß die besetzten Gebiete in Deutschland als Pfand von Jahr zu Jahr an Wert verlieren würden, und daß daher zu jenem Zeitpunkt ein höherer Preis für ihre Aufgabe zu erzielen sei als später. So wurde denn von der Möglichkeit einer Stützung des französischen Franken durch Flüssigmachung eines Teils der deutschen Eisenbahnobligationen gesprochen. Es wurden auch deutsche Konzessionen im Rahmen der Pariser Handelsvertragsverhandlungen erwogen. Hesnard ließ durchblicken, daß bei diesen finanziellen Erörterungen beide Gesprächspartner, die ja auf diesem Gebiet keine Sachverständigen waren, in recht vagen Begriffen gesprochen hätten. Auch sei nicht klar geworden, ob die zusätzliche finanzielle Last für Deutschland wirklich tragbar sei.

Stresemann hatte aber nicht nur die Räumung des Rheinlandes in die Debatte geworfen, sondern auch von der Rückkehr der Saar zum Reich gesprochen. Er hatte ein paar hundert Millionen Goldmark dafür angeboten. Eng zusammen damit hing ein anderes Geschäft mit Belgien, das ebenfalls wegen seiner schwierigen Finanzlage vielleicht bereit gewesen wäre, Eupen-Malmedy gegen eine Regelung des Problems der im Kriege in Belgien in Umlauf gesetzten Markbeträge zurückzugeben. Darüber hatten schon vorher, zum Teil unter Einschaltung des Reichsbankpräsidenten Dr. Schacht, Verhandlungen stattgefunden, die allerdings von Frankreich mit sehr scheelen Augen angesehen worden waren.

Briand seinerseits brachte neben den finanziellen und wirtschaftlichen Fragen vor allen Dingen Abrüstungsangelegenheiten zur Sprache. Frankreich sei durch die von Zeit zu Zeit immer wieder festgestellten Mängel in der deutschen Abrüstung, vor allem aber durch die halbmilitärischen Verbände, wie den Stahlhelm und andere, sehr beunruhigt, denn durch diese Organisierung seiner wehrfähigen Jugend erhalte sich Deutschland eine große Reservearmee.

 

Weiter, als Lösungsmöglichkeiten in großen Umrissen anzudeuten, sind Briand und Stresemann wohl damals in Thoiry nicht gegangen. Aber allein die Tatsache, daß überhaupt ein derartiger Ausgleich als etwas praktisch Realisierbares in Erwägung gezogen werden konnte, war schon ein außerordentlich großer Schritt vorwärts. Die Freude und Genugtuung darüber hat wohl beide Gesprächspartner an jenem Nachmittag die Schwierigkeiten aus den Augen verlieren lassen, die sich der praktischen Durchführung ihrer Pläne damals noch entgegenstellten. Daß sie aber durchaus auf dem richtigen Wege waren, ergibt sich daraus, daß 1929 auf der Haager Konferenz eine Lösung im Ausgleich zwischen Reparationen und Rheinlandräumung tatsächlich gefunden wurde, die im großen gesehen den Gedankengängen von Thoiry entsprach.

Voller Begeisterung über die Perspektiven, die sich vor ihm eröffnet hatten, kehrte Stresemann am Spätnachmittag von seinem geheimnisvollen Ausflug wieder nach Genf zurück. „Die Räumung des Rheinlandes ist nur noch eine Frage von Monaten“, rief er einige Tage später in einer Pressekonferenz den deutschen Journalisten zu. Er hatte auf verschiedene Angriffe der Rechtspresse geantwortet und sich dabei in eine Art Kampfstimmung gegen die deutschnationale Opposition hinreißen lassen. Sie wurde ihm in den nächsten Jahren noch oft vorgehalten, denn es zeigte sich, daß die materiellen und politischen Schwierigkeiten, die den in Thoiry in Aussicht genommenen Lösungen entgegenstanden, doch größer waren, als die beiden „unverbesserlichen Optimisten“, wie sich Briand einmal in einer Rede bezeichnete, vorausgesehen hatten. Insbesondere hatten sie wohl die harten Realitäten der finanziellen und wirtschaftlichen Vorbedingungen ihres Planes damals noch nicht klar genug erkannt. Es dauerte noch mehrere Jahre, bis die Dinge zur Lösung reif waren.

Am Tage nach Thoiry kehrte Briand nach Paris zurück. Die großen Tage in Genf waren nun vorüber, und die deutsche Delegation bekam einen Vorgeschmack von der Monotonie der routinemäßigen Völkerbundsarbeit.

Stresemann verließ mit einem großen Teil der „Prominenten“ der Delegation am 22. September nachmittags um 5 Uhr Genf unmittelbar im Anschluß an einen Empfang der ausländischen Presse. „Voller Hoffnung kehre ich nach Deutschland zurück“, waren die letzten Worte, die ich dabei zu übersetzen hatte.

7
DIE WIRTSCHAFT HAT DAS WORT (1927)

Viele Worte über die Wirtschaft und von der Wirtschaft hatte ich im Jahre 1927 zu übersetzen. Wirtschaftsfragen standen fast die ganze Zeit für mich im Vordergrund. Aber nicht nur für mich, denn auch die Welt schien in diesem Jahre in ihren politischen Bemühungen etwas einzuhalten und ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich der Wirtschaft zuzuwenden.

Fast routinemäßig nahm ich, nun schon im dritten Jahre, im Januar meine Tätigkeit bei den deutsch-französischen Handelsvertragsverhandlungen in Paris wieder auf, arbeitete im Mai auf der ersten großen Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbundes in Genf, wurde anschließend daran zum Kongreß der Internationalen Handelskammer nach Stockholm geschickt, nahm unmittelbar darauf an den Besprechungen zwischen dem Reichsverband der deutschen Industrie und seinem englischen Gegenstück, der Federation of British Industries, in Berlin teil und kehrte dann wieder zu meinem Ausgangspunkt Paris zurück, wo im August schließlich das große dreijährige Werk, der deutsch-französische Handelsvertrag, abgeschlossen werden konnte.

So sah ich knapp dreiviertel Jahre nach den eindrucksvollen Szenen, die sich beim Eintritt Deutschlands in den Völkerbund abgespielt hatten, am 4. Mai 1927 den Reformationssaal in Genf wieder, in dem im September vorher die Vollversammlung getagt hatte. Auch jetzt wieder war hier in dem überfüllten Saal eine Art Vollversammlung zusammengetreten, aber auf Stresemanns Platz saß der Träger eines anderen weltberühmten Namens als erster Delegierter Deutschlands: Carl Friedrich von Siemens, der Seniorchef der bekannten deutschen Firma. An Stelle des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt nahm den zweiten Platz Staatssekretär Trendelenburg vom Reichswirtschaftsministerium ein. Prälat Kaas war durch den Fraktionskollegen Clemens Lammers vom Reichsverband der deutschen Industrie (übrigens nicht identisch mit dem späteren Reichsminister) ersetzt worden, die Interessen der Landwirtschaft nahm der ehemalige Reichsminister Dr. Hermes wahr, und der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund wurde durch sein Vorstandsmitglied Eggert vertreten.

Einen ähnlichen Querschnitt durch das Wirtschaftsleben ihrer Länder stellten die anderen Delegationen dar. An Stelle der großen Namen der europäischen Politik, wie Briand und Chamberlain, traten die Koryphäen der Wirtschaftswissenschaft, der berühmte Schwede Gustav Cassel oder der Herausgeber der weitverbreiteten englischen Wirtschaftszeitschrift „Economist”, Sir Walter Layton, bekannte Industrielle, wie Loucheur aus Frankreich oder Pirelli aus Italien, und der Allgewaltige – auch dem Umfang nach – der Gewerkschaftsbewegung, Léon Jouhaux, dessen donnernde Volksreden immer etwas an Büchners „Danton“ erinnerten.

Wenn man genauer hinsah, so entdeckte man zwischen dieser Vollversammlung der Weltwirtschaftskonferenz und den Tagungen des Völkerbundes im gleichen Saal noch weitere Unterschiede. Sie hätten zur damaligen Zeit auf politischem Gebiet eine Sensation ersten Ranges dargestellt, und selbst in dieser nüchternen Wirtschaftsatmosphäre erregten sie erhebliches Aufsehen. Das war erstens ein unscheinbares Schild auf einem der Tische mit der Aufschrift „Sowjetunion“. Die Bank war zur Eröffnungssitzung zwar noch leer, da die Russen sich verspätet hatten, aber sie war danach immer voll besetzt von Delegierten, die einen sehr lebhaften und äußerst kritischen Anteil an den Debatten nahmen. Eine weitere Sensation wäre in einer politischen Versammlung des Völkerbundes ein anderes kleines Schild gewesen, auf dem „Vereinigte Staaten“ zu lesen stand. Das erregte unter den Wirtschaftlern allerdings kaum Aufsehen, denn auch ohne daß Amerika Mitglied des Völkerbundes war, hatten sich längst die engsten Beziehungen von Europa zu den Vereinigten Staaten und von diesen zur ganzen Welt angesponnen, so daß eine amerikanische Delegation den hier versammelten Prominenten aus Industrie, Handel und Landwirtschaft der Welt etwas Selbstverständliches war.

Noch eine weitere Besonderheit charakterisierte diese stattliche Versammlung, die am 4. Mai um 11 Uhr vormittags von dem Vorsitzenden, dem bereits bei der Londoner Reparationskonferenz erwähnten ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Theunis, mit einer längeren Rede eröffnet wurde. Die Delegierten waren eigentlich keine offiziellen Vertreter ihrer Länder. Sie hatten keine Vollmachten, irgendwelche Abmachungen zu treffen, sondern waren lediglich als Sachverständige dort, die sich ohne politische Bedingungen objektiv über die Ursachen der damaligen Wirtschaftskrise und die Heilmittel äußern sollten. Aus dem Bericht, der aus der Konferenz hervorgehen würde, konnte sich an und für sich noch keine direkte Besserung der Lage ergeben, denn er mußte zunächst von den beteiligten Regierungen gebilligt, dann von ihnen in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Unter diesen Umständen wurden von Anfang an in aller Welt viele skeptische Stimmen laut, deren Leitmotiv das Wort vom Hornberger Schießen war.

Gleich in dieser ersten Sitzung trat mir auch der stimmungsmäßige Kontrast zwischen der politischen Völkerversammlung des vergangenen September und diesem Wirtschaftsparlament der Welt deutlich vor Augen. Hier gab es keine dramatischen Szenen, keine erregten Debatten und keinen donnernden Applaus. Nüchtern, oftmals äußerlich unendlich langweilig, verliefen die Eröffnungssitzung sowie die Beratungen im Plenum und in den unzähligen Kommissionen. Nur manchmal wurde es etwas bewegter, wenn Jouhaux sein Rednertalent als Volkstribun zeigte, der mit solchen Reden die Massen in Frankreich sicherlich begeisterte, hier aber kaum ein Echo fand; wenn Frau Dr. Lüders, die demokratische Reichstagsabgeordnete, Marie Elisabeth, wie sie wegen ihrer Beliebtheit bei vielen Delegierten genannt wurde, witzig und schlagfertig ihren männlichen Kollegen den Kopf zurechtsetzte, oder wenn die Stimme Sowjetrußlands durch den Mund von Obolenski-Ossinski, dem Chef der Zentralverwaltung für Statistik, oder von Sokolnikoff, dem sowjetischen Beauftragten für die Planwirtschaft, immer wieder schonungslos, oft aber sehr treffend, die politischen Hintergründe der damaligen Wirtschaftsschwierigkeiten bloßlegte.

Auffallend still verhielten sich die Amerikaner, unter denen auch kaum sehr prominente Personen des Wirtschaftslebens vertreten waren. Das fiel sogar in der sonst so ruhigen Atmosphäre dieser Konferenz auf, bei der keine aufrüttelnden Reden mit Cellostimmen gehalten wurden, sondern deren Beratungen eher dem stetigen, eintönigen Ticken der Fernschreiber glichen, die einige Jahre später in allen Genfer Hotels den Text der im Völkerbund gehaltenen Reden übertrugen. Diese „tickers“ waren äußerlich genau so nüchtern und unsensationell wie die Weltwirtschaftskonferenz. Wenn man sich aber die Zeit nahm, vor ihnen stehen zu bleiben und Wort um Wort und Satz um Satz den Text verfolgte, wie er aus dem Apparat herauskam, dann erlebte man oft hochinteressante Dinge. So ging es mir auch mit dieser Konferenz. Während sich Sitzung an Sitzung und Besprechung an Besprechung reihte, entstand vor meinem Auge, wie aus kleinen Mosaiksteinen zusammengesetzt, allmählich das Bild der Wirtschaftslage Europas und der Welt, so wie es sich um das Jahr 1927 präsentierte.

Erleichtert wurde mir das Verständnis dieser weltwirtschaftlichen Zusammenhänge durch die Praxis der deutsch-französischen Handelsvertragsverhandlungen, die mir seit 1924 einen reichen Anschauungsunterricht in dem Alltag der Wirtschaftsbeziehungen zwischen zwei Ländern boten. Hier genoß ich meine praktische Ausbildung, während die große Theorie auf der Weltwirtschaftskonferenz und den auf sie folgenden Tagungen des Genfer Wirtschaftsausschusses gelehrt wurde.

„Die Entwicklung der Technik und des Verkehrs im 19. und 20. Jahrhundert“, so hörte ich im Industrieausschuß der Konferenz von vielen Rednern, „drängt auf die Schaffung immer größerer Wirtschaftseinheiten.“ Nur so könne die moderne Wirtschaft zur vollen Entfaltung und zur höchsten Leistungssteigerung gelangen. Daraus müßten alle Beteiligten die entsprechenden Schlüsse ziehen. Zunächst aber war durch den Weltkrieg und seine Folgen genau das Gegenteil geschehen. Die große Einheit, die der Weltmarkt im liberalen Wirtschaftssystem der Vorkriegszeit dargestellt hatte, wurde durch den Krieg selbst in viele kleine Teile zerlegt und nach dem Kriege durch die Schaffung einer ganzen Reihe von neuen Staaten weiter zersplittert.

Während der Zeit des Voneinanderabgeschlossenseins hatten sich in all diesen Wirtschaftseinheiten, die meistens mit den Staaten identisch waren, unter dem Druck des Krieges nicht nur die alten Betriebe zu einer Höchststeigerung ihrer Leistungen entwickelt, sondern es waren auch noch zahlreiche neue Industrien in den Wirtschaften der einzelnen Länder entstanden, welche die nicht mehr vom Auslande erhältlichen Waren im eigenen Lande produzierten, und zwar ohne Rücksicht auf die Gestehungskosten. Nach Beendigung des Krieges, als die Einfuhr von außen in die meisten Länder zum großen Teil wieder möglich wurde, wären diese neuen Industrien in die schwerste Bedrängnis geraten, wenn sie im eigenen Lande mit den im Auslande seit langem besser und billiger hergestellten Waren hätten in Konkurrenz treten müssen. Sie forderten daher Zölle für die Auslandswaren, damit deren Preise im Inland möglichst höher lagen als ihre eigenen. Diese Forderung nach Zollschutz wurde ihnen auch vielfach erfüllt, obwohl die Konsumenten letzten Endes die Rechnung zahlen mußten. Es war für die einzelnen Nationalwirtschaften unmöglich, die allmählich zu beachtlichen Wirtschaftsfaktoren angewachsenen neuen Industrien durch die ungehinderte Konkurrenz des Auslandes ruinieren zu lassen; hierdurch wären erhebliche Kapitalinvestitionen verlorengegangen und die Arbeitslosigkeit, die eines der großen Probleme der Zeit nach dem ersten Weltkrieg bildete, hätte weiter zugenommen.

Von den „Zollmauern“, die jedes der zahlreichen europäischen Länder, vor allem aber Rußland und Amerika, immer höher um seine Landesgrenzen, auftürmte, war damals in Genf sehr viel die Rede. Es war sogar eine Reliefkarte vorhanden, auf der die Landesgrenzen mit richtigen Zollmauern in der relativen Höhe dargestellt waren, so wie sie sich im Verhältnis zu denen der anderen Länder präsentierten. Die höchste Mauer in Westeuropa hatte Frankreich um sich gebaut. Deutschland lag etwas niedriger. Boshafte Besucher zogen allerdings manchmal dieses oder jenes Land – die einzelnen Staaten waren auf der Karte mit ihren Zollmauern wie in einem Puzzle-Spiel vertikal beweglich aneinandergesetzt – etwas höher heraus, so daß es zum Entsetzen der Delegation dieses Landes die anderen weit überragte.

 

Es galt damals in Genf nicht als Empfehlung, einen hohen Schutzzolltarif zu besitzen. „Wirtschaftlich und politisch“, erklärte Layton, „ist Europa in eine Anzahl kleinerer Einheiten aufgeteilt worden und besitzt heute über 11 000 km Tarifschranken mehr als vor dem Kriege ... Kleine wirtschaftliche Einheiten mögen vor 50 Jahren ihre Berechtigung gehabt haben, angesichts der modernen Produktionsbedingungen sind sie heute ein Anachronismus geworden.“

Damit war eines der Grundübel der damaligen Wirtschaftsstruktur aufgezeigt. Wie sollte es nun aber beseitigt werden? „Die Industrien müssen sich untereinander verständigen“, erklärten die Franzosen. Kartelle sollten durch privatwirtschaftliche Abmachungen die Zollschranken überspringen, so daß deren Abbau überflüssig würde, denn eine Herabsetzung des Zollschutzes wäre in Frankreich und in anderen Ländern auf einen erheblichen Widerstand der Interessenten und ihrer politischen Freunde in den Parlamenten gestoßen. Vielfach blickte man dabei auf Deutschland, das Land der „Organisation“, von dem man eine Unterstützung dieser Kartelltheorie erhoffte. „Meine Firma ist an mehreren internationalen Industrievereinbarungen beteiligt“, erklärte Siemens, „aber trotzdem möchte ich vor einer Überschätzung des modernen Schlagwortes,Organisation’, das in vielen Kreisen als Allheilmittel angesehen wird, warnen“, und rückte damit von der von Loucheur propagierten französischen Theorie ab. „Solche Monopole behindern die freie Entfaltung der produktiven Kräfte und die Verwirklichung des höchsten wirtschaftlichen Allgemeinwohls“, sagte Cassel in einem scharfen Angriff gegen die Kartelle. „Unsere Klage über die Kartelle und Trusts geht dahin, daß sie eine unkontrollierte Macht in die Hände einer kleinen Gruppe von Leuten legen, die einen Gebrauch davon machen oder machen können, der dem allgemeinen Interesse entgegengesetzt ist“, sekundierte der Generalsekretär des Internationalen Genossenschaftsbundes dem schwedischen Nationalökonomen, dessen Standpunkt natürlich auch bei Jouhaux und den übrigen Gewerkschaftlern großen Anklang fand. Die französische These drang nicht durch. Der Abbau der Zölle wurde von der Mehrheit gefordert.

Daß die „unabhängigen und nur ihrem Gewissen verantwortlichen“ Sachverständigen, aus denen sich die Konferenz zusammensetzte, im Grunde doch nicht ganz so unabhängig waren, sondern fast wie offizielle Delegierte den Standpunkt ihrer Länder vertraten, der stark von politischen Gesichtspunkten beeinflußt war, hatte ich schon im Zusammenhang mit dieser Frage feststellen können. Die Nutznießer des ersten Weltkrieges, die kleinen wie die großen, waren auf das Argument Laytons von den 11 000 km neuer Zollgrenzen überhaupt nicht eingegangen, obwohl es sich dabei um eine einwandfreie Tatsache handelte. Noch mehr aber zeigte sich die politische Gebundenheit dieser Sachverständigen bei der Erörterung einer weiteren Ursache der damaligen Wirtschaftsschwierigkeiten. Das war die internationale Schuldenfrage. In dieser Hinsicht war die Weltwirtschaftskonferenz, ähnlich der Londoner Dawes-Konferenz, eine „Versammlung, auf der vom Thema nicht gesprochen werden darf“, wie Stresemann es in London bezeichnet hatte. Aber genau so wie in London über die Ruhrfrage, wurde auch hier in Genf schließlich doch über das Schuldenproblem gesprochen. Die Frage war zu gewichtig, als daß sie sich aus politischen Rücksichten von dieser Konferenz hätte fernhalten lassen, „Eine zweite und weitreichende Veränderung gegenüber dem Jahre 1913 ist der Eintritt der Vereinigten Staaten in die Reihe der kapitalausführenden Länder der Welt, indem sie aus einer Schuldnernation einer der Hauptgläubiger der Welt geworden sind“, so umriß Layton in einer der Vollsitzungen dieses Problem und fuhr dann fort: „Großbritannien war früher ein noch bedeutenderer Geldgeber, aber es kaufte die Erzeugnisse der Länder, die es mit seinem Kapital entwickelte.“ Und zur amerikanischen Delegation gewandt, stellte er dann fest: „Heute trifft Amerika Maßnahmen, um sich die Erzeugnisse der Länder fernzuhalten, die durch sein Kapital entwickelt oder, wie in Europa, wieder aufgebaut wurden.“ Das war eine deutliche Kritik an der Haltung und an der Handelspolitik Amerikas, das als größtes Gläubigerland der Nachkriegszeit durch seine Zolltarife seinen Schuldnern nicht gestattete, ihren Verpflichtungen in der einzigen Form nachzukommen, in der große Kapitalübertragungen von einem Land ins andere vor sich gehen können, nämlich durch Warenlieferungen und Dienstleistungen. Dieser indirekten Aufforderung gegenüber verhielt sich allerdings die amerikanische Delegation völlig schweigsam.

Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen zeigte aber auch Layton, daß er von den politischen Erwägungen seines Landes gehemmt war. Nur ganz kurz erwähnte er Reparationen und den Exportdruck, den sie bei den Reparationsschuldnern auslösten und der sich in Form erhöhter Konkurrenz auf dem Weltmarkt bemerkbar machte.

Die Hemmungen, die der Engländer in diesem Punkt hatte, lagen bei den Russen nicht vor, und so nannte denn Obolenski-Ossinski das Kind beim Namen. „Als Resultat des letzten Krieges sind gewisse Staaten mit Zahlungen belastet, die sie zwingen, Waren auf den Markt zu werfen, die sie eigentlich selbst notwendig haben – ein sinnloser Vorgang vom wirtschaftlichen Standpunkt aus –, oder umgekehrt, den Ankauf von Waren zu verweigern, die sie tatsächlich brauchen.“ Unter dem etwas betretenen Schweigen der „Sachverständigen“ zog er dann daraus die Konsequenz. „Alle Kriegsschulden und alle Zahlungen, die auf den Krieg Bezug haben, müßten gestrichen werden, da dies das einzige Mittel ist, um die Widersprüche, die ein direktes Erbe des Krieges 1914–18 sind, zu beseitigen. Der Erlaß dieser Schulden würde ein großer Schritt zur Wiederherstellung des Welthandels sein.“

Aber auch die Sowjetunion selbst, insbesondere ihr Ausscheiden aus der Weltwirtschaft als Lieferant und noch mehr als Verbraucher, war eine der großen Ursachen der Nachkriegsschwierigkeiten. „Vor dem Kriege war Rußlands internationaler Handel größer als der Indiens; aber im Jahre 1925 war sein Anteil am Welthandel kleiner als der Dänemarks vor dem Kriege“, stellte Layton fest und fuhr dann vorsichtig fort: „Ich möchte keinesfalls zur Erörterung stellen, wie oder wann die unvermeidliche Reibung zweier entgegengesetzter wirtschaftlicher Systeme behoben werden kann. Darüber muß sich die russische Delegation selbst äußern.“

„Kredite“, erwiderte Sokolnikoff, „zur Stärkung der russischen Kaufkraft sind neben dem Aufhören jeder Art von wirtschaftlichem und politischem Boykott gegenüber der Sowjetunion die Vorbedingung für eine Rückkehr Rußlands zum Welthandel.“ Er bot ausländischen Kapitalisten Konzessionen in der Sowjetunion an; dafür müsse man sich allerdings mit dem sozialistischen Wirtschaftssystem, vor allem mit dem Außenhandelsmonopol, abfinden.