Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945

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Am 11. März kam dann Briand aus Paris zurück. Er hatte sein achtes Ministerium gebildet. Zum ersten Male war er am 14. März 1906 Minister geworden. In den zwanzig Jahren, die seitdem verflossen waren, hatte er vierzehnmal einer französischen Regierung angehört, davon sechsmal als Minister und achtmal als Ministerpräsident. In der neuen Kabinettsliste stand übrigens als Justizminister unmittelbar nach ihm Pierre Laval, für den ich 1931 in Berlin dolmetschte, als er mit Briand zusammen Brüning und Curtius einen offiziellen Besuch abstattete, und den ich später bei einer Reihe von Gesprächen mit Hitler erleben sollte.

Sofort nach Briands Eintreffen in Genf fand eine Ratssitzung statt, an der wir nicht beteiligt waren. Aber die Bavaria bewährte sich glänzend. Hier erfuhren wir, was sich später als durchaus zutreffend herausstellte, daß es während dieser dreistündigen Nachmittagssitzung zu sehr scharfen Zusammenstößen zwischen den Anhängern der Erweiterung und ihren Opponenten gekommen war. Zum damaligen Zeitpunkt bestand der Völkerbundsrat aus vier ständigen Mitgliedern (Frankreich, England, Italien, Japan) und sechs nichtständigen Mitgliedern (Belgien, Spanien, Schweden, Tschechoslowakei, Brasilien und Uruguay). Von den letzteren hatten sich Spanien und Brasilien um einen ständigen Sitz beworben, während Polen als Nichtratsmitglied seine Ansprüche auf dieser Sitzung nicht vertreten konnte.

Wir erfuhren, daß der schwedische Außenminister, obwohl er von Frankreich, England, Spanien, Brasilien und Uruguay immer wieder während der Sitzung angegriffen wurde, bei seinem Standpunkt geblieben war und erklärt hatte, er könne keiner sofortigen Erweiterung des Rates über die Aufnahme Deutschlands hinaus zustimmen. Seine Marschroute sei absolut gebunden.

Ebenso hartnäckig waren aber Spanien und Brasilien in der Verfechtung ihres Anspruchs. Mello-Franco, der brasilianische Vertreter, brachte den Rat, der übrigens in geheimer Sitzung tagte – nur für die Bavaria war sie anscheinend nicht geheim –, in höchste Erregung, als er rundheraus erklärte, Brasilien sei durch die Locarno-Abkommen nicht gebunden und werde daher gegen die Aufnahme Deutschlands in den Rat sein Veto einlegen, wenn seiner Forderung auf einen ständigen Ratssitz nicht stattgegeben werde.

Man kann sich sehr leicht vorstellen, daß in diesem Augenblick „die Diskussion äußerst heftige, sonst nicht übliche Formen annahm“, wie der Korrespondent des Temps seinem Blatt am nächsten Tage meldete, denn damit war ja wieder Locarno in Gefahr und die Außenministersitze wankten.

Inzwischen wartete die deutsche Delegation weiter. Wir waren nun schon fast eine Woche in Genf und antichambrierten in einer für ein großes Land kaum erträglichen Weise. Allen Ernstes wurde erwogen, ob wir nicht einfach abreisen sollten. Über die Bavaria wurden diese Absichten auch als Gerüchte den übrigen Delegationen zugespielt.

Die Wirkung war äußerst prompt. Chamberlain erschien in einer Aufregung, wie ich sie überhaupt noch nicht bei ihm erlebt hatte, bei uns im Hotel. In seiner Hast setzte er die Drehtür derartig in Schwung, daß sie ihn fast wieder auf die Straße geschleudert hätte. Den Fahrstuhl benutzte er nicht, sondern eilte, so schnell er konnte, die Treppe ins erste Stockwerk hinauf zu Luther. Was die beiden miteinander gesprochen haben, weiß ich nicht, denn mit Luther sprach Chamberlain ja französisch und ein Dolmetscher war nicht nötig. Er scheint sich allerdings bei diesem Gespräch dem deutschen Standpunkt sehr erheblich genähert zu haben, und bei der Mittagstafel hieß es, daß die Krise so gut wie beigelegt sei, da Chamberlain bereit sei, die Behandlung des spanischen Antrages auf später zu vertagen.

Nachmittags fanden sich die Locarno-Mächte erneut in Chamberlains Hotelsalon zusammen, genau so wie am ersten Tage. Ich glaubte schon, daß nun alles in Ordnung kommen würde, stellte aber bereits nach kurzer Zeit fest, daß im Gegenteil alles beim alten geblieben war. Briand war mit genau derselben Auffassung aus Paris zurückgekehrt, die er am Sonntag vertreten hatte. Er wollte unter allen Umständen Polen in den Rat bringen. Da fiel auch Chamberlain wieder um. Spaniens Kandidatur wurde erneut in den brodelnden Kessel der Diskussion geworfen. Luther und Stresemann wiederholten ihre Sonntagsargumente und blieben dabei, so sehr sie auch von allen Seiten bestürmt wurden. Trotzdem aber war die Stimmung nicht so aufgeregt. Eine gewisse Müdigkeit machte sich bemerkbar, die eine schärfere Tonart ausschloß.

Am Abend nach dieser Sitzung war die Bavaria in heller Aufregung. „Chamberlain hat heute abend unser Land bedroht“, rief ein schwedischer Journalist in den Raum, „ich war eben bei meiner Delegation. Sie findet Chamberlains Verhalten unerhört.“ Sofort mischten sich die Amerikaner und die Engländer in das Gespräch, alle waren gegen Chamberlain, und es wurde mit harten Worten über diesen ungeschickten Außenminister nicht gespart. Die Presseleute der kleinen Länder schimpften eifrig mit, brachten aber dabei eine neue, interessante Note in die Debatte.

„Was denken sich eigentlich die Locarno-Mächte“, fragte ein Jugoslawe über den Tisch, „sie meinen wohl, sie seien der Völkerbund und könnten die Mehrzahl der kleineren Länder einfach kommandieren, wenn es die Streitigkeiten, die sie untereinander haben, notwendig machen. Hier in Genf hat die Mehrheit zu entscheiden, gleichgültig, ob es sich um kleine oder große Länder handelt.“

Dieser Gegensatz zwischen den „Großen“ und den „Kleinen“ war ein Thema, das noch sehr oft in Genf diskutiert werden sollte. Wie richtig hatten Luther und Stresemann gehandelt, als sie sich weigerten, durch die Teilnahme an den Ratsdebatten in diesen Hexenkessel hineingezogen zu werden.

Nach Mitternacht kam plötzlich der Vertreter der französischen Havas-Agentur in das überfüllte Lokal hereingestürmt. Er schwenkte ein weißes Papier in der Hand. „Kommuniqué der englischen Delegation“, rief er in den Raum und war im Nu von allen umdrängt.

„Es ist Sir Austen Chamberlain zu Ohren gekommen, daß Gerüchte in Umlauf sind, wonach er während der Sitzung des Völkerbundsrates ... der schwedischen Delegation gedroht haben soll. Es wird hiermit erklärt, daß diese Gerüchte frei erfunden sind und jeglicher Begründung entbehren“. Ein vielstimmiges Gelächter war die für Chamberlain wenig schmeichelhafte Reaktion der Weltpresse. Die Bavaria war nicht überzeugt.

In den nächsten Tagen erlebte ich dann innerhalb und außerhalb der immer noch streng geheimen Besprechungen der Locarno-Mächte ein wahres Tauziehen zwischen Luther und Stresemann einerseits und Briand und Chamberlain andererseits um die Lösung der Ratsfrage. Es war in seiner ganzen Art so typisch für die Genfer Methoden, daß die deutschen Neuankömmlinge gleich von vornherein den richtigen Eindruck bekamen und bei späteren Gelegenheiten ähnlicher Art, die sich während unserer siebenjährigen Mitgliedschaft in diesem internationalen Völkerverein noch sehr zahlreich ergaben, kaum noch Überraschung empfanden.

Kompromiß ist das Wesen der Diplomatie, und wer, wie Hitler oder andere Diktatoren, „kompromißlos“ denkt und handelt, verzichtet überhaupt auf jede Diplomatie und unterwirft sich dadurch selbst der Beschränkung auf Gewaltmethoden, die durchaus nicht immer die Gestalt bewaffneter Konflikte anzunehmen brauchen. Logischerweise nahm daher die Methode der Kompromißlösung im Genfer System einen wesentlichen Platz ein. Auch in der Ratsfrage wurde uns nun ein Kompromiß angeboten.

Briand und Chamberlain erklärten sich bereit, die Frage der ständigen Ratssitze fallen zu lassen und weder für Polen noch für Spanien einen derartigen ständigen Platz am Ratstisch zu beantragen. Als Gegenleistung dafür aber sollte Deutschland schon vor seinem Eintritt seine Zustimmung zur Schaffung eines zusätzlichen nichtständigen Sitzes geben. Den sollte dann allerdings Polen erhalten, wie Briand und Chamberlain ihrem Vorschlag hinzufügten.

Wie alle Besprechungen, in denen Kompromißvorschläge vorgebracht werden, verlief diese Unterhaltung der Locarno-Minister wieder sehr freundschaftlich, fast so wie in den „alten Zeiten“ vor einigen Monaten, vor allem, als der Vorschlag von deutscher Seite nicht abgelehnt wurde, sondern man sich nur Bedenkzeit erbat. Daraus zogen England und Frankreich den Schluß, daß die Situation gerettet sei, und informierten etwas voreilig ihre Journalisten in diesem Sinne. Das konnte man an jenem Tage deutlich in der Bavaria spüren und am nächsten Tage in allen Zeitungen Europas und Amerikas lesen.

Um so schwerer war der Rückschlag, als Luther und Stresemann am Nachmittag desselben Tages in einer kurzen Besprechung mit Briand diesen Vorschlag ablehnten. Stresemann erklärte, daß es sich auch hierbei wieder für Deutschland darum handeln würde, schon vor Eintritt in den Völkerbund an einer Umgestaltung seiner Organisation mitzuwirken, und daß die deutsche Delegation sich hierfür nicht zuständig fühle, sondern lediglich um die Erfüllung des ihr in Locarno gegebenen Versprechens bitte. Maßgebend für die ablehnende Stellungnahme der deutschen Delegierten war der natürliche Wunsch, sich nicht in die, wie wir ja selbst erlebt hatten, unberechenbaren Streitigkeiten zwischen den kleinen und großen Mitgliedern des Völkerbundes hineinziehen zu lassen. Außerdem konnten wir auch nicht gut dem schwedischen Außenminister Undén, der von vornherein aus prinzipiellen Gründen den gleichen Standpunkt vertreten hatte wie das Reich, in den Rücken fallen.

Sofort nach Bekanntwerden dieser negativen Haltung der Deutschen schlug die Stimmung in Genf und in der Weltöffentlichkeit gegen uns um. Die Bavaria wurde, so unwahrscheinlich das damals auch klingen mochte, antideutsch. Briand und Chamberlain sahen ihre Politik von Locarno wieder in großer Gefahr und ihre persönliche Stellung erneut bedroht. Mit einiger Mühe hatte ja Briand soeben erst ein neues Kabinett gebildet. Sollte er nun nach wenigen Tagen wegen der deutschen Haltung schon wieder abtreten müssen? Chamberlain wußte noch aus den letzten Tagen vor seiner Abreise sehr genau, wie die englische öffentliche Meinung gegen ihn eingestellt war. Würde sie ihm nicht mit fast automatischer Sicherheit das Scheitern von Genf und Locarno zur Last legen und ihn um sein Amt bringen?

 

Beide gingen daher dazu über, die Deutschen unter Druck zu setzen, indem sie ihnen die Schuld am Scheitern der Verhandlungen zuschoben und sich damit gleichzeitig selbst vor ihren Parlamenten und ihrer öffentlichen Meinung entlasteten.

„Zu unserer großen Bestürzung“, erklärte Briand in einer Pressekonferenz, „haben die Deutschen unseren Vorschlag nicht angenommen. Wir sind bis zur äußersten Grenze der Nachgiebigkeit gegangen. Jetzt mögen die Deutschen sich überlegen, welche unberechenbaren Folgen eine endgültige Weigerung ihrerseits nach sich ziehen würde. Hoffentlich machen sie uns noch im letzten Augenblick einen annehmbaren Vorschlag.“

„Morgen werden vielleicht 40 Millionen Engländer gegen mich aufstehen“, hatte Chamberlain in seiner Pressekonferenz noch um ein Uhr nachts den Journalisten erklärt, „aber ich habe ein reines Gewissen.“ Er habe alles zur Befriedung Europas getan und Deutschland den Eintritt in den Völkerbund erleichtert. Es bleibe ihm nun nichts weiter übrig, als auf die letzte Entscheidung der verantwortlichen deutschen Vertreter zu warten.

Aber nicht nur wir Deutsche wurden unter Druck gesetzt. Das gleiche geschah mit dem schwedischen Außenminister Undén, der damals wie heute in der Frage der Aufrechterhaltung der schwedischen Neutralität seinen Standpunkt mit nordischer Hartköpfigkeit verteidigte. Chamberlain hatte sich bei ihm schon die Finger verbrannt, aber er versuchte es noch einmal. Der sozialdemokratische Außenminister Belgiens, Vandervelde, bemühte sich ebenfalls um den Sozialisten Undén. Weitere Versuche auf Grund der gemeinsamen Parteizugehörigkeit wurden von Albert Thomas, dem französischen Direktor des Internationalen Arbeitsamtes, gemacht. Aber Undén war nicht zu erschüttern, jedenfalls nicht in seiner grundsätzlichen Haltung. In der Praxis aber gab er insofern plötzlich nach, als sich Schweden bereit erklärte, auf seinen eigenen Ratssitz zu verzichten, so daß dieser dann einem anderen Lande, also zum Beispiel auch Polen, zur Verfügung gestellt werden konnte.

Wieder atmeten Chamberlain und Briand erleichtert auf, denn nun schienen ja wirklich alle Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt zu sein. Aber wieder wurden sie enttäuscht, denn Stresemann erklärte Briand erneut, daß er diese Lösung nicht annehmen könne. „Wenn an Stelle des neutralen Schwedens ein der Entente nahestehender Staat gewählt werden würde, so würde sich dadurch die politische Grundstruktur des Völkerbundsrates hinsichtlich der möglichen Gruppenbildungen derartig ändern, daß eine solche Lösung die unerfreulichste Regelung der ganzen Angelegenheit für uns darstellen würde“, fügte er seiner Weigerung erklärend hinzu. Es zeugte für die Großzügigkeit und das Verständnis Briands, daß er nicht etwa aufbrauste, sondern nach einer kurzen Rücksprache mit Chamberlain nun seinerseits einen Gegenvorschlag machte, der den deutschen Bedenken sehr weitgehend Rechnung trug. Es sollte nicht nur Schweden, sondern auch die Tschechoslowakei veranlaßt werden, ihren nichtständigen Sitz für eine andere Macht zur Verfügung zu stellen. Diesen Sitz sollte dann Holland erhalten, so daß das Gleichgewicht der Kräfte im Rat zwischen Neutralen und Entente-Staaten nicht geändert worden wäre.

In meine Bewunderung für das verständnisvolle Eingehen Briands auf unsere Lage und seinen geschickten und großzügigen Vorschlag mischte sich, als ich ihn Stresemann übersetzte, ein gewisses Befremden darüber, wie hier von den Großmächten die kleinen Staaten wie Schachfiguren verschoben wurden, damit das System der Großen im Gleichgewicht blieb. Mir fiel wieder die Stimmung in der Bavaria ein. „Die Großmächte denken wohl, sie sind der Völkerbund“, hatte vor einigen Tagen ein Jugoslawe gesagt. Ich erkannte jetzt, wie recht er damit gehabt hatte.

Es hätte wohl kaum einen triftigen Grund für Stresemann und Luther gegeben, diesen Vorschlag abzulehnen, denn sämtliche Forderungen Deutschlands waren damit befriedigt. Es wäre das Versprechen von Locarno genau so erfüllt worden, wie es im Vorjahre abgegeben worden war. Deutschland hätte in dem Rat, so wie er zur Zeit von Locarno bestand, d. h. mit vier ständigen und sechs nichtständigen Mitgliedern, einen zusätzlichen ständigen Sitz erhalten. Eine Ratserweiterung wäre nicht eingetreten. Aber der französische Ministerpräsident wäre trotzdem nicht mit leeren Händen vor seine Pariser Opposition getreten. Er hätte seinerseits durchgesetzt, daß Polen nichtständiges Ratsmitglied geworden wäre. Nur Chamberlein hätte nicht für Spanien sorgen können. Aber er wäre deswegen in England nicht kritisiert worden, da ihm ja gerade wegen des spanischen Sitzes so schwere Vorwürfe gemacht worden waren.

Noch während Luther und Stresemann überlegten, welche Hintergedanken der letzte Vorschlag enthielt, der auf den ersten Blick einen fast hundertprozentigen Sieg der deutschen Haltung bedeutete, trat eine jener in Genf und heute in den Vereinten Nationen so häufig vorkommenden dramatischen Wendungen ein.

Nach endlos erscheinendem Hin und Her, nach all den zahlreichen Besprechungen bei Tag und bei Nacht zu zweit, zu viert oder in dem Sechserkollegium der Männer von Locarno, nach erregten Debatten hinter verschlossenen Türen, nach teils zu optimistischen, teils zu pessimistischen Pressekonferenzen, nach dem Wechsel von warm und kalt, von Druck und Gegendruck, von Kompromiß und Gegenvorschlag, waren die Männer von Locarno schließlich zu einer brauchbaren Lösung gelangt. Da schaltete sich Mello-Franco, der Brasilianer, den man über dem heißen Ringen der letzten Tage fast völlig vergessen hatte, plötzlich wieder ein.

„Wenn Brasilien nicht sofort einen ständigen Ratssitz erhält, wird es unweigerlich gegen die Aufnahme Deutschlands stimmen“, so wiederholte er seine schon mehrmals ausgesprochene Drohung. Nun meldete auch China eine Forderung an. Die Spanier drohten mit dem Austritt aus dem Völkerbund. Das Durcheinander war vollkommen. Einen Augenblick lang herrschte allgemeine Ratlosigkeit. Dann ergriff Briand die Initiative.

„Es ist angesichts des brasilianischen Vetos klar, daß unsere Bemühungen gescheitert sind“, erklärte er in einer schnell einberufenen Sitzung der Locarno-Mächte. „Wir müssen die Aufnahme Deutschlands zu unserem Bedauern auf die Septembersitzung vertagen“, fügte er leise mit müder Stimme hinzu, denn auch er hatte in den letzten Tagen seine ganze Energie auf die Erreichung einer Lösung gerichtet und fühlte nun die Abspannung. „Aber wir dürfen das Werk von Locarno dadurch nicht in Gefahr bringen“, fuhr er wieder etwas munterer werdend fort und schlug dann die Herausgabe einer Erklärung vor, in welcher sich die Locarno-Mächte erneut zu ihrem Abkommen bekennen sollten, obwohl es durch den Nichteintritt Deutschlands juristisch noch nicht in Kraft treten könne.

„Die Locarno-Mächte erklären, daß sie sich über die Schwierigkeiten geeinigt hatten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt unter ihnen entstanden waren ... Sie stellen mit Befriedigung fest, daß das Friedenswerk, welches sie in Locarno vollendet haben, und welches mit seinem ganzen Wert und in seiner ganzen Kraft bestehen bleibt, (durch diese Schwierigkeiten) nicht berührt wird. Sie halten daran fest, heute wie gestern, und sind entschlossen, sich gemeinsam dafür einzusetzen, es aufrechtzuerhalten und fortzuentwickeln“, so lautete dann die Erklärung, auf die sich die Männer von Locarno zur Rettung ihres Werkes geeinigt hatten.

Gleichzeitig war auch der deutsche Vorschlag angenommen worden, den ganzen Fragenkomplex der Ratserweiterung durch eine besondere Kommission untersuchen zu lassen, an der Deutschland sich zu beteiligen versprach. Bis zum September hat dann diese Kommission, in der der deutsche Botschafter in Paris, von Hoesch, und der Rechtssachverständige des Auswärtigen Amts, Dr. Gaus, als Vertreter des Reiches fungierten, zweimal getagt und auch einen Bericht ausgearbeitet.

Es wurde jetzt noch ein letzter Versuch gemacht, auf Brasilien einzuwirken. Das Interessante an der von Mello-Franco gegebenen Begründung für die brasilianische Unnachgiebigkeit war übrigens das Argument, daß der Völkerbund keine rein europäische Angelegenheit sein dürfe und daß auch die überseeischen Länder und Kontinente, wie z.B. Südamerika, im Rat durch ständige Mitglieder vertreten sein müßten, wenn die Universalität des Bundes gewährleistet sein sollte. England und Frankreich bemühten sich durch ihre diplomatischen Vertreter in Rio de Janeiro, die Brasilianer zu einem Abgehen von ihrer starren Haltung zu bewegen. Sämtliche südamerikanischen Mitglieder des Völkerbundes richteten dringende Telegramme nach der brasilianischen Hauptstadt. Bis zum letzten Augenblick bestand eine geringe Hoffnung, auf diese Weise eine Lösung der Krise herbeizuführen.

Noch am Morgen des entscheidenden Tages, kurz bevor die Ratssitzung eröffnet wurde, an die sich die Sitzung der Vollversammlung anschließen sollte, wurde die deutsche Delegation aus dem Völkerbundssekretariat gebeten, sich auf alle Fälle für die Aufnahmeformalitäten bereitzuhalten. Ich hatte in dem Zimmer des Hoteldirektors einen Radioapparat entdeckt. Es war ein ganz primitiver, kleiner Kasten, den man nur mit Hilfe von Kopfhörern benutzen konnte, aber ich wußte, daß die Schweizer Sender die öffentliche Vollsitzung der Bundesversammlung übertragen würden, und so stülpte ich mir denn gespannt die Hörer über ...

Ich hatte Glück im Unglück. Ich hatte den Apparat gerade zur rechten Zeit eingeschaltet. Mello-Francos tiefe Stimme mit ihren rollenden südamerikanischen R’s klang an mein Ohr. „Die Entscheidung Brasiliens ist,irrevocable’, unwiderruflich“, klang es mir schrill in die Ohren. Ich eilte sofort ins erste Stockwerk zu Stresemann, um ihm von dieser Wendung zu berichten. Nach einiger Zeit ließ auch er sich einen Radioapparat ins Zimmer bringen und hörte dann mit Luther und seinen engsten Mitarbeitern von seinem Hotelzimmer aus den Verlauf dieser Sitzung mit an, die wir uns so ganz anders vorgestellt hatten, und die uns statt des feierlichen Einzugs in den Weltbund der Staaten nur eine enttäuschende Szene in dem ganz still gewordenen Zimmer des Métropole-Hotels brachte.

„Wir hatten die Schwierigkeiten und die ernsten Mißverständnisse zwischen Deutschland und uns gelöst durch jenen Geist der Versöhnung und des Kompromisses, den auch die deutschen Vertreter in so anerkennenswerter Weise gezeigt haben“, hörten wir Briand von der Tribüne des Völkerbundes sagen. „Jetzt stehen wir vor der Notwendigkeit, uns zu vertragen, ohne unser Ziel erreicht zu haben. Das ist für uns alle eine grausame Ironie des Schicksals“, fuhr er fort, gab dann einen Überblick über die dramatischen Verhandlungen der letzten Tage und schloß mit einer optimistischen Note.

„Wir lassen uns nicht entmutigen, wir empfinden keine Bitterkeit und haben diesem Ereignis, so schmerzlich es auch sein möge, fest ins Auge gesehen, wir haben dafür gesorgt, daß das Friedenswerk von Locarno erhalten bleibt.“ Deutlich hörte man durch den Lautsprecher den minutenlangen Beifall bei diesen Worten des französischen Ministerpräsidenten. „Wir wollen uns aber nicht trennen, ehe wir zum mindesten die vorweggenommene moralische Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund aussprechen“, und nach diesen Worten verlas er eine entsprechende Entschließung, die unter allgemeinem Beifall einstimmig angenommen wurde.

In ähnlichem Sinne sprachen sich dann noch mehrere andere Delegierte aus, aber wir hatten das Interesse verloren, und das Radio wurde abgestellt. Chamberlains. Worte waren uns entgangen, weil er unmittelbar nach dem Brasilianer gesprochen hatte, als wir uns noch um ein Radio für Stresemann bemühten.

Noch am gleichen Abend reiste die deutsche Delegation nach Berlin ab, und ich kehrte, um eine große Erfahrung reicher, wieder zu den Zolltarifpositionen, den Besprechungen über Eisen und Stahl, über Maschinen und Textilien, Blumen und Wein im Rahmen der deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen nach Paris zurück. Im Schlafwagen Genf–Paris ließ ich noch einmal diese aufregenden Tage mit ihren dramatischen Wendungen und Überraschungen an mir vorüberziehen. Es war das Bild von typisch Genfer Verhandlungen, wie ich sie später noch so oft erleben sollte. Aber ich war nicht entmutigt. Denn mir schien das wichtigste Ergebnis dieser kritischen Tage der Beweis zu sein, den sie für die Widerstandskraft des jüngsten Schößlings der europäischen Völkerverständigung, des Werkes von Locarno, erbracht hatten. Allen Stürmen des Genfer Sees zum Trotz war Locarno nicht untergegangen.

 

Wie in London und Locarno hatte ich auch hier wieder das Wirken der „Hommes de bonne volonté“, diesmal in einer sehr kritischen Lage, beobachten können. Wenn solche Männer weiter am Werk bleiben, sagte ich mir an jenem Abend auf der Reise nach Paris, dann liegt die Zukunft Europas in sicheren Händen. Das hatte sich klar aus meinen Erlebnissen während dieser ersten Genfer Tage ergeben, wo alles, was nur irgend schiefgehen konnte, schiefgegangen war, wo immer wieder Hoffnungen von Tag zu Tag und zuletzt von Stunde zu Stunde – „grausam“, wie Briand sehr richtig gesagt hatte – enttäuscht worden waren, ohne daß deswegen ein Bruch eingetreten wäre. Im Gegenteil, der Zusammenhalt zwischen Frankreich, Deutschland und England schien mir gerade durch die gemeinsam überstandenen Märzstürme fester geworden zu sein.