YOLO

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»Rinderhälften?«, echote der Grauhaarige verblüfft.

Sarah Wanker blieb unbeeindruckt. »Was willst du von mir, du Clown?«, skandierte sie ungeduldig und streute dabei die Asche ihrer Zigarette auf den Teppich.

Müller ging eilfertig in die Knie und versuchte, das graue Würstchen mit der befeuchteten Fingerspitze seiner Rechten in die linke Handfläche zu befördern.

Henrik verfolgte die Aktion verächtlich grinsend. Doch dann konzentrierte er sich auf die Mutter. »Nun, du weißt doch von meinem Studium an der Fern-Uni Motherwell. Ich brauch’ nur noch vier Semester, dann habe ich meinen Abschluss. Aber die Studiengebühren sind teuer, und ich wollte dich eigentlich nicht mit den Kosten belasten.«

Das Gesicht der Mutter zeigte keine Regung.

»Fern-Uni?« Wieder das Echo von Konrad Müller, der nun ratlos mit der aufgelesenen Asche in der Gegend herumstand.

»Glaub diesem Schwätzer kein Wort, Konrad. Der lügt, dass einem Leprakranken eine neue Nase wächst«, knurrte Sarah Wanker. »Ich weiß von keinem Fernstudium.«

Ihre Nasenflügel bebten leicht. Ein untrügliches Zeichen, dass sie dabei war, die Geduld zu verlieren. Schon als kleiner Junge wusste Henrik, dass es dann Zeit war, das Weite zu suchen, weil es sonst unweigerlich Prügel setzte.

»Aber, Mutti …« Henrik zögerte. Wie lange hatte er dieses Wort nicht mehr gebraucht? Denn mehr als ein Wort war es nicht. »Aber, Mutti«, wiederholte er, »wahrscheinlich hast du vergessen, dass ich dir vor zwei Jahren von meinem Entschluss erzählt habe, Kernphysik zu studieren. Du hast ja so viel um die Ohren – deine Geschäfte und deine Reisen. Jedenfalls musste ich die Semestergebühren bezahlen und dabei habe ich nicht bedacht, dass auch die Miete fällig ist.«

»Kernphysik?«

Langsam ging es Henrik auf die Nerven, dass der Grauhaarige sich als Echo betätigte.

»Jawohl, Kernphysik, du Pinsel!« fauchte Henrik, sodass ihm der Speichel von den Lippen flog. »Und zwar in Motherwell, das ist in Irland, damit du’s weißt und in deinem Seniorenstift in der Bastelstunde was zu erzählen hast!«

Der Lover seiner Mutter bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, der Henrik nachdenklich gestimmt hätte, wäre er nicht damit beschäftigt gewesen, einen klemmenden Geldhahn zu öffnen.

»Wie viel?« Seine Mutter blieb kalt wie Schweineöhrchen im Kühlhaus.

»Siebenhundert Euro«, antwortete Henrik ebenso knapp. Er schluckte. Jetzt kam der Augenblick der Wahrheit …

»Keine Chance, mein Lieber!« Sarah Wanker drückte die Kippe mit einer heftigen Bewegung im Aschenbecher aus, vielmehr, sie zerquetschte sie regelrecht. »Du musst lernen, mit deinem Geld besser zu haushalten. Das sage ich dir schon seit Jahren. Ich habe auch meine finanziellen Verpflichtungen und darum nichts zu verschenken.«

»Welche Verpflichtungen?«, entließ Henrik aufgebracht. »Soviel ich weiß, lebst du sehr gut von Vaters Rente und in Vaters Haus. Anstatt jede Woche Geld für den Caterer auszugeben, um diese widerlichen Schlangen zu füttern, könntest du deinem Sohn ermöglichen, dass er nicht nächsten Monat unter der Brücke schlafen muss.«

Die Enttäuschung hinderte ihn nicht daran, sich eine Schüssel Kürbiscremesuppe zurechtzumachen und kleine Stückchen vom Baguettebrot einzutauchen, die er nun genüsslich am Gaumen zerdrückte.

»Du kriegst keinen Cent mehr von mir«, ereiferte sich die Mutter weiter. »Gib das Geld vernünftig und nicht fürs Saufen, für Drogen oder …«, ihr Mund ähnelte einem zähnefletschendem Bullterrier, als sie hervorstieß: »… für Stricher aus!«

Henrik hätte um ein Haar die Suppenschüssel fallen lassen, als seine Mutter diese Worte förmlich ausspie.

»Wie kannst du so was zu mir sagen?« Verdammt! Zu allem Unheil hatte er sich jetzt auch noch die Zunge verbrannt. Das tat beim Sprechen weh. Aber egal! Die Schlacht musste er gewinnen! »Tobi ist ein Trottel, ja! Aber kein Stricher. Und was hat das überhaupt mit unserem Problem zu tun?«

»Deinem Problem, mein Lieber, nicht unser Problem!« Sarah Wanker trat bedrohlich nahe an den Sohn heran und tippte mit dem rot lackierten Nagel ihres Zeigefingers gegen seine Brust. »Außerdem habe ich eine Alternative zu der Lösung, unter einer Brücke zu schlafen.«

»Welche?«, flüsterte Henrik und wagte die Suppenschüssel nicht aufs Büfett zu stellen. Er ahnte, dass nun die überraschende Wendung kam. Ob es sich um eine angenehme handelte, stand auf einem anderen Blatt.

»Du ziehst in meine Dachkammer ein.«

Henrik stand vor Staunen der Mund offen. Die Beiläufigkeit, mit der seine Mutter ihm den Vorschlag eröffnete, verblüffte ihn am meisten. »Vor ein paar Jahren konntest du mich nicht schnell genug loswerden und hast mir das Appartement gemietet. Und jetzt – wegen lumpiger 700 Euro – schlägst du vor, dass ich wieder zurückkommen soll?«

Da stimmte etwas nicht und stank ganz gewaltig. Doch was?

»Ich sage nicht, dass du zurückkommen sollst, mein Sohn«, schnappte Sarah Wanker zurück. »Durch dein Verhalten zeigst du aber, dass du nicht in der Lage bist, dein eigenes Leben zu gestalten. Du wurdest wegen Drogenbesitzes festgenommen, du treibst dich in zwielichtigen Etablissements herum, du wirst in Schlägereien verwickelt und, um allem die Krone aufzusetzen, wirst du auch verdächtigt, ein Sittlichkeitsverbrecher zu sein! Was soll ich noch aufzählen?« Den letzten Satz schrie Sarah Wanker fast heraus.

Henrik stand mit hängenden Schultern ratlos da. Ihm fiel kein Argument für seine Ehrenrettung ein, keine freche Pointe, keine verletzende Bemerkung, nicht mal eine billige Lüge. Die Schlacht war verloren. Plötzlich herrschte Stille im Raum.

Konrad Müller, der wie ein graues Gespenst im Hintergrund gelauert hatte, räusperte sich jetzt vernehmlich. Das süffisante Lächeln erschien wieder auf seinem Gesicht, als er sagte: »Übrigens, mein Junge … Motherwell liegt in Schottland, nicht in Irland.«

Henrik ließ die Suppenschüssel auf den Boden fallen, drehte sich um und verließ, so schnell es ihm möglich war, das Haus, nicht ohne die Türe wutschnaubend hinter sich zuzuknallen.

6 | Eine geniale Spielidee

Für den Rest des Tages verkroch sich Henrik voll Frust in seinem Bett. Er wollte nichts mehr hören und sehen. Am Abend rief er Tobi an. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag gegen ein Uhr. Von Tobis Wohnung aus wollten sie Frank einen Besuch abstatten, um ihn über die KoF-Spieler auszufragen, die sich regelmäßig im Molocco trafen, über deren Verbindung zu den Schlägern von neulich und über diesen Tulsadoom.

Tobi wohnte mit seinen Eltern in einem achtzehnstöckigen Hochhaus im sozialen Brennpunkt der Stadt. Die Grünanlage mit dem kleinen Spielplatz vor dem Haus war verkommen und zugemüllt. Im Sandkasten steckten neben Zigarettenkippen und verbeulten Bierdosen auch hin und wieder gebrauchte Heroinspritzen. Hinter einem kläglichen Holundergebüsch lagen ein benutztes Kondom und zerknüllte Papiertaschentücher. Die Hausfassade war mit schlecht ausgeführten oder halb fertigen Graffiti besprüht. Henrik ging achtlos an diesen traurigen Zeugnissen einer desillusionierten und chancenlosen Jugend des dritten Jahrtausends vorbei. Ihn interessierte mehr, ob dieser verdammte Aufzug funktionierte, oder ob das Ding immer noch defekt war, denn Tobis Eltern wohnten im sechzehnten Stock. Als er ins Treppenhaus eintrat, erkannte er gerade noch rechtzeitig die Lache von Erbrochenem unter den Briefkästen und sprang fluchend über den stinkenden See hinweg.

An der verbeulten Aufzugstür mit der eingeschlagenen Scheibe klebte nach wie vor ein Zettel mit der Aufschrift Außer Betrieb. Darunter war dilettantisch mit schwarzem Marker ein erigierter Penis gekritzelt.

Henrik fluchte unterdrückt. Schweren Herzens nahm er den mühsamen Aufstieg durch das verdreckte und übel riechende Treppenhaus in Angriff. Spätestens ab der sechsten Etage machten sich die zwei bis drei Pizzen pro Woche zu viel und die fehlende sportliche Betätigung unangenehm bemerkbar. Nach einem guten Dutzend weiterer deftiger Verwünschungen und fünf oder sechs Verschnaufpausen war Henrik endlich vor Tobis Wohnungstür angekommen. Völlig außer Atem drückte er auf die Klingel neben dem Namensschild Krüger.

Kurz darauf riss Tobi die Tür auf. »Ey, Alter! Da bist du ja endlich! Was ist los? Siehst gar nicht gut aus, Kumpel. Kriegst du’n Herzanfall oder so was?«

Doch ehe Henrik in der Lage war zu antworten, zog Tobi ihn in die Wohnung und redete munter weiter drauflos. »Na, komm schon, wir schieben uns gerade ein paar Burger rein.«

Im Wohnzimmer saßen Tobis Eltern auf der Couch vorm Fernseher und starrten gebannt auf die Wiederholung einer Talkshowsendung. Thema: Ich brauche jeden Tag Sex.

Vier gepiercte Jugendliche im Alter zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren saßen im Studio und übertrafen sich gegenseitig darin, sich auf üble Weise zu beschimpfen und Obszönitäten an den Kopf zu werfen. Eine zwanzigjährige fette Schlampe mit rot gefärbter Irokesenfrisur, weißem, durchsichtigem T-Shirt, unter dem die hüpfenden Fleischmassen ohne Büstenhalter wogten und wabbelten, machte sich über ihren Freund lustig, der neben ihr saß, und zwar darüber, wie wenig Standfestigkeit sein kleiner Ständer während ihrer letzten Liebesnacht bewiesen hatte.

Der bekannte Moderator Hugo Egon Pocher – nach hinten gekämmtes, gegeltes blondes Haar – grinste wie immer dreckig und machte anzügliche Bemerkungen in Richtung Publikum.

Karl Krüger, Tobis Vater, starrte mit der Bierflasche in der Hand auf den Bildschirm. Amüsiert kichernd kratzte er sich im Schritt seiner Trainingshose, während er fasziniert die Vorgänge auf der Mattscheibe beobachtete.

 

Henrik schickte ein kurzes Hallo in die Richtung der Couch. Der achtundvierzigjährige Hartz-IV-Empfänger grunzte eine Erwiderung, ohne seinen Blick vom Fernseher abzuwenden, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und rülpste vernehmlich. Frau Krüger nickte Henrik nur geistesabwesend zu, stieß ihren Mann an und rief: »Na, guck dir nur mal das dicke Mädchen an! Die isst bestimmt zu viel fettes Zeug.« Darauf widmete sie sich genüsslich schmatzend ihrem Hamburger.

Nachdem Tobi sich noch schnell zwei Cheeseburger aus der offenen Tüte gesichert hatte, verschwand er mit Henrik in seinem Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab.

Die beiden setzten sich auf die alte, abgewetzte Schlafcouch unterm Fenster. Tobi machte es sich bequem, indem er seine ausgestreckten Füße auf dem Sessel neben der Couch ablegte. Während sie aßen, besprachen sie ihre weiteren Pläne.

»Frank erwartet uns gegen zwei im Molocco«, sagte Tobi. »Was willst du denn unternehmen, wenn du erfahren hast, was du wissen willst?«

»Was ich unternehmen werde?« Henrik fletschte die Zähne, obwohl er kaute, sodass er kleine Hackfleischbröckchen auf den Teppich spuckte. »Ich werde eine Strategie entwickeln, wie ich bei unserem Gildentreffen an den Schattenmagier her-ankommen kann. Und wenn es sein muss, prügele ich die Informationen aus diesem Lord Dragon und seiner Schmeißfliege Tulsadoom heraus.« Sein Gesicht verfärbte sich rot, weil bereits wieder Wut in ihm hochstieg.

»Das wird gar nicht einfach sein, Alter«, nuschelte Tobi, die Backen vollgestopft wie ein Hamster. »Der wird ständig von seiner Gilde bewacht. An den kommst du so leicht nicht ran.«

»Mir wird schon was einfallen«, zischte Henrik böse, als säße Lord Dragon bereits neben ihm.

Tobi winkte beschwichtigend ab. »Ist ja gut, Kumpel. Ich denke, dass wir uns auf den Weg machen sollten, Frank erwartet uns.«

Sie traten wieder ins Wohnzimmer. Tobis Eltern saßen immer noch vor dem Fernseher. Mittlerweile hatte die nächste Talkshow begonnen. Thema: Hilfe, ich glaube, mein Vater ist schwul!

Kurz vor zwei Uhr kamen die beiden Freunde im Molocco an, das um diese Zeit geschlossen war.

Frank genoss das Privileg, kostenlos in einem Hinterzimmer des Etablissements zu wohnen. Noch völlig verschlafen öffnete er dem Bruder und Henrik gähnend die Tür und winkte die beiden herein. Sie folgten ihm an die Bar. Dort mixte sich Tobis Bruder einen Gin-Tonic, kippte ihn in einem Zug in sich hinein, wischte sich mit der Hand den Mund ab und seufzte: »Leute! Bin ich kaputt! Das war mal wieder ‘ne lange Nacht.«

Die schwarzen Haarsträhnen hingen Frank wirr im Gesicht. Mit verquollenen Augenlidern schaute er seine bislang stummen Besucher an. »Also, was wollt ihr Komiker von mir? Ich habe nicht viel Zeit.«

Sie setzten sich an einen Tisch neben dem Eingang. Frank holte ein Päckchen Tabak aus der Gesäßtasche seiner schwarzen Jeans und drehte sich eine Zigarette. Henrik fiel auf, dass Tobis Bruder seinen auffälligen Silberring mit der Schlange heute nicht am Finger trug. Geringschätzig zog er den linken Mundwinkel herunter: Das war eh alles nur Großmannsgehabe! Was hatte dieser Penner schon Wichtiges zu tun, außer Kotze vom Vortag aus den Klos zu wischen? Aber er würde sich hüten, solche Gedanken Frank gegenüber laut zu äußern, denn er hatte miterlebt, wie dieser eines Abends einem randalierenden Gast mit der Faust das Nasenbein gebrochen hatte. Im Zusammenhang damit fiel Henrik sein eigenes schmerzliches Prügelerlebnis wieder ein.

»Wir machen’s kurz«, sagte er. »Kennst du drei Kerle, so zwischen zwanzig und achtundzwanzig Jahren alt? Widerliche Gothics, die häufiger im Molocco rumhängen? Einer von den Typen hat ein Tattoo am Unterarm mit dem Schriftzug For Tulsadoom in love oder so ähnlich.«

Die Augen des Barkeepers blitzten wachsam auf. Er fixierte Henrik, dem sofort ein unbehagliches Gefühl aus dem Bauch aufstieg. »Warum willst du das wissen?« fragte er leise und lauernd.

Henrik schluckte. »Na, eigentlich nur so. Oder vielmehr … ich wollte …« Er geriet ins Stottern und setzte neu an. »Ich hab vor einigen Tagen im KoF mit ein paar Gamern gechattet. Einer von denen nannte sich Tulsadoom und wollte mit uns durch eine Quest ziehen. Weil ich dann nichts mehr von ihm hörte, dachte ich, dass dieser Grufti mit dem Tattoo ihn vielleicht kennt.«

Henrik hatte versucht, harmlos zu klingen und Frank in die Augen zu schauen, doch schon bald musste er den Blick senken und betrachtete nun verlegen seine lange nicht geschnittenen, unsauberen Fingernägel.

Frank grinste herablassend.

Tobi scharrte unter dem Tisch unruhig mit den Füßen und zupfte nervös an seinem Nasenpiercing.

Henrik wagte kaum, zu atmen. Er erwartete, dass Frank sie beide kurzerhand aus der Bar werfen werde.

Doch zu seiner Überraschung sagte der Barkeeper mit ruhiger Stimme: »Ja, ich kenne den Kerl mit dem Tattoo. Er nennt sich Leslie und trifft sich regelmäßig mit sechs bis acht weiteren KoF-Spielern zu einer LAN-Party hier im Molocco. Sie gehören alle derselben Gilde an.«

»Der Gilde der ehrwürdigen Schlangenmutter!«, platzte Tobi heraus. Henrik hätte ihn erwürgen können, weil er befürchtete, dass Frank misstrauisch wurde und nicht mehr weiterredete.

Doch Tobis Bruder nickte zustimmend. »Genau die meine ich. Der Boss der Gilde nennt sich Lord Dragon.«

Tobi setzte erneut zu einer Bemerkung an. Diesmal schnellte Henriks Arm wie der Leib einer Kobra vor und seine Finger krallten sich hart in den Oberarm des Freundes, sodass dieser unterdrückt aufstöhnte. »Taucht der Kerl auch manchmal hier auf?«, fragte er scheinbar beiläufig.

Frank schüttelte den Kopf, blies den Rauch seiner Zigarette Tobi ins Gesicht und grinste spöttisch. »Nein, dieser Dragon hat sich bisher nicht blicken lassen. Allerdings handelt es sich um eine Riesengilde. Man spricht von mehreren Hundert Mitgliedern im In- und Ausland. Wer weiß da schon, wo Lord Dragon im Real Life lebt.«

»Und Tulsadoom?«, fragte Tobi geradeheraus.

Henrik presste die Zähne aufeinander. Sieben Jahre Fußpilz für diesen Schwachkopf, weil der nicht das Maul hielt!

Aber auch diesmal gab Frank bereitwillig Auskunft! »Das ist, wie ich hörte, Lord Dragons Speichellecker, Laufbursche, Spion, Kundschafter, Bote – also der, der die Drecksarbeit macht. Dafür schleppt ihn Lord Dragon regelmäßig durch Schlachtzuginstanzen, levelt ihn hoch und füttert ihn zur Belohnung mit magischen Gegenständen.«

»Weil wir gerade dabei sind: Hast du schon mal was von einem Armreif des schwarzen Schattenmagiers gehört?« Henrik versuchte wiederum beiläufig zu klingen, doch er hatte den Eindruck, als zuckte Frank erschrocken zusammen. Hastig blickte er über seine Schulter, als befürchte er, sie würden belauscht. Er brachte seinen Kopf nah an Henriks Gesicht. »Was hat der Armreif mit diesem Tulsadoom zu tun?«, zischte er.

Henrik wich ein wenig zurück. »Äh …, der Kerl meinte, dass er eine Quest kennt, bei der es diesen sonderbaren Armreif als Belohnung gäbe«, log er, ohne mit der Wimper zu zucken.

Frank blickte weiterhin misstrauisch, doch nach einer Weile sprach er unaufgefordert weiter. »Na gut, damit ihr endlich Ruhe gebt … Aber für die Geschichte muss ich länger ausholen und auf die Entstehung und die Grundzüge des Spiels Kingdom of Fantasy eingehen.«

Tobi grinste vergnügt und knuffte Henrik aufmunternd vor die Brust: Die Sache läuft doch, hieß das.

Henrik schüttelte die Hand seines Freundes ab wie eine lästige Fliege. Dieser ewige Pausenclown!

Frank zündete die nächste Zigarette an und holte sich ein Glas Whiskeykola. Auf den Gedanken, seinen Besuchern etwas anzubieten, kam er nicht. Aber er erzählte nun: »Wie ihr vielleicht wisst, kam KoF vor über acht Jahren auf den Markt. Mittlerweile soll es weltweit fast neunzig Millionen User geben. Die Erfinder des Spiels – zwei Brüder namens Peter und Paul Winzig – sollen die grundlegende Spieltechnik und das Programm bereits vor über zwanzig Jahren entwickelt haben. Peter war von den beiden das Mathematik- und Computergenie und Paul derjenige, der sich um das Geschäftliche kümmerte. Ihm ist es zu verdanken, dass die Patente und Rechte der Vermarktung frühzeitig gesichert wurden. Paul starb unter dubiosen Umständen, sodass Peter zunächst des Mordes verdächtigt wurde. Es konnte ihm aber nichts nachgewiesen werden. Er tauchte später unter und arbeitete im Verborgenen an seiner Entwicklung weiter.«

Henrik gähnte demonstrativ. Die Story interessierte ihn bislang nicht wirklich. Er hoffte, dass Frank bald zur Sache käme.

Der ließ sich jedoch nicht aus dem Konzept bringen. »Die Möglichkeiten des Spieles kennt ihr beiden genauso gut wie ich. Es wurde eine virtuelle Welt erschaffen, deren Grafik der Wirklichkeit verblüffend nahe kommt. Der Computer erzeugt immer neue Landstriche, Monster und Lebewesen, sodass das Spiel nie langweilig wird. In früheren Onlinespielen mussten regelmäßig teure und aufwendige Expansions-CDs entwickelt und verkauft werden, um durch Schaffung neuer Landschaften und Quests die User zu animieren, das Game weiterzuspielen. Diese Expansionen erledigt nun das Programm von selbst. Wenn man will, kann man bis in alle Ewigkeit durch die KoF-Welt reisen. Du wirst niemals ihr Ende erreichen.«

Frank hatte sich in Begeisterung hineingesteigert. Mit glänzenden Augen starrte er auf einen imaginären Punkt an der Decke, die Hände wie ein Prediger erhoben, der seine Zuhörer segnet.

»Nun komm mal endlich zum G-Punkt, Frankie!« Henrik verlor allmählich die Geduld.

Der Barkeeper erwachte wie aus einer Trance, das Lächeln erstarb auf seinem Gesicht. Ernüchtert blickte er erst Henrik und dann Tobi an, der seinem Bruder fasziniert und andächtig zugehört hatte. Beschwichtigend winkte er ab.

»Immer mit der Ruhe, Spaßvogel. Gleich kommt’s. Also, die Fähigkeiten der Spieler vermehren sich von Level zu Level. Durch das Lösen von Quests oder das Töten von Monstern oder Feinden erhält man immer mehr Erfahrungspunkte, bis man ins nächste Level aufsteigt. Das ist natürlich noch nichts Außergewöhnliches. Die Spieler gewinnen nur mehr an Kraft, Geschicklichkeit oder Zaubertalente. Ab Level fünfundneunzig soll es aber tatsächlich außergewöhnlich werden. Es wird berichtet, dass es dann vorkommen kann, dass Dinge aus der KoF-Welt im Real Life auftauchen. Voraussetzung dafür ist allerdings ein bestimmtes Set aus magischen Ausrüstungsgegenständen: Eine Rüstung, ein Helm, ein Schwert, ein Ring und ein Armreif. Wer das komplette Set besitzt, soll über unglaubliche Fähigkeiten verfügen.«

Tobi pfiff vor Verblüffung durch die Zahnlücke.

Henrik dachte stirnrunzelnd: Sollte mein Armreif Bestandteil dieses geheimnisvollen Sets sein? Das wäre dann allerdings ein Grund, warum dieser Lord Dragon und der Schattenmagier so scharf auf das Ding sind.

Frank fuhr in seiner Erzählung fort: »Ob das alles nur Gerede ist oder ob was Wahres dahintersteckt, ist schwer zu sagen. Es ist nicht einfach, über Level neunzig zu kommen. Nur etwa fünf Prozent der Gamer haben das bisher geschafft. Dazu braucht man eine optimale Ausrüstung, die richtigen magischen Waffen und man muss Tag und Nacht vor dem Computer hocken, um wie blöd jede Menge Monster abzuschlachten. Das schaffen aber nur solche Schwachmaten wie du, Wanker.« Frank richtete seinen ausgestreckten Finger auf Henrik, als wolle er ihn anklagen. »Das größere Problem besteht jedoch darin, an die magischen Setgegenstände zu kommen.« Frank rückte mit seinem Kopf näher an die beiden heran und flüsterte: »Bisher existieren erst drei oder vier ernst zu nehmende Berichte, dass Highlevelspieler angeblich für kurze Zeit ein solches Set-Item besessen haben sollen.«

Gebannt und mit halb geöffnetem Mund hörte Henrik zu.

Tobi konnte natürlich wieder mal die Klappe nicht halten. »Aber Alter!«, tönte er. »Wieso nur für kurze Zeit? Wenn ich so ein Hammerteil in die Finger kriegte, sorgte ich dafür, dass ich’s behalte. So was kann doch nicht einfach wieder verschwinden.«

Frank zog bedeutungsvoll eine Augenbraue hoch, grinste süffisant und flüsterte weiter: »Der Gegenstand verschwindet nicht allein – der Besitzer verschwindet mit ihm.«

»Was heißt das?«, fragte Henrik mit ungläubigem Gesichtsausdruck.

»Das, was ich sagte, Spacko!« Frank spuckte verärgert auf den Boden. So weit kam es noch. Diese Pappnase zweifelte seine Glaubwürdigkeit an. »Die Typen wurden nie wieder gesehen. Verschwunden ins Nirwana oder Lost in Space, wenn dir das lieber ist, du Klugscheißer.« Er klopfte zur Bekräftigung seiner Worte laut auf den Tisch. »Jedenfalls tauchten die Spielcharaktere nie wieder auf. Vielleicht hatten sie die Schnauze voll von dem Spiel, wollten was anderes machen – Schach, Halma oder Komasaufen. Scheißegal, was weiß ich!« Frank drückte seine Zigarettenkippe auf dem Tisch aus und schnippte sie geschickt hinter den Bartresen.

 

Tobi kannte seinen Bruder. Der konnte viel ertragen, nur nicht Zweifel an dem, was er sagte, und Henrik hatte eben diesen wunden Punkt getroffen. Also warf er sich in Positur. »Mensch, Frankie, Henrik und ich finden die Geschichte hammeraffengeil. Nicht Kumpel? Ist doch so?« Dabei knuffte er den Freund wiederum augenzwinkernd gegen die Brust und gestikulierte auffordernd mit den Armen; Na los, mach schon! Klatsch’ Beifall, hieß das.

Henriks düstere, ungläubige Miene verschwand wie auf ein geheimes Kommando. Schließlich waren sie ja gekommen, um von Frank Informationen zu erhalten. Und vielleicht war in diesem, nach seiner Meinung schwachsinnigen Gebrabbel des Barkeepers doch die eine oder andere brauchbare Message enthalten.

»Ja, Frank, Tobi hat recht.« Er grinste. »Ich bin ganz spitz drauf, deine Geschichte weiter zu hören.«

Frank nickte gnädig. Nachdem er sich die nächste Zigarette gedreht hatte, fuhr er fort. »Ja, also … bei dem Set handelt es sich um Gegenstände, die eigentlich nicht für herkömmliche Spieler entwickelt wurden. Sie sollen Peter Winzig persönlich gehören, der sein Programm perfektionierte und dem dabei ein Quantensprung gelungen sein soll – die Möglichkeit, zwischen virtueller und realer Welt zu wechseln. Das bedeutet, dass der Spieler in der Lage ist, körperlich real in der virtuellen Welt zu erscheinen und zu agieren. Aber auch der umgekehrte Weg ist möglich: Gegenstände aus dem Spiel können in unsere Welt gebracht werden.«

»Na toll, ich piss mir gleich in die Hose vor Begeisterung. So einen Spam habe ich ja noch nie gehört.« Jetzt reagierte Tobi ungläubig und steckte sich als Zeichen der Verachtung den ausgestreckten Mittelfinger in den Mund.

»Aber es handelt es sich dabei doch nur um Gerüchte«, knurrte Frank. »Vor zwei Jahren stand mal ein Artikel darüber in einem Computerspielemagazin. Angeblich hat es daraufhin entsprechende Nachforschungen vonseiten der Regierung und des Militärs gegeben. Für Letzteres wäre es natürlich interessant, magische Waffen abgreifen zu können. Am Ende verlief die Untersuchung im Sand. Peter Winzig konnte nicht befragt werden, da er wie vom Erdboden verschluckt schien und seine Mitarbeiter und Manager, die dafür sorgten, dass das Spiel im Netz blieb und weiter vermarktet wurde, hatten keine Ahnung, wovon überhaupt gesprochen wurde. Schließlich hielt man das Ganze für einen Werbegag und sprach nicht mehr darüber.«

Henrik konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Märchen über Reisen in virtuelle Welten der Grund für seinen Stress mit dem Schattenmagier sein sollte. Schon gar nicht vermochte er zu glauben, dass man ihn deswegen zusammengeschlagen hatte. So blöd konnten selbst diese Schwachsinnigen nicht sein, dass die den Humbug für möglich hielten. Doch ein Unbehagen blieb nach Franks Geschichte in Henrik zurück. Er verspürte einen dumpfen Druck in der Magengrube, als er sich an den Spritzer fremden Blutes auf seiner Wange erinnerte, den er sich nach der Schlacht mit den Gnomen in der Teufelsschlucht im Badezimmer abgewischt hatte. Auch fiel ihm das Eichenblatt auf dem Teppich wieder ein, das er nach seinem Ritt durch Sleepysoul dort vorgefunden hatte. Gehörte der Armreif des Schattenmagiers wirklich zu Peter Winzigs sagenhaftem Set?

Frank riss Henrik abrupt aus seinen Gedanken. »So, Leute, jetzt hab’ ich genug gequatscht.« Der Barkeeper hatte es plötzlich eilig, seine Besucher loszuwerden. »Macht, dass ihr weiterkommt, ich hab’ zu arbeiten.« Er stand auf, scheuchte die beiden aus der Bar und schloss hinter ihnen ab.

Verdutzt standen Tobi und Henrik auf der Straße herum. »Was hältst du von der Angelegenheit?«, meinte Tobi, während er mit seinem kleinen Finger im Ohr pulte und interessiert das Ergebnis seiner Grabungsarbeiten betrachtete. »Ziemlich abgefahren das Ganze, oder?«

Henrik nahm die Brille ab und putzte die hoffnungslos verschmierten Gläser mit einem Zipfel seines T-Shirts. »Ich weiß nicht, ob sich dein Bruder nun endgültig die Birne zu Schlamm gekokst hat oder ob mehr an der Sache dran ist«, sagte er nachdenklich. »Auf jeden Fall haben wir nun genug Hintergrundinfos, um Lord Dragon beim Gildentreffen auf den Zahn fühlen zu können.«

Schließlich machten sich die beiden auf den Heimweg. Sie würden sich bald im Spiel beim Gildentreffen wiedersehen.