YOLO

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»Du solltest nicht so ungesunde Sachen zum Frühstück essen, du Büttel«, flüsterte Henrik.

Wagner glaubte, sich verhört zu haben, aber es war unmöglich, der Sache auf den Grund zu gehen, denn die Schwester schob ihn hinter Bauer in den Korridor hinaus und schloss nachdrücklich die Tür.

4 | Rätselhafte Nachrichten

Am nächsten Morgen hatte Henrik es eilig, das Krankenhaus zu verlassen. Die Ärzte wollten zwar, dass er noch ein oder zwei Tage zur Beobachtung und zur Durchführung weiterer Untersuchungen in stationärer Behandlung blieb, doch er verspürte keine Lust, erneut Besuch von der Polizei zu bekommen. Noch immer fühlte er sich wie unter den Presslufthammer geraten. Sein Körper war von Prellungen und Blutergüssen übersät. Inzwischen hatte man zwar die Nasentamponade entfernt, aber sein Gesicht besaß die Farbe und Konsistenz eines überreifen Pfirsichs. Nach wie vor litt er unter übelsten Kopfschmerzen. Trotzdem packte er seine Sachen zusammen, so schnell es ihm in diesem Zustand möglich war. Er konnte sich ja zu Hause erholen. Nachdem er die Erklärung unterschrieben hatte, auf eigene Verantwortung das Krankenhaus verlassen zu haben, ließ er sich für seine letzten Euros ein Taxi bestellen.

Daheim angekommen legte er sich sofort wieder ins Bett, um zu schlafen. Aufgrund der ständigen Übelkeit wollte ihm das aber nicht gelingen. Stöhnend humpelte Henrik ins Bad und schluckte zwei Aspirintabletten. Er hustete, spuckte altes, klumpiges Blut aus und betrachtete sorgenvoll seine Zahnlücke im linken Oberkiefer. Voll Selbstmitleid begann er zu schluchzen und schleppte sich weiter ins Wohnzimmer. Dort bemerkte er, dass der Anrufbeantworter blinkte.

In seiner Abwesenheit hatte das Gerät sechs Anrufe aufgezeichnet. Lustlos drückte er auf den Abspielknopf, um die Nachrichten abzuhören.

Anruf Nummer eins: Zunächst nur Stille und leises Rauschen. Dann ein leichtes Räuspern. Schließlich: »Äh … Hallo, Alter! Ich bin's, dein Kumpel Tobi. Lebst du noch? Wenn ja, melde dich bei mir. War'n ziemlich beschissener Abend gestern, hä?« Klicken. Tobi hatte aufgelegt.

In Henrik stieg Wut auf. Dieser Witzbold nannte den Albtraum, in dem er fast totgeprügelt worden wäre, einen beschissenen Abend! Er schwor sich, diesem pickligen Penner richtig tief in den Arsch zu treten, sobald er wieder halbwegs bei Kräften war. Erst überredete der ihn, in diese zwielichtige Bar zu gehen. Dann provozierte er die verrückten Gruftis und ließ ihn als Krönung des Ganzen bei der Schlägerei feige im Stich. Schließlich war es ihm gewissermaßen auch zu verdanken, dass ihn die Polizei für einen beschissenen Pädophilen hielt. Es ärgerte ihn, dass er sich mit diesem ausgeflippten Milchgesicht jemals eingelassen hatte.

Erst als er sich wieder beruhigt hatte, hörte Henrik die nächste Ansage ab.

Anruf Nummer zwei: »Warum meldest du dich nicht? Man kann doch von seinem Sohn erwarten, dass er sich ab und zu mal nach dem Befinden seiner Mutter erkundigt. Aber nein! Dir ist völlig egal, wie es mir geht. Der Sohn von Frau Brinkmann bringt seiner Mutter jede Woche einen Strauß Blumen vorbei. Jede Woche! Und du? Noch nicht einmal zum Muttertag!« Klick.

Blödes Theater! Um ein Haar wäre er abgekratzt. Hatte sie sich da um sein Befinden gesorgt? Henrik gab sich keine Rechenschaft darüber, dass seine Mutter vom Krankenhausaufenthalt gar nichts erfahren hatte, und spulte weiter.

Anruf Nummer drei: »Herr Wanker? Hier spricht Braun, ihr Vermieter. Sie sind mit Ihren Mietzahlungen zwei Monate im Verzug. Ich werde mich in Kürze wieder melden.« Klick.

Henrik zog eine Grimasse. Braun, dieser dumme Zausel. Der Kerl sollte sich wegen der paar lausigen Kröten nicht ins Hemd pissen. Er ließ das Gerät weiter laufen.

Anruf Nummer vier: Sekundenlanges Rauschen. Dann Klick. Wer nicht will, der hat schon, dachte Henrik. Dann der nächste …

Anruf Nummer fünf: »Äh …Wo bist du, Alter? Machst mir richtig Sorgen, Mann. Also, wenn du Lust hast, könnten wir morgen Pizza essen gehen. Okay? Dein Kumpel Tobi zahlt auch.« Klick.

Henrik grinste spöttisch, aber schon halb versöhnt. Wenigstens ein schlechtes Gewissen schien der Torfkopf zu haben. Okay, weiter zum letzten Anruf.

Anruf Nummer sechs: Rauschen … Rauschen … zehn Sekunden … fünfzehn … Henrik wollte schon die Stopptaste drücken, da hörte er ein leises Kichern und nach einer kurzen Pause eine ihm wohlbekannte Stimme: »Seid gegrüßt, edler Paladin.« Er meinte, das unverschämte Grinsen dieses schleimigen Druiden direkt vor sich zu sehen. »Ich hoffe, es geht Euch gut? Oder fühlt Ihr Euch etwa inkommod?« Wieder das unverschämte Kichern. Dann: »Mein hochherziger Lord Dragon bittet Euch zu einer Audienz anlässlich unseres diesjährigen Gildentreffens in Blackmount Castle. Es geht um den bewussten Gegenstand, der sich in Eurem Besitz befindet, Euch aber bedauerlicherweise nicht gehört.« Schweigen. Tulsadoom atmete zischend ein und aus. »Ihr wisst doch, wovon ich rede, oder? Natürlich wisst Ihr das!« Klick.

Henriks Kopfschmerzen wurden unerträglich. Ihm wurde schwarz vor Augen. Unbeschreiblicher Hass erfüllte ihn. Er stieß unartikulierte Schreie aus und biss in die Knöchel seiner geballten linken Faust, was ihm aufgrund des ausgeschlagenen Zahnes noch mehr Schmerzen verursachte. Wie irr spuckte er immer wieder auf den Boden. Und plötzlich wurde ihm alles klar: Diese drei Gruftis aus Franks Bar, die ihm so übel mitgespielt hatten, waren Handlanger von Tulsadoom, die ihm in dessen Auftrag einen Denkzettel verpasst hatten. Die Einschüchterung sollte bewirken, dass er beim Gildentreffen klein beigab und Lord Dragon freiwillig den Armreif ablieferte. Aber die Rechnung würde nicht aufgehen. Er würde Lord Dragon den stinkenden Penis des Druiden ins hochherzige Maul stopfen und anschließend sein Schwert so tief in den Hintern des Schattenmagiers schieben, dass kein Echolot es mehr orten konnte.

Henrik war gerade auf dem Höhepunkt seiner Amokstimmung angelangt, als es an der Tür klingelte. Wutschnaubend und humpelnd wie der Glöckner Quasimodo bewegte er sich in den Korridor. Er vermutete, dass es Tobi war, der mit ihm Pizza essen gehen wollte. Deshalb riss er die Tür auf und schrie: »Was willst du gepierctes, pickelgesichtiges Klappergestell von mir?« Aber vor der Tür stand Herr Braun, sein Vermieter.

Henrik glotzte ihn verblüfft mit weit aufgerissenen Augen und halb geöffneten Mund an. Speichel tropfte ihm seitlich an der geschwollenen Unterlippe vorbei.

Herr Braun war ein kleiner, drahtiger Mittsechziger, der immer ein kariertes Jackett, weißes Oberhemd, dezente Krawatte und penibel gebügelte Bundfaltenhosen trug. Das dünne, graue Haar war sorgfältig nach links gescheitelt. Wenn er über Henriks Begrüßung oder dessen ramponiertes Aussehen geschockt war, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Schön, dass ich Sie mal persönlich antreffe, Herr Wanker«, sagte er kühl und mit unbewegtem Gesichtsausdruck.

Verblüfft stotterte Henrik: »Ach, Sie sind es, Braunie! Äh, ich meine natürlich Herr Braun. Wie geht’s denn so und wie geht’s der verehrten Frau Gemahlin?«

In den letzten Wochen war er Braun geschickt aus dem Weg gegangen und hatte so getan, als ob niemand daheim sei, sobald der Vermieter im Haus aufkreuzte. Doch nun hatte der Mann ihn erwischt.

»Herr Wanker, ich mache es kurz.« Braun entnahm der Innentasche seines Jacketts einen Briefumschlag und hielt ihn Henrik entgegen. »Sie sind zwei Monate mit Ihren Mietzahlungen in Verzug.«

Henrik starrte den Umschlag an, als ob der Milzbrandsporen enthielte. »Herr Braun, es ist mir … es tut mir so leid«, stotterte er. »Meine liebe Mutter musste ins Krankenhaus – schwere Lungenentzündung, die Arme. Der rechte Lungenflügel wurde entfernt. Sie glauben gar nicht, was das alles kostet, diese Arztrechnungen für die Medikamente Penicillin, Aspirin, Kodein und Kokain …«

»Kokain?« Das Gesicht des Vermieters nahm einen misstrauischen Ausdruck an.

Henrik redete unbeirrt weiter. »Deshalb hatte ich sogar einen Nebenjob als Zeitungsausträger für ›die Bäckerblume‹ angenommen. Nacht für Nacht habe ich Zeitungen verteilt, bis ich endlich auch das Geld für die ausstehende Miete zusammenhatte.« Henrik schnäuzte gerührt in sein Taschentuch und betrachtete interessiert das Ergebnis, ehe er fortfuhr: »Und dann wurde ich letzte Nacht, kurz vor Ende meiner Tour, von der Russenmafia überfallen.«

»Russenmafia«, echote Braun.

»Vielleicht waren es auch Rumänen. Jedenfalls umzingelten mich fünf Kerle – alle Bodybuilder. Zwei konnte ich in die Flucht schlagen, doch die übrigen haben mir von hinten einen Baseballschläger übergezogen. Dann wurde ich besinnungslos. Oh, es hat sooo wehgetan.« Henrik schluchzte jammervoll in sein Taschentuch.

Herr Braun schien davon wenig beeindruckt zu sein. »In zwei Tagen ist die ausstehende Miete auf meinem Konto oder ich lasse die Wohnung räumen. Guten Tag!« Er warf den Umschlag in den Korridor hinein, drehte sich auf dem Absatz um und stieg eilig die Treppe hinab.

Henrik bückte sich mühsam, hob den Brief auf und riss missmutig den Umschlag auf. Wo sollte er bloß die darin abverlangten siebenhundert Euro hernehmen?

Übers Geländer spähte er vorsichtig ins Treppenhaus hinunter. Als er sicher war, dass Braun das Haus verlassen hatte, schrie er: »Verpiss dich, du aufgeblasener Schwachmat!« Danach war ihm wohler.

Er schlug die Tür hinter sich zu und setzte sich auf die Couch, um nachzudenken, was durchaus nicht einfach war, denn sein Schädel brummte schlimmer als je zuvor. Er musste unbedingt seine Mutter besuchen, um an Geld zu kommen.

Aber etwas anderes war noch viel wichtiger. Doch was war das gewesen? Wenn er nur endlich wieder hätte klar denken können … Diese verfluchten Kopfschmerzen und diese Übelkeit! Henrik versuchte, sich zu konzentrieren.

 

Was, um Himmels willen, lief hier nicht richtig? Irgendetwas hakte ganz gewaltig und war systemisch absolut nicht korrekt.

Und dann – schlagartig – wurde ihm bewusst, was nicht stimmte: Die Geschichte mit dem Schattenmagier und dem magischen Armreif waren Dinge, die sich im Game abspielten, im Kingdom of Fantasy.

Aber das Tattoo am Arm des Gothics war ganz klar Real Life, ebenso die Nachricht des verdammten Magiers auf dem Anrufbeantworter.

Die Grenzen von Realität und Spiel schienen allmählich zu verschwimmen. Was bedeutete das?

Am Abend saß er dann wieder versöhnt mit Tobi zusammen im Türkenimbiss um die Ecke. Tobi schlang gierig und mit Appetit seine Pizza Diavolo hinunter, während Henrik ihm voll Neid zusah. Er war noch nicht in der Lage, feste Nahrung zu sich zu nehmen. Der Imbissbudenbesitzer konnte ihm nur eine Tasse Instanthühnerbrühe anbieten.

»Ist ja völlig abgefahren, die Geschichte, die du mir da erzählst, Alter.« Tobi schmatzte hingebungsvoll und stopfte sich das nächste Pizzastück in den Mund. »Und du bist sicher, dass du wirklich mit diesem Druiden am Telefon geplaudert hast?«

»Ich habe nicht mit ihm geplaudert, du Vollidiot! Er hat auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Verstehst du das jetzt endlich?«

Tobi blieb vor Schreck der Bissen im Halse stecken, als Henrik ihn so anfuhr, doch nach kurzer Zeit kaute er vergnügt weiter.

»Und glaub’ mir, diese verlogene Schwuchtelstimme hör’ ich aus jedem Kirchenchor ‘raus«, grummelte Henrik und schlürfte vorsichtig einen winzigen Schluck Brühe. »Die Schlägertypen aus dem Molocco stecken ebenfalls mit dem Kerl unter einer Decke.«

»Nun ja …«, meinte Tobi unsicher und wischte sich mit dem Handrücken den fettverschmierten Mund ab. Die Pizza war vertilgt. Mit einem letzten bedauernden Blick schob er die leere Schachtel beiseite. Ein winziges Stück Pepperoni klebte weiterhin unbemerkt an seinem Nasenpiercing. »Nun ja … wir könnten Frank mal fragen, ob der was weiß.«

Henrik horchte auf. »Was hat denn dein Bruder mit der Sache zu tun?«

Tobi grinste. »Es ist so: Einmal im Monat trifft sich im Molocco eine Gruppe KoF-Spieler zu einer LAN-Party. Die Typen nehmen gemeinsam an Schlachtzügen oder Arenakämpfen teil.«

Henrik sah den Freund mit offenem Mund ungläubig an. »Und das sagst du mir erst jetzt? Das könnte eine Menge erklären.«

Tobi stand auf und legte acht Euro auf den Tisch. »Na, dann! Komm, wir besuchen Frank.«

Henrik schüttelte den Kopf. »Später. Für heute hab’ ich die Nase voll.« Dabei tastete er vorsichtig seine geschwollene und nicht ganz gerade Nase ab. »Ich schlucke noch zwei Aspirin und haue mich danach sofort ins Bett.«

Die beiden traten auf die Straße hinaus. Tobi sagte: »Geht klar, Alter«, und erkundigte sich: »Sehen wir uns morgen im Game?«

Henrik hob die Schultern. »Mal sehen. Vielleicht am Abend. Morgen muss ich endlich mal die Krankmeldung bei meinem Chef abgeben. Der ist sowieso schon angepisst. Und dann muss ich zu meiner Mutter und Geld besorgen. Vielleicht kann ich mich am späteren Abend kurz einloggen.«

»Geht klar, Alter«, meinte Tobi wieder. Er hob grüßend die Hand. Dann machten sich beide auf den Weg nach Hause.

5 | Besuch bei Mutter

Nachdem er ausgeschlafen hatte – so gegen Mittag –, suchte Henrik auf direktem Weg seine Mutter auf, denn er war zu der Einsicht gelangt, dass es wichtiger sei, zuerst Geld zu besorgen. Die Krankmeldung bei seinem Arbeitgeber konnte noch warten.

Sarah Wanker wohnte in einer Reihenhaussiedlung in einem Stadtviertel, in dem vorwiegend Rentner und Angehörige der Mittelschicht lebten. Die Vorgärten waren penibel gepflegt, ohne die Spur eines Unkräutleins.

Über Sarahs Haustür hing ein kitschiges, handgeschnitztes Willkommensschild aus Holz, das sie aus dem letzten Skiurlaub aus Davos mitgebracht hatte.

Henrik hatte sich eine halbwegs saubere Hose und ein nicht allzu verknittertes T-Shirt angezogen mit dem Aufdruck »Besser arm dran als Arm ab«. Es ging ihm heute schon deutlich besser. Die Kopfschmerzen hatten nachgelassen und auch die gebrochenen Rippen taten nicht mehr so weh, wenn er tief durchatmete. Trotzdem war ihm nicht wohl in seiner Haut.

Er verspürte immer eine gewisse Beklommenheit, wenn er die Mutter besuchte. Ihr Verhältnis war – gelinde gesagt – nicht gerade harmonisch. Henrik erschien deshalb nur bei ihr, wenn er Geld brauchte. Die Mutter dagegen machte ihm ständig Vorwürfe wegen seiner Undankbarkeit, Schlampigkeit und Faulheit.

In Wahrheit interessierten sich beide herzlich wenig füreinander. Sarah Wanker führte ein aufwendiges Leben, kaufte sich unentwegt neue Kleider, ging zur Kosmetikerin und war drei- bis viermal im Jahr auf Reisen. Henrik wusste genau, dass er von der Mutter kein Geld zu erwarten hatte, wenn er sie direkt danach fragte. So ergriff er bei jedem Besuch die Chance, alles zu stehlen, was im Hause nicht niet- und nagelfest war, um es bei Billie oder anderswo zu verkaufen. In letzter Zeit schien seine Mutter jedoch bemerkt zu haben, dass immer wieder mal etwas fehlte. Sie war offenbar misstrauisch geworden und ließ ihn nur noch selten aus den Augen, wenn er bei ihr auftauchte. Diesmal hoffte er inständig auf ihre Bereitschaft, ihm das Geld für die Miete zumindest zu leihen, weil er ja sonst auf der Straße säße.

Mit einem Kloß im Hals betätigte er die Klingel. Als hätte sie die ganze Zeit nur darauf gelauert, riss seine Mutter die Haustür auf und starrte ihn mit verkniffenem Gesichtsausdruck an. Sarah Wanker war auffallend geschminkt – knallroter Lippenstift, Rouge auf den Wangen und blauer Lidschatten. Die blonden, mittellangen Haare zierten im Pony drei pinkfarbene Strähnen, die nicht so recht zu ihren achtundvierzig Jahren passen wollten. Den Kopf missbilligend schüttelnd, winkte sie ihn ins Haus. Ihre rot lackierte Fingernägel blitzten auf wie Blutstropfen.

Henrik folgte der Mutter ins Wohnzimmer und blieb dort abrupt stehen, wie ein Tier, das von einem Scheinwerfer geblendet wird. An einem runden Eichentisch saßen die vier Freundinnen Sarah Wankers bei der allwöchentlichen Bridgepartie. Wie hatte er das nur vergessen können? Doch nun war es zu spät, sich zurückzuziehen. Henrik kannte die Frauen schon seit seiner Kindheit. Er hatte diese aufgedonnerten Hexen noch nie leiden können. Das beruhte jedoch auf Gegenseitigkeit. Ihr Alter lag zwischen vierzig und fünfzig Jahren, alle gekleidet in Designerklamotten, mit Gucci- oder MCM-Täschchen – nicht besonders geschmackvoll zusammengestellt, aber auf alle Fälle teuer.

Mit verkniffenen Gesichtern starrten sie ihn an, jede in Lauerposition, zum Sprung bereit, um ihn fertigzumachen.

Da war zunächst Kirsten Stadler – schwarze Kurzhaarfrisur, Ganzkörper-Sonnenbankbräune, perfektes Make-up, äußerst gewagtes Dekolleté, enger schwarzer Lederrock, bis knapp unter die Knie, High Heels. Dann Yvonne Nordmann – schulterlange, weißblond gefärbte Haare, weißes Armani-Kostüm, extrem auf Figur gearbeitet. Beide hatten deutlich ältere Ehemänner geheiratet, die reich wie Hiob und bereits vor zehn beziehungsweise fünfzehn Jahren verstorben waren. Die untröstlichen Witwen bemühten sich seitdem nach besten Kräften, das geerbte Geld unter die Leute zu bringen.

Betty von Werdersmark hatte dagegen das zweifelhafte Glück, dass ihr Mann noch lebte. Graf Roderick von Werdersmark weigerte sich trotz seiner sechsundachtzig Lenze abzutreten. Betty zahlte es ihm heim, indem sie ihrerseits Männerbekanntschaften mit deutlich jüngeren Liebhabern pflegte. Die attraktive, brünette Frau mit dem etwas ausladenden, aber straffen Hintern und den fast zu perfekten Brüsten brauchte vorerst nicht zu befürchten, dass ihr der Nachschub an abwechslungsreichem Frischfleisch im Bett ausgehen werde.

Frau Mai-Lin Kim war unverheiratet und stammte aus Korea. Sie war für ihr Alter noch immer eine exotische Schönheit mit hohen Wangenknochen und dunklen Mandelaugen und die einzige des Kleeblattes, die nicht von einem Freund ausgehalten wurde oder auf ein Erbe zurückgreifen konnte. Auf ihren Beruf angesprochen, nannte sie sich selbst »Körpertherapeutin«. Henrik war ihr einmal aus Neugier heimlich bis zu ihrem Appartement gefolgt. Neben einem roten Klingelknopf befand sich ein Schild mit der Aufschrift: »Mai-Lins Entspannungsmassagen – Tantra. Termine nach Vereinbarung von 20.00 bis 1.00 Uhr, samstags bis 3.00 Uhr.«

Henrik bemerkte noch einen weiteren Gast. Ein schmaler, grauhaariger Mann – vielleicht Anfang sechzig – in blauer Jeans und weißem Hemd saß mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen im Sessel neben dem Bücherschrank und las die Tageszeitung. Als Henrik das Zimmer betreten hatte, waren alle Gespräche schlagartig verstummt. Der Grauhaarige unterbrach seine Lektüre, betrachtete ihn interessiert und – wie es Henrik schien – mit einem ironischen Lächeln.

»Was willst du hier?«, fragte Sarah Wanker ihren Sohn unfreundlich. »Du störst uns beim Bridgebrunch.«

Auf einem zweiten Tisch standen Fingerfoodhäppchen bereit. Das Büfett bot alles, was sich ein verwöhnter Gourmetgaumen nur wünschen konnte – angefangen von Schinken-Melonen-Streifen über Tomaten auf Mozzarella bis zu Lachsschnittchen, Putenbrust und Hähnchenspießen. Auf einer Warmhalteplatte dampfte eine Terrine mit köstlicher Kürbiscremesuppe. Das eine Ende des Tisches wurde durch eine Schüssel Belugakaviar, das andere durch eisgekühlte Austern begrenzt.

Henrik schluckte. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als ihm bewusst wurde, dass die Instantbrühe vom gestrigen Abend das Letzte war, das er zu sich genommen hatte.

Es hatte nicht nur daran gelegen, dass er immer noch nicht vernünftig kauen konnte, auch in seinem Kühlschrank herrschte bis auf ein angebrochenes Glas saurer Gürkchen und eine Tüte Frischmilch, deren Haltbarkeitsdatum seit fünf Tagen abgelaufen war, gähnende Leere. Dies lag wiederum daran, dass er sein letztes Geld für die Taxifahrt vom Krankenhaus nach Hause ausgegeben hatte. Seine ihm noch zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel betrugen exakt achtundsiebzig Cent.

»Und wie du wieder aussiehst!«, nörgelte Sarah Wanker. Angewidert verzog sie das Gesicht und musterte ihren Sohn von oben bis unten. »Konntest du meinen Gästen diesen Anblick nicht ersparen? Treibst dich nachts in zwielichtigen Bars rum, prügelst dich und machst deiner Mutter eine peinliche Szene!«

Gemurmel und Kopfnicken des Kleeblattes. Der Grauhaarige sagte nichts, grinste nur weiter.

»Szene? Was für eine Szene, verdammt noch mal?«, versuchte Henrik sich mit einem Gemisch aus Empörung und Fassungslosigkeit zu verteidigen. »Ich habe doch noch keinen Ton gesagt? Und woher weißt du überhaupt, was in der Nacht vor dem Molocco passiert ist?«

Sarah Wanker schnaufte verächtlich und zündete sich eine Zigarette an. »Zwei Polizisten haben mich informiert. Bauer und Wegner hießen sie, glaube ich.« Betont zielgerichtet stieß sie den Rauch aus und verharrte in einer affektierten Pose.

»Wagner!«, korrigierte Henrik prompt.

»Wie?« Sarah Wanker runzelte unwillig die Stirn und fixierte den Sohn angriffslustig.

»Wagner! So heißt dieser nach Zwiebeln stinkende Schmalspurderrick!«, knurrte Henrik. »Man hat dich also darüber informiert, wie übel ich zugerichtet wurde, aber du hast es nicht für nötig befunden hast, mich im Krankenhaus zu besuchen.«

Nicht, dass er seine Mutter am Krankenbett vermisst hätte, aber die anderen sollten wissen, wie es um ihre Fürsorge wirklich stand.

»Nun übertreib mal nicht so, mein Lieber.« Die stimmliche Tonlage seiner Mutter stieg. Sie lief allmählich zur Hochform auf. »Die netten Polizisten haben mich wohl darüber informiert, dass die paar Schrammen dich nicht umbringen werden. Und außerdem …« sie machte eine Kunstpause, in der sie dem Kleeblatt triumphierend zuzwinkerte, »und außerdem hast du diese Abreibung verdient, wenn du wirklich versucht haben solltest, einen kleinen Jungen zu belästigen.«

Augenblicklich wich die Farbe aus Henriks Gesicht und die Blutergüsse wurden besonders deutlich. Er stand sprachlos und wie vom Donner gerührt.

Frau Stadler entfuhr ein kurzer Aufschrei, dann hielt sie sich ungläubig die Hand vor den Mund.

Frau Nordmann fixierte ihn mit einem Grinsen, das so dreckig war, dass Henrik das Gefühl bekam, sich schleunigst das Gesicht waschen zu müssen.

Mai-Lin Kim zischte Frau von Werdersmark etwas ins Ohr. Henrik glaubte das Wort »Hinterlader« vernommen zu haben.

 

Der Grauhaarige erhob sich mit einem Auflachen und hielt der Mutter einen Aschenbecher hin, in den sie mit einer Geste, als habe sie soeben einen Gegner erfolgreich zur Strecke gebracht, die Zigarettenasche abklopfte. Dann legte er den Arm um ihre Schulter und beide starrten ihn an wie Präparatoren, die einen Schmetterling aufgespießt hatten.

»Es war kein kleiner Junge, sondern nur Tobi!«, schrie Henrik. Doch noch während dieses Aufschreis begriff er: Das war die falsche Antwort auf die Anschuldigung.

»Er gibt es auch noch zu, das Schwein!«, keifte Frau Nordmann.

»An eine richtige Frau traut sich der Schlappschwanz nicht ran«, höhnte Frau Stadler, schlürfte ordinär eine Auster und drehte den Glibber mit einer obszönen Zungenbewegung im Mund herum.

Mai-Lin kicherte hysterisch und klatschte in die Hände, begeistert über die zweideutige Vorführung.

»Ich … ich … ich meine …«, stotterte Henrik hilflos und rang um Fassung. »Ich meinte, ich habe niemanden belästigt und diesen Schwachkopf Tobi schon gar nicht.«

Niemand hörte ihm zu. Das Kleeblatt redete wild durcheinander und versuchte sich darin zu übertreffen, seine Abscheu Henrik gegenüber zum Ausdruck zu bringen.

Die Mutter und der Grauhaarige schauten sich nur bedeutungsvoll an und sagten kein Wort.

Schließlich erhob sich Frau von Werdersmark und wandte sich an Sarah Wanker. »Schätzchen, ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt gehen.«

Zustimmendes Gemurmel vonseiten der übrigen Damen.

»Das weitere Gespräch ist wohl eher eine Familienangelegenheit. Wenn du Hilfe brauchst, weißt du, dass du mich jederzeit anrufen kannst, Schnuck.« Betty küsste die Freundin flüchtig auf den Mund und tätschelte ihr mit der manikürten, solitärgeschmückten Hand die Wange.

›Schnuck?‹, dachte Henrik erstaunt, vergaß aber den Kosenamen seiner Mutter in Anbetracht der äußerst peinlichen Gesamtsituation schnell wieder.

Die anderen verabschiedeten sich ebenfalls.

Mai-Lin Kim schob sich an Henrik vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Nachdem sie Sarah Wanker und den Grauhaarigen umarmt hatte, meinte sie: »Wenn es Probleme gibt, kann ich euch die Adresse eines guten Anwalts geben – oder eines Therapeuten«, ergänzte sie, nun mit einem angewiderten Seitenblick auf Henrik.

»Eines Körpertherapeuten vielleicht?«, giftete Henrik anzüglich. »Ich kenne da auch eine gewisse Adresse in der Maxstraße.«

Doch die Frauen reagierten nicht auf Henriks Anspielung. Sie schoben sich plappernd in Richtung Haustür. Sarah Wanker begleitete sie, immer wieder für die peinliche Situation um Entschuldigung bittend, in der sie ihr nichtsnutziger Sohn gebracht habe. Frau Stadler versicherte für alle, dass sie als Mutter ja keine Schuld trage. Wahrscheinlich stamme diese »Veranlagung« vom Vater. Dann schloss sich die Tür hinter dem Kleeblatt und es herrschte Stille.

Henrik stopfte sich gierig Putenbrust in den Mund und versuchte, so vorsichtig wie möglich zu kauen. Doch der Schmerz bewog ihn schnell, das Stück lieber komplett hinunterzuschlingen.

Sarah Wanker kehrte wortlos ins Wohnzimmer zurück und zündete sich die nächste Zigarette an. Als sie den Sohn am Büfett schlingen sah, schüttelte sie angewidert den Kopf.

Der Grauhaarige stand immer noch mit verschränkten Armen an der gleichen Stelle und grinste belustigt.

»Wer ist dieser Ladykiller überhaupt?«, fragte Henrik mit einer Kopfbewegung in Richtung des Mannes, leckte sich die fettigen Finger ab und pulte sich mit dem Zahnstocher ein Stück Pute aus den Zähnen.

»Das ist Herr Müller, ein alter Freund und Geschäftspartner«, antwortete seine Mutter, trat neben den Grauhaarigen und hakte sich demonstrativ bei ihm unter.

Henrik nickte. Ja, so konnte man das auch nennen. Mühsam schob er sich ein Löffelchen Kaviar zwischen die Zähne. »Alt isch schon richschisch«, nuschelte er und schluckte das Zeug hinunter. »Gab’s den bei der Frühjahrstombola im Altenheim als Trostpreis?« Es gluckste belustigt über seinen Witz. Die Zahnlücke im Oberkiefer kam zum Vorschein, während die übrigen Frontzähne mit Kaviarkörnern bedeckt waren.

Die Augen des Grauhaarigen verengten sich zu Schlitzen. Hasserfüllt starrte er Henrik an. Die aufgesetzte Fröhlichkeit war plötzlich wie weggewischt.

Das reizte Henrik noch mehr zum Lachen, er verschluckte sich, würgte und hustete einen Teil des Kaviars aufs Büffet. »Sorry«, murmelte er mit hochrotem Kopf, goss sich schnell aus einer Karaffe ein Glas Wasser ein und trank, trotz Schmerzen, in möglichst großen Schlucken. »Ah …«, seufzte er dann erleichtert und wischte sich mit der Hand den Mund ab. »Jetzt geht’s mir gleich besser.«

Seine Mutter begann zu schluchzen und schmiegte ihr Gesicht an Herrn Müllers Schulter. »Wie konnte er … schluchz … mich nur so … schluchz … vor meinen Freundinnen … schluchz, schluchz … blamieren?«, jammerte sie.

Der Grauhaarige strich ihr tröstend übers Haar.

»Wer hat hier wen blamiert?« Henrik war stinksauer über das Schmierentheater, das seine Mutter aufführte. »Wer hat diesen vier Schlampen denn weisgemacht, dass der Sohn angeblich ein Perverser ist?«

»Angeblich?«, meldete sich Herr Müller ironisch.

»Ach, er kann sprechen?« Henrik tat, als sei er von dieser Tatsache überwältigt. »Ich dachte schon, dass man Häuptling ›Grauer Star‹ aus 'nem Stummfilm gecuttet hätte. Wirklich faszinierend!« Er nickte anerkennend. »Doch mal davon abgesehen frage ich mich: Was mischt sich dieser Kerl in unsere Angelegenheiten ein?«

Sarah Wanker vergaß das Schluchzen. »Herr Müller genießt mein vollstes Vertrauen.« Sie blickte mit einem zärtlichen Augenaufschlag zu dem Grauhaarigen auf und spitzte dabei den Mund. »In allen Dingen«, ergänzte sie schelmisch.

Henrik wurde beinahe übel von diesem Getue.

»Du solltest etwas rücksichtsvoller mit deiner Mutter umgehen, mein junger Freund«, sprach Müller in lehrerhaftem Ton und strich der nun wieder Tiefbetrübten erneut übers Haar.

Henrik bekam eine Gänsehaut.

»Ich kenne Sarah jetzt schon mehr als zwanzig Jahre und uns verbinden viele gemeinsame geschäftliche, aber auch persönliche Aktivitäten.« Diesmal folgte der Augenaufschlag von der Seite des Grauhaarigen, ehe er hinzusetzte: »Und ich weiß, wie sensibel und zerbrechlich meine Rose ist.«

Dann fixierte er Henrik böse. Sein linker Mundwinkel begann nervös zu zucken. Seine Lippen wurden schmal und es klang bedrohlich, als er sagte: »Ich werde nicht zulassen, dass ein Taugenichts von Sohn Sarah das Leben zur Hölle macht.«

Die Mutter gab die Schauspielerei nun endgültig auf. »Konrad ist mein Lebensgefährte. Gewöhn dich gefälligst daran!«, zischte sie.

Die beiden starrten Henrik herausfordernd an.

»Na, meinen Segen habt ihr!« Henrik winkte gelassen ab. »Ich steh’ eurem Glück sicher nicht im Weg, ihr Turteltäubchen.« Er wandte sich an seine Mutter. »Aber dann nerv’ mich auch nicht ständig mit deinen Anrufen. Hör endlich auf, Interesse für mein Leben zu heucheln.«

Schon seit geraumer Zeit hatte Henrik das vage Gefühl, dass die Mutter ihn lediglich anrief, um ihn zu kontrollieren, beinahe so, als überwache ein Privatdetektiv den des Ehebruchs verdächtigen Mann einer Klientin. Warum begnügte die Alte sich nicht mit ihrem Stecher? Doch bevor er weiter gedanklich abschweifte – er musste endlich zum eigentlichen Anliegen seines Besuches kommen.

»Ich will euch ja nicht länger stören, denn auch meine Zeit ist knapp.« Henrik unternahm den kläglichen Versuch eines Zwinkerns seines in allen Regenbogenfarben leuchtenden, geschwollenen linken Auges. »Ihr wisst schon … Termin mit meinem Broker. Heute entscheidet sich, ob ich in Badeprodukte oder Rinderhälften investiere.«