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3.3. Dritte Konzentration: Sie über sich!

In dieser Arbeit sollen Texte untersucht werden, die sich mit sich selbst beschäftigen.1 Sie sollen Auskunft darüber geben, warum oder mit welchem Zweck sie geschrieben wurden. Sie stehen mit dem Korpus des Werkes in engem Kontakt, kommentieren es, weisen aus, warum es geschrieben wurde und weshalb es verdient, Gehör zu finden.

Entscheidend ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung dabei, dass sie sich „an der Selbstbeschreibung des Textes orientiert“.2 Ein zu beobachtendes und zu beschreibendes „Textoberflächenphänomen“3 steht damit im Fokus des Interesses. Fragen nach der Erlebnisechtheit von Offenbarungen werden folglich genauso außen vor gelassen wie solche nach der Historizität des Erzählten.4 Mit dieser Konzentration werden alle Aspekte ausgeblendet, die sich auf außersprachliche Wirklichkeit beziehen. Beschrieben werden soll nur der Anspruch der Texte auf Autorität, nicht aber ob dieser Anspruch bei den Adressaten wirklich verfangen hat.5

Gleichfalls werden die Behauptungen der Texte nicht auf ihren Wirklichkeitsbezug untersucht und damit wird kein Urteil darüber abgegeben, ob die Texte gerade im Hinblick auf Apk 1,1–3 „wirklich“ von Gott gegeben sind. An diesem Punkt kann diese Untersuchung deshalb auch in keiner Weise methodisch ansetzen.6

3.3.1. Metatexte

Gemäß den Bestimmungen von Gérard Genette können die Texte, die zu untersuchen sein werden, auch als Paratexte bestimmt werden.1 Lk 1,1–4 müsste dann als Vorwort angesehen werden, das dazu dient, den Leser „durch einen typisch rhetorischen Überredungsapparat festzuhalten.“2 Joh 20,30–31 dürfte als Nachwort anzusprechen sein3 und Apk 1,1–3 wäre in seinem Sinn als thematischer Titel der Apk zu bestimmen.4

Die Untersuchung wird allerdings zeigen, dass die untersuchten Texte zwar wie Paratexte dem Werk beigeordnet (z.B. als Überschrift oder Vorwort5) sind, oft also die Schwelle markieren,6 die es zu übertreten gilt, um in das Werk hineinzugelangen (Lk 1,1–4; Joh 20,30–31) oder aus ihm herauszukommen (Joh 20,30–31), dies aber immer so vornehmen, dass auf das jeweilige Werk in kommentierender Absicht Bezug genommen wird, was wiederum einem Metatext entspricht.7 Gegen die Verwendung der Bezeichnung Paratext spricht im vorliegenden Fall, dass die zu besprechenden Texte nicht wie bei anderen Literaturwerken, die Genette vor allem zur Bestimmung seiner Kriterien heranzieht, deutlich als deren Rahmen abgegrenzt sind (eben deutlich als Titel oder Vor- und Nachwort), sondern bei den biblischen Texten „ins Kontinuum eines grösseren Zusammenhangs eingelassen sind.“8

Außerdem trifft auf diese kanonisch gewordenen Texte nicht zu, was bei Paratexten zu erwarten wäre. Im Gegensatz zum eigentlichen Text, der nach Genette „unwandelbar und als solcher außerstande [ist], sich an die Veränderungen seines Publikums in Raum und Zeit anzupassen“,9 leisten Paratexte genau das: „Der flexiblere, wendigere, immer überleitende, weil transitive Paratext ist gewissermaßen ein Instrument der Anpassung.“10 Deshalb kann und soll er sich in der Überlieferung des Werkes immer wieder wandeln, um dem Werk zu jeder Zeit dienlich sein zu können. Diese Flexibilität, die dafür sorgt, „dass der wesentlich stabilere Haupttext mit dem diachronen Wandel Schritt hält“,11 fehlt den biblischen Texten. Vielleicht ist im Zuge ihrer eigenen Kanonisierung ihr ursprünglich paratextueller Charakter, der aber vor allem für Apk 1,1–3 behauptet werden kann, verloren gegangen, sodass sie letztlich als Metatext angesehen werden müssen. In jedem Fall geht es also um die metakommunikative Funktion der Texte.12

Um nun drittens eine einheitliche und in der Exegese verbreitete Begrifflichkeit zu verwenden,13 sollen die Texte, die die beschriebenen Voraussetzungen aufweisen, daher als „Metatexte“ bezeichnet werden, da es der Untersuchung darauf ankommt, die kommentierenden, also selbstexplikativen Aussagen zu beschreiben.

3.3.2. Selbstreferentialität

Mit dieser Entscheidung geht eine weitere Konzentration einher, die sich aus inhaltlichen Gründen nahelegt. Die Leitfrage schließt Texte aus, die nicht erkennbar über sich selbst nachdenken, sondern von anderen Texten sprechen. In diesem Fall sind solche Texte keine Metatexte im Sinne dieser Untersuchung, da sie nicht ihre eigene Genese offenlegen, ihre eigene Absicht beschreiben und keine Autorität für sich selbst erheben.

Dies dürfte bei den „klassischen“ Stellen der Fall sein, die – meistens in dogmatischen Zusammenhängen – angeführt werden, wenn das Thema der Schriftautorität berührt wird.1 Röm 15,4; 2Tim 3,16 und 2Petr 1,20 werden demnach nicht nur deshalb von dieser Untersuchung ausgeschlossen, weil sie der Briefliteratur zugehörig sind, sondern auch weil sie nicht über sich selbst sprechen, sondern über die Texte ihrer „Heiligen Schrift“, also über historisch nur schwer exakt greifbare Varianten des Textcorpus, das man gewöhnlich „Altes Testament“ nennt.2

Röm 15,4 bezieht sich deutlich auf den zuvor zitierten Psalm 68,10 (LXX) und zeigt durch die Verwendung von προγράφω klar an, dass Paulus nicht an den eigenen Brief denkt.3

2Tim 3,16 bezieht sich gleichfalls nicht auf den 2Tim, sondern trifft eine Aussage über „die heiligen Schriften Israels.“4

Dies gilt auch für 2Petr 1,20, wo es nicht darum geht, den eigenen Brief als „Schrift“ zu qualifizieren, sondern darum, die Auslegung der aus den vorliegenden „Schriften“ Israels entnommenen Prophetie als legitim zu erweisen.5 Außerdem „bezieht er sich intentional auf andere neutestamentliche Briefe und (zumindest) ein Evangelium.“6

Alle drei Stellen beziehen sich also deutlich nicht auf sich selbst, sondern auf ihnen vorgegebene Texte und scheiden deshalb aus der Betrachtung dieser Untersuchung aus.

Da die Leitfrage dieser Arbeit so konsequent wie möglich durchgehalten werden soll, müssen verwandte Themen ebenfalls ausgeklammert werden. Es geht also weiterhin auch nicht darum, wie die neutestamentlichen Autoren mit den Texten umgehen, die ihnen vorliegen und von ihnen als „Heilige Schrift“ anerkannt werden. Der „Schriftgebrauch“ der einzelnen Autoren ist hiermit nicht das Thema dieser Untersuchung.7

Letztlich soll sich die Arbeit auch nicht damit beschäftigen, wie einzelne Texte oder Autoren der Bibel zu Autoritäten in verschiedenen geschichtlichen Zusammenhängen wurden.8 Dieses Thema wäre eher wirkungsgeschichtlich orientiert.

So bleiben lediglich drei Texte,9 die einen Einstieg in die Frage ermöglichen, welche Autorität die neutestamentlichen Erzählwerke für sich selbst beanspruchen: Lk 1,1–4; Joh 20,30–31 (21,24–25); Apk 1,1–3 (22,18–20).10

Diese Texte sollen besprochen werden, weil sie jeweils angeben, warum sie geschrieben wurden. Sie geben damit den eigenen Anspruch explizit zu erkennen und verweisen damit auf die Autorität, die der Text erheben will. Es scheint kein Zufall zu sein, dass die drei Texte in der selben Zeit, wahrscheinlich gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. entstanden sind,11 in einer Zeit also, die auf dem Weg zur Ausbildung eines Kanons zu sein scheint.12

II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion

Ökumenischer Konsens besteht darin, dass biblische Texte in gegenwärtigen kirchlichen Diskussionen eine Rolle spielen und auch in Publikationen von kirchenleitenden Gremien1 zum Tragen kommen sollen. Ihnen wird zugebilligt, Orientierung in den diskutierten Fragen zu bieten. Fraglich ist nur, wie dies konkret geschieht, wie also mit ihnen umgegangen wird. Dann zeigt sich trotz aller Konsenspapiere: „Die noch bestehenden Grenzen der Verständigung werden in den Dialogen vor allem dann spürbar, wenn kontroverse Einzelfragen unter Bezugnahme auf das biblische Zeugnis versuchsweise einander angenähert werden.“2 Solche Einzelfragen sind also der Praxistext jeglicher Konsensgespräche. Die Diskussion um drei Einzelfragen wird nun skizziert.

1. Die Autorität der Schrift in aktuellen Diskussionen
1.1. Die Frage der Frauenordination

Eine breite Phalanx von Kirchen lehnt die Ordination von Frauen zum geistlichen Amt ab. Darunter sind die römisch-katholische Kirche, die orthodoxen und die altorientalischen Kirchen. Doch auch eine Reihe von Kirchen, die zum Lutherischen Weltbund oder zur Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen zählen, gehören dazu, z.B. die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, und andere wenige Freikirchen.

Zwei typische Argumentationstypen, die im westlichen Christentum beheimatet sind, sollen hier aus der Breite der Diskussion herausgegriffen und vorgestellt werden.

Spätestens seit dem 2. Vatikanischen Konzil hat sich die römisch-katholische Kirche den exegetischen Wissenschaften und Einsichten geöffnet.1 Dies scheint allerdings nicht in alle Bereiche der Kirche hineingewirkt zu haben.

Papst Johannes Paul II. legt 1994 die dazu bis heute gültige Lehre der römisch-katholischen Kirche in seinem Apostolischen Schreiben „Ordinatio Sacerdotalis“ dar und beruft sich dabei auf Christus selbst: „Christus erwählte die, die er wollte (vgl. Mk 3,13–14; Joh 6,70), und er tat das zusammen mit dem Vater ,durch den Heiligen Geist‘ (Apg 1,2), nachdem er die Nacht im Gebet verbracht hatte (vgl. Lk 6,12).“2 Die angeführten Bibelstellen dienen dem Papst als Belege, die lediglich das bestätigen, was zuvor bereits der Text sagt. Ohne Einordnung in ihren Kontext sollen sie lediglich zuverlässige historische Informationen liefern, auf denen dann die Praxis der Kirche beruht. Theologische Konzeptionen der einzelnen Texte werden dabei außer Acht gelassen. Die Vollmacht der Kirche, Frauen zu weihen oder nicht zu weihen, wird also auf Grundlage von durch die Bibel berichteten und unhinterfragten Tatsachen begründet, und damit der Anspruch formuliert, dass die Kirche „als feststehende Norm die Vorgehensweise ihres Herrn bei der Erwählung der zwölf Männer“3 lediglich nachahmt und deshalb daran festhalten muss.

 

Als weiteres Argument wird die von der Bibel berichtete Praxis der Apostel genannt. Ihr Vorbild, nur Männer in die eigene Nachfolge zu berufen, werde ebenfalls nachgeahmt. Gleichzeitig wird die Argumentation auf der anderen Seite dadurch gestützt, dass Maria, obwohl als Gottes- und Kirchenmutter ausgezeichnet, eben keine Amtsvollmacht als Frau bekam.

Die römisch-katholische Ablehnung der Frauenordination führt also letztlich drei Argumente ins Feld: „das in der Heiligen Schrift bezeugte Vorbild Christi, der nur Männer zu Aposteln wählte, die konstante Praxis der Kirche, die in der ausschließlichen Wahl von Männern Christus nachahmte, und ihr lebendiges Lehramt, das beharrlich daran festhält, daß der Ausschluß von Frauen vom Priesteramt in Übereinstimmung steht mit Gottes Plan für seine Kirche.“4 Praxis und Tradition der Kirche sind zwei Argumente, die letztlich auf biblischer Überlieferung ruhen, die erstens in eklektischer Auswahl (Röm 16,7 findet keine Erwähnung) und zweitens als Tatsachenbericht herangezogen wird. Dahinter soll die Autorität Christi selbst stehen, dessen durch die biblischen Texte sicher festzustellendes Tun als Gesetz der Kirche aufgefasst wird, wie es zuverlässig wiederum in den Texten selbst überliefert ist. Die biblische Überlieferung wird als sicherer Beweis der Praxis Jesu aufgefasst und auf diesem vermeintlich sicheren Tun Jesu die ganze Lehre der Kirche in diesem Punkt begründet. Das Argument wird in seiner Konsequenz dann recht schlicht: Weil der Priester in Stellvertretung Christi handelt und Christus ein Mann war und nur Männer in seine „Amts-Nachfolge“ berufen hat, können keine Frauen Priester sein.

Damit die Diskussionen in der römisch-katholischen Kirche – aus Sicht des Papstes – endlich verstummen, legt er mit diesem Schreiben definitiv fest: „Damit also jeder Zweifel bezüglich der bedeutenden Angelegenheit, die die göttliche Verfassung der Kirche selbst betrifft, beseitigt wird, erkläre ich kraft meines Amtes, die Brüder zu stärken (vgl. Lk 22,32), daß die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und daß sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben.“5

Historische „Tatsachen“, belegt durch biblische Zitate, werden also als Argumente in der Diskussion verwandt. Eine Einordnung in ihren sinngebenden Kontext unterbleibt.

Von anderen Voraussetzungen – deshalb zum Teil – einfacher argumentieren die Gegner der Frauenordination, die zum reinen Gehorsam gegenüber der Schrift aufrufen.6 Typisch für diesen Argumentationstyp ist die Diskussion der Problematik durch Helge Stadelmann, den ehemaligen Rektor der Freien Theologischen Hochschule Gießen.

Er erklärt die Frauenordination zu einem „Testfall für Bibeltreue“.7 In einem Vortrag zum Thema fragt er: „Wo findet sich ein biblischer Hinweis dafür, daß Gott für seine neutestamentliche Gemeinde angeordnet hat, Frauen in den Lehr- und Leitungsdienst der Gemeinde zu berufen?“8 Mit zwei Zitaten wird die erwartbare Antwort dann vorbereitet. Unter Verweis auf das wörtliche Verständnis von 1.Kor 14 und 1.Tim 2,11–15 wird das Nein zur Frauenordination auf ein göttliches Verbot begründet: „Nicht etwa die besseren Fähigkeiten des Mannes sind der Grund; auch nicht eine vermeintlich größere Anfälligkeit der Frau für Verführung. Sondern der souveräne Wille Gottes, wie er sich in der schöpfungsmäßigen Zuordnung von Mann und Frau äußert; und Gottes freier Willensentschluß, den er hier nun als neutestamentliche Konsequenz aus der Tatsache des Hörens der ersten Frau auf den Versucher kundtut, das sind die Gründe für dieses göttliche Nein.“9 Stadelmann warnt davor, die Frauenordination zuzulassen, da letztlich – schon bei Paulus selbst – drei Gründe ganz entschieden dagegen stehen: „Der erste Grund ist die übereinstimmende Praxis der Gemeinden […] Der zweite Grund ist, daß diese Verfügung dem entspricht, was schon in der alttestamentlichen Torah steht. […] Der dritte Grund ist – so Paulus – ganz einfach, daß es des Herrn Gebot ist, was ich euch schreibe. Wer aber das nicht anerkennt, wird von Gott nicht anerkannt‘ (Vv. 37b-38).“10

Alle drei Gründe beruhen darauf, biblische Zitate, hier eine Kombination von 1.Kor 14,33–38 mit 1.Kor 11,8–9 und der als „Schöpfungsordnung“ verstandenen Zuordnung von Mann und Frau aus Gen 2,20–24, wörtlich zu verstehen und darauf zu verzichten, sie in ihren soziokulturellen und theologischen Kontext einzubetten. Vor allem der dritte Grund, die Missachtung des göttlichen Gebotes, führt zu einer kaum verhohlenen Drohung: „Wenn heute nicht nur Landeskirchen, sondern auch Freikirchen sich für die Berufung von Frauen als Pastorinnen entscheiden, entscheiden sie sich damit gegen Gottes Wort. Sie setzen damit zugleich Gottes Segen aufs Spiel. Denn wer dieses Wort Gottes zum öffentlichen Lehren der Frau nicht anerkennt, wird von Gott nicht anerkannt. (1.Kor 14,38) Ohne diese Anerkennung Gottes kann eine Gemeinde aber nicht leben!“11 Seine eigene, eingangs gestellte Frage beantwortet er also dezidiert positiv: „Angesichts der biblischen Evidenz spricht manches dafür, das Ja oder Nein zur Frauenordination heute zu Recht als einen Testfall für wirkliche und nicht nur vorgegebene Treue zur Schrift zu sehen.“12

Ähnlich argumentiert Janis Vanags, Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands (LELB), die auf ihrer Synode am 3. und 4. Juni 2016 mit einer Drei-Viertel-Mehrheit beschloss, die Frauenordination wieder abzuschaffen.13 Was für den Lutherischen Weltbund zu einer echten Herausforderung hinsichtlich der Mitgliedschaft dieser Kirche werden dürfte, ist für den vorliegenden Zusammenhang deshalb interessant, weil Vanags zur Begründung dieser Entscheidung auf 1.Kor 14,34–35 verweist, ohne tiefer gehende exegetische Einsichten zu berücksichtigen. Zudem wird ähnlich wie im römisch-katholischen Kontext auf die Berufung der Zwölf Apostel, also ausschließlich Männer, verwiesen, die keine Frauen als Nachfolgerinnen haben dürften.14

Achtet man bei dieser Entscheidung auf die kulturellen Faktoren Lettlands, wonach Liberalität gefährlich für die lutherische Identität sein soll, zeigt sich wieder, dass biblische Texte immer eklektisch als Argument eingesetzt und gerade dort gerne unkommentiert herangezogen werden, wo sie die eigene Absicht untermauern.

Beide Beispiele aus ganz unterschiedlichen theologischen Kontexten zeigen, wie Zitate aus der Bibel in aktuelle Diskussionen umgesetzt werden, ohne dabei die Kontextualität der biblischen Texte zu beachten.

In der Frage der Frauenordination zeigt sich weiter, dass neue Allianzen geschmiedet werden, die sich nicht an den klassischen Konfessionsgrenzen orientieren, sondern ethische Fragen in den Vordergrund rücken. Es gibt im Einzelfall dann keinen Dissens zwischen „evangelisch“ und „katholisch“, sondern eher zwischen „liberal“ und „konservativ.“ Weitere Einzelfragen lassen sich aufzählen.

1.2. Die Frage der Familie

Darf Familie in christlicher Perspektive mehr sein als Vater, Mutter, Kind? Und wie kann die Bibel bei der Beantwortung dieser Frage helfen?

Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die 2013 veröffentlicht wurde, beschäftigt sich mit dieser Problematik.1 Darin nimmt die EKD ernst, dass „angesichts gravierender gesellschaftlicher Veränderungen wie sinkender Geburtenraten, dem Wandel der Altersstruktur, veränderter Geschlechterverhältnisse, steigender Scheidungs- und Trennungsraten, weltweiter Wanderungsprozesse, flexibler und mobiler Erwerbsarbeit sowie risikoreicher Arbeitsmarktstrukturen, mit denen sich Familien (je nach ihrem gesellschaftlichen Ort) derzeit auseinandersetzen müssen, […] traditionelle Orientierungen ins Wanken“2 geraten. „Angesichts des tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandels ist auch die Kirche aufgefordert, Familie neu zu denken und die neue Vielfalt von privaten Lebensformen unvoreingenommen anzuerkennen und zu unterstützen.“3 Deshalb plädiert die EKD dafür: „Alle familiären Beziehungen, in denen sich Menschen in Freiheit und verlässlich aneinander binden, füreinander Verantwortung übernehmen und fürsorglich und respektvoll miteinander umgehen, müssen auf die Unterstützung der evangelischen Kirche bauen können.“4 Dies beinhaltet also nicht nur die klassische Klein- oder Großfamilie, sondern verschiedene Formen des Zusammenlebens: „Dabei hat unser Bild von Familie in den letzten Jahren eine Erweiterung erfahren: Familie – das sind nach wie vor Eltern (ein Elternteil oder zwei) mit ihren leiblichen, Adoptiv- oder Pflegekindern, vielleicht erweitert um die Großelterngeneration. Familie, das sind aber auch die so genannten Patchwork-Familien, die durch Scheidung und Wiederverheiratung entstehen, das kinderlose Paar mit der hochaltrigen, pflegebedürftigen Mutter und das gleichgeschlechtliche Paar mit den Kindern aus einer ersten Beziehung.“5

Mit dieser Bestimmung – und vor allem der Frage nach der Homosexualität – hat die EKD ein Problemfeld eröffnet, das so viele Kritiker auf den Plan gerufen hat, dass die EKD sich verpflichtet fühlte, ein öffentliches Symposium durchzuführen.6 Gleichzeitig zeigte sie sich von den kritischen Reaktionen so beeindruckt, dass sie Arbeiten an einer Stellungnahme zur Sexualethik stoppte.7

Ein Kristallisationspunkt der Diskussion bildete die Frage, ob die EKD mit ihrer Orientierungshilfe die Institution „Ehe“ auflösen wolle. Dies wird ausdrücklich in dem Text verneint: „Die Evangelische Kirche in Deutschland würdigt die Rechtsform der Ehe als besondere Stütze und Hilfe: Sie schafft und sichert dauerhaft und folgenhaft die durch ihren Öffentlichkeitscharakter dokumentierte wechselseitige Verantwortlichkeit und Verlässlichkeit, aber auch den Schutz des Schwächeren in der Partnerschaft.“8 Allerdings entspreche andererseits „ein Verständnis der bürgerlichen Ehe als ,göttliche[r] Stiftung‘ und der vorfindlichen Geschlechter-Hierarchie als Schöpfungsordnung […] weder der Breite biblischer Tradition noch dem befreienden Handeln Jesu, wie es die Evangelien zeigen.“9 Mit dieser Bestimmung ist nicht nur die Position zur Ehe dargelegt, sondern auch der Umgang mit der Bibel als autoritativem Text. Die Autorität der Schrift wird nicht dadurch anerkannt, dass aus dem Kontext gerissene Schriftzitate als Belege angeführt werden, sondern durch das Hören auf den „Grundton“ der Bibel: „Durch das biblische Zeugnis hindurch klingt als ,Grundton‘ vor allem der Ruf nach einem verlässlichen, liebevollen und verantwortlichen Miteinander, nach einer Treue, die der Treue Gottes entspricht.“ Gut protestantisch sucht die EKD damit das, „was Christum treibet“10 auf und versucht von daher ihre Konkretionen zu folgern. In methodischer Hinsicht heißt das: „Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familiären Zusammenlebens bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und welche Orientierung sie damit geben.“11

Im vorliegenden Zusammenhang soll keine Diskussion um die Ehe an sich geführt werden,12 hier ist entscheidend, dass die EKD für sich sehr wohl in Anspruch nimmt, einen zeit- und schriftgemäßen Umgang mit der Schrift vorzulegen. Dieser Einschätzung widerspricht der Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, Michael Diener, wenn er dem Text attestiert, die Bindung „an das Schriftzeugnis in seiner eigenen Klarheit und Priorisierung“13 aufgegeben zu haben. Dagegen wendet sich mit Vehemenz die Hamburger Neutestamentlerin Christine Gerber in ihrem Beitrag zum bereits erwähnten Symposion, die betont, dass eine bestimmte Position nicht dadurch schriftgemäß sei, wenn sie beständig biblische Zitate in ihren Gedankengang einbaut, „sondern durch die Orientierung an Liebe und Gerechtigkeit.“14

Im Rahmen dieser Debatte zeigt sich, dass sich sozialethische Entscheidungen christlicher Kirchen an der Bibel orientieren sollen, die Bibel als Autorität also geachtet wird, aber gleichfalls umso dringlicher, dass kein Konsens darin besteht, wie konkret mit den biblischen Texten in den einzelnen Argumentationsgängen umzugehen ist.15

Gleichzeitig lässt sich die zuvor gemachte Beobachtung der neuen Allianzen wieder nachweisen: Evangelikale Positionen treffen sich mit denen der römisch-katholischen Kirche, während „liberale“ Katholiken sich hier gegen ihr eigenes Lehramt tolerant eingestellt zeigen. Die klassischen Konfessionsgrenzen nehmen in ihrer Bedeutung für das alltägliche Leben hingegen weiter ab.