Geschichten aus Nian

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Z serii: Nian Zyklus #5
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Brennergemeinschaft

Zeg rieb sich verwundert die Augen. Was hatte denn diese rot blinkende Lampe an seinem Nachttisch zu bedeuten? Die hatte doch vorher nicht geleuchtet? Nachdenklich ließ sich der Brenner auf seinem bequemen Bett nieder.

In der letzten Zeit hatten sich die Ereignisse geradezu überschlagen. Erst wenige Tage zuvor war Zeg überhastet in die Brennstätte C gerufen worden und hatte erleben dürfen, dass der dort arbeitende Lorn Gerland, der aus dem nördlichen Mittelland stammte, ebenfalls ein Brenner war. Er hatte ihm daraufhin nach Feierabend die Grundlagen des Brennens erklärt, die er selbst erst vor kurzem gelernt hatte. Lorn hatte nicht nur sehr schnell begriffen, worin seine Gabe bestand, sondern auch, dass er in ihm seinen Ersten vor sich hatte. Als Zeg dann nach dem üblichen Besuch bei seiner Familie am Wochenbeginn in der Brennstätte zur Arbeit erschienen war, hatte Lars, der Schichtmeister, ihm mitgeteilt, dass er zusammen mit Lorn von der Geschäftsführung für eine Woche von der Arbeit freigestellt worden sei und umgehend mit diesem nach Medriana reisen solle. Zeg hatte sich sofort gedacht, wer dahintersteckte. In der Tat war er kurz darauf zusammen mit Lorn von einem Wagen abgeholt worden und hatte seinen Kollegen während der Fahrt instruiert, wie es um die Dinge stand und wie man mit dem Ersten der Lindenreiter umzugehen pflegte. In Medriana war der Älteste dann auch tatsächlich zugestiegen, bevor sie gemeinsam zum großen Lager am Stadtrand gefahren waren. Schon seit zwei Tagen pendelten sie nun zwischen ihrem luxuriösen Hotel und dem Lager hin und her und fertigten Formteile für klassische Reiter-Kampfausrüstungen aus Metall an. So richtig wohl war ihnen beiden zuerst nicht dabei gewesen, aber Zeg war inzwischen davon überzeugt, dass diese Tätigkeit im Auftrag seiner Bündnisparter etwas zutiefst Ehrenvolles war. Und dies hatte wohl auch Lorn verstanden.

Das erneut aufblinkende Licht der roten Lampe riss Zeg aus seinen Gedanken. Er musste herausfinden, was dies zu bedeuten hatte. Also griff er nach dem Sprachmodul an seinem Nachttisch und wartete, bis sich die Rezeption meldete.

„Empfang?“, erklang eine freundliche Damenstimme aus dem Lautsprecher.

„Ja, hallo, hier Ranolok, Zimmer 73. Bei mir am Nachttisch blinkt eine rote Lampe. Was hat es damit für eine Bewandnis?“

„Ah, Herr Ranolok, guten Abend! Dieses Signal bedeutet gewöhnlich, dass eine Nachricht für Sie hinterlegt wurde. Einen Moment bitte … In der Tat, hier liegt ein Umschlag für Sie, mit dem Vermerk ‚Persönlich‘. Soll ich ihn auf Ihr Zimmer bringen lassen?“

„Das wäre sehr freundlich“, sagte Zeg in etwas überraschtem Ton.

„Selbstverständlich, ich schicke gleich den Pagen!“, ertönte es aus dem Sprachmodul. Bereits eine Mittelzeit später klopfte es an der Tür. Zeg nahm einen roten Briefumschlag in Empfang und drückte dem jungen Pagen ein paar Kupfermünzen in die Hand, der daraufhin strahlend zum Lift zurückkehrte.


Neugierig riss Zeg den Umschlag auf und begann, den darin enthaltenen Zettel zu lesen. Es war eine handschriftliche Notiz, die vom Ersten der Lindenreiter stammte: „Bitte erwarten Sie noch heute Abend Besuch. Mehrere Steinhauer aus dem Hulz werden in der Lobby auf Sie und Herrn Gerland warten. Die Männer werden von einem Rengat begleitet. Bitte empfangen und prüfen Sie sie so schnell wie möglich. Danke, S. Albo.“

Zeg runzelte die Stirn und rieb sich die Nase. Bergarbeiter aus dem Hulz? Das war doch ein Mittelgebirge, das weiter östlich im Land lag – auf jeden Fall nicht um die Ecke. Hmm … wenn der Älteste plötzlich auf die Idee kam, ihm zu so seltsamer Tageszeit so viele Unbekannte vorzustellen, dann konnte dies vermutlich nur eins bedeuten: Er glaubte wohl, weitere Brenner gefunden zu haben. Das versprach ja, ein aufregender Abend zu werden! Rasch verließ Zeg sein Zimmer und klopfte bei Nr. 72 an, um Lorn zu informieren. Dieser öffnete kurz darauf etwas müde die Zimmertür. „Was gibt’s denn?“

„Hey Lorn! Du wirst es kaum glauben, wir bekommen heute Abend Besuch von ein paar Hauern aus dem Hulz. Ich soll mir die Brüder mal ansehen.“

„Was? Jetzt? Ist das wieder so eine Sonderaufgabe vom Ältesten?“

„Ich vermute, er hat noch ein paar Brenner aufgegabelt. Irgendwie ist das komisch – so wie ich meine Lehrerin Marga verstanden habe, sollte eigentlich ich die Meinen um mich versammeln. Nun nimmt er mir den ganzen Spaß an der Sache.“

Lorn grinste. „Tu jetzt bloß nicht so, als wärst du auf einmal die geborene Führungskraft! Ich weiß, was du tief in dir drin für ein bescheidener Kerl bist. Die Kollegen zu Hause haben genug erzählt.“

Auch Zeg zeigte nun ein verschmitztes Grinsen. „Blödsinn! Von mir aus soll er seine Verbindungen zur Brennersuche nutzen. Ich hab bloß ein bisschen Bammel davor, dass hier jetzt nach und nach zig Leute von unserer Sorte eintreffen und ich dann alle einarbeiten soll.“

Lorn schüttelte den Kopf. „Glaub ich irgendwie nicht, obwohl er das bestimmt gut fände. Mit den Massen an Altmetall, die er dort aufgefahren hat, haben wir zu zweit vermutlich mehrere Wochen zu tun und mit ’nem ganzen Haufen Brenner ginge es natürlich schneller. – Sag mal, glaubst du wirklich, dass er aus dem ganzen Zeug Waffen herstellen will? Ich meine, so viele Klanmitglieder kann es doch gar nicht geben, oder?“

„Ich weiß es nicht“, seufzte Zeg. „Eventuell sollen wir später andere Sachen fabrizieren, wenn er genug Bögen und Beschläge hat. Vielleicht Fahrzeugteile oder so. Ganz im Ernst, wir sind jetzt eh nur noch zwei Tage hier, dann geht’s erstmal ab nach Hause. Und man kann nicht sagen, dass der Älteste knauserig ist. Für den Stapel Goldmünzen, den wir pro Woche hier kriegen, müssten wir sonst ’nen ganzen Mond lang plockern. Also lass uns einfach mal gucken.“

„Damit hast du natürlich recht“, stellte Lorn fest. „Gut, wie soll es jetzt weitergehen?“

„Ich nehme an, der Empfang benachrichtigt mich irgendwann. Ich komme dann und sag dir Bescheid.“

Eineinhalb Langzeiten später war es draußen längst dunkel geworden. Zeg hatte ein interessantes Gerät entdeckt, welches im Zimmer in einen Schrank eingebaut worden war. Es bestand aus einer abgerundeten, viereckigen und gewölbten Glasscheibe mit ein paar Knöpfen daneben. Als er aus Langeweile daran gedreht hatte, war die Glasscheibe auf einmal hell geworden und hatte begonnen, bewegte Bilder zu zeigen, zu denen passender Ton zu hören war. Zeg kannte zwar Kinematik-Projektionssäle aus seiner Heimatstadt und wusste, dass diese in allen größeren Städten Nians verbreitet waren, aber dieses Gerät schien ohne einen Projektor zu funktionieren. Ganz augenscheinlich musste es eine neue Erfindung sein. Viel Zeit blieb ihm aber nicht, es sich anzusehen, denn das Sprachmodul am Nachttisch signalisierte durch einen lauten Ton, dass ihn jemand zu sprechen wünschte.

„Zimmer 73, Zeg Ranolok?“, meldete er sich.

„Guten Abend, bitte entschuldigen Sie die späte Störung, Herr Ranolok. Hier unten an der Rezeption stehen sechs Herren. Ihr Sprecher ist vom Klan der Lindenreiter und behauptet, sie würden von Ihnen erwartet werden.“

„Das ist richtig so“, erwiderte Zeg. „Ich werde gleich mit meinem Kollegen herunterkommen. Bitte lassen Sie die Herren in der Empfangshalle warten.“

„Sehr wohl, Herr Ranolok! Auf Wiederhören!“

Zeg zog sich seine Jacke über und holte den anderen Brenner aus dem Nachbarzimmer. Gemeinsam betraten sie den Lift und fuhren ins Erdgeschoss.

„Na, da bin ich ja mal gespannt, was das für Vögel sind“, knurrte Lorn.

„Da ist ein Reiter dabei, keine Ahnung, wer es diesmal ist. Lass mich das wieder machen, ja?“

„Klar.“

Die Schiebetüren öffneten sich und die zwei Brenner betraten die weitläufige Empfangshalle. Wie fast immer war in diesem Hotel am Stadtrand sehr wenig los und so fiel es ihnen nicht schwer, die Ankömmlinge auf einer Sitzgruppe auszumachen. Sofort stand Raul Mernek, der Dritte Rengat der Hauptloge, auf und verneigte sich tief vor Zeg. „Erster Brenner, seien Sie im Namen des Klans der Lindenreiter gegrüßt.“

„Herzliche Grüße zurück.“ Zeg unterdrückte ein Seufzen. Ob er sich jemals an diese penetrante Förmlichkeit hochgestellter Reiter gewöhnen würde? „Sind dies die Gäste, die mir vorgestellt werden sollen?“

„Dies sind Merl Hegedorn, Hunk Parbrod, Trann Welnek und Wers Kirinak, Steinhauer vom Südhang des Hulzes, sowie Jörk vom Geblüt der Selnor aus dem Areal Pfahlheim des Gebirgslandes, ebenfalls Steinhauer. Sie sind gekommen, um geprüft zu werden“, antwortete der Rengat. Alle fünf Männer verneigten sich vor dem Ersten Brenner.

Zeg zog die Augenbrauen hoch. Sogar jemand aus dem Gebirgsland war dabei! Der Älteste musste ja seine Fühler weit ausgestreckt haben, um all diese Menschen ausfindig zu machen. Wie auch immer, nun war es an ihm, sich an sie zu wenden. „Gut, liebe Kollegen. Ich nenne Sie so, da auch ich gelernter Steinhauer bin. Gleich zu Beginn etwas zum Thema Verneigen: Dies ist nur nötig, wenn im Rahmen eines offiziellen Empfanges wie diesem hochgestellte Reiter anwesend sind und es ihren Gepflogenheiten zupasskommt.“

„Wir haben auch nur aus diesem Grund mitgespielt“, brummte einer der Steinhauer. „Normalerweise verneigen wir uns vor niemandem. Selbst unser oberster Boss hat so etwas noch nie von uns verlangt.“

„Gut, ich sehe, wir verstehen uns“, meinte Zeg. „Sie wissen, was Sie erwartet?“

 

„Nun“, sagte Jörk mit hörbarem Akzent des Gebirgslandes, „uns allen sind in den vergangenen Riten seltsame Dinge mit Metall widerfahren. Soweit ich mitbekommen habe, erhielt irgendwann jeder von uns Besuch von einem hohen Laubreiter, der uns mitteilte, wir seien Träger einer alten Gabe und würden in Medriana gebraucht werden. Mit unseren jeweiligen Chefs schien das bereits geregelt zu sein, und da wir natürlich alle neugierig sind, was diese merkwürdige Fähigkeit zu bedeuten hat, haben wir uns bereit erklärt, hierherzukommen und uns beraten zu lassen. Sie sollen derjenige sein, der unser Erster ist und der uns alles erklären kann.“

„Wie ich sehe, sind Sie gut informiert worden“, sagte Zeg. „Allerdings möchte ich gern von Ihnen allen ‚Zeg‘ genannt werden und nicht ‚Erster‘ oder ähnlich. – Rengat Mernek, ist für die Unterbringung dieser Männer gesorgt worden?“

„Sie haben zunächst jeder ein Zimmer für eine Nacht in diesem Hotel. Über den weiteren Verbleib vor Ort entscheiden Sie. In jedem Fall übernimmt mein Klan die Kosten für Unterkunft und Verpflegung“, erwiderte Raul.

„Gut, das ist sehr liebenswürdig, ich danke Ihnen! Dürfte ich Sie dann an dieser Stelle bitten, Lorn und mich mit den Männern allein zu lassen, damit ich mit der Prüfung beginnen kann?“

Der Rengat verneigte sich tief und verließ das Hotel durch den Eingang. Die fünf Neuankömmlinge sahen sich ein wenig unsicher an. Was würde sie nun erwarten?

Über den Pass

„Junge, Junge, das geht auf die Beine“, schnaufte Herk, bevor er sich zu den beiden anderen Federern auf einen Felsvorsprung setzte. Schon seit dem frühen Morgen waren sie auf dem Weg zu der niedrigen Stelle im Trenngebirge, über welche in früheren Zeiten womöglich regelmäßig Menschen von der Mederebene auf die Westliche Ebene und zurück gelangt waren. Falls irgendwann einmal in den Berg gehauene Stufen vorhanden gewesen sein mochten, so waren sie nun kaum noch als solche zu erkennen; der steile Pfad von Gehlstadt aus aufwärts zum Kerstlinger Pass bestand größtenteils nur noch aus Geröll und zerklüfteten Felsen. Der Bewuchs dort am Osthang war ebenfalls kärglich, weshalb auch einem Federer nichts anderes übrig blieb, als zu klettern.

Am Abend des Vortages hatten sie die Route ausgemacht, die sie zu dem verrufenen Bergübergang führen sollte. Schnell war klar geworden, dass ein Aufbruch noch am selben Tag sinnlos gewesen wäre. Herk hatte außerdem entschieden, für die Nacht eine Herberge zu suchen, da ein Aufenthalt im Freien den nötigen Kraftreserven für eine morgendliche Besteigung nicht zugutegekommen wäre. Selbst Malu als erfahrene Freilandübernachterin hatte dem zustimmen müssen. So hatten sich die drei ein kleines Apartment am Westrand der Stadt gemietet und waren am nächsten Tag direkt nach dem Frühstück aufgebrochen.


„Bald ist schon Mittag“, sagte Lutz, der ebenfalls ein ziemlich verschwitztes Gesicht hatte. „Ich muss schon sagen, ich hätte nicht gedacht, dass wir uns schon so verausgaben würden, bevor wir die Ebene auch nur betreten haben. Hoffentlich ist der Abstieg wenigstens etwas angenehmer.“

Malu sagte nichts. Sie war anstrengende Märsche mit Gepäck gewohnt; das war es nicht, was ihr zu schaffen machte. Je mehr sich die kleine Gruppe jedoch dem Grat näherte, der den Pass darstellte, desto öfter musste sie von neuem an das alte Gedicht denken. Und so war es auch nicht verwunderlich, dass sie als Erste das merkwürdige Geräusch vernahm, nachdem die Federer ihren Aufstieg nach kurzer Rast wieder aufgenommen hatten.

„Scht … Hört ihr das?“, fragte sie und hob die Hand.

„Was meinst du, das Pfeifen des Windes in meinen Ohren oder mein Keuchen?“, fragte Herk.

Malu verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Nein, so hör doch! Da ist es wieder!“

Lutz und Herk sahen sich achselzuckend an. Es sollte noch eine Weile und viele anstrengende Schritte aufwärts dauern, bis auch Lutz ein auf- und abschwellendes Heulen vernahm. Es klang, als ob ein trauriger Riese seinem Kummer Luft machte: „Huuu … uuuuoooaaahhhh … aaaaooouuuhhh … uuuhhhuuuu …“

„Jetzt hört ihr es aber, oder?“, wisperte Malu angstvoll. Längst waren ihre Augen geweitet und der Schweiß klebte ihr kalt auf der Haut.

„Ja, jetzt höre ich etwas“, sagte Lutz so ruhig wie möglich. Denn wenn er ehrlich war, dann war dies ein Klang, der auch einem gestandenen Mann das Blut in den Adern erstarren lassen konnte.

„Es ist der Grusling“, ächzte Malu. „Er hat uns gewittert! Wenn wir weitergehen, wird er uns ansaugen und …“

„So ein ausgemachter Blödsinn!“, entfuhr es Herk. „Pass mal auf, Malu! Wenn das ein Grusling ist, dann werde ich jetzt vorgehen und ihm mit diesem Knüppel hier eins überziehen, dass er aus einem anderem Grund heulen wird als jetzt!“ Wild schwang er den Stock, den er bisher als Wanderstab genutzt hatte, über seinem Kopf. Der Anblick des kleinen, stämmigen Mannes, der nun auch noch die Augen aufriss und wüst die Zähne fletschte, war so grotesk, dass Malu nicht anders konnte als laut loszulachen.

Auch Lutz konnte nicht an sich halten. „Wuahahaa! Herk der Geisterjäger! Das nenne ich mal eine gelungene Aktion! Na, dann werde ich mich auch mal bewaffnen und dem Burschen notfalls mal ein paar Klunker in seinen geifernden Rachen schmeißen!“ Mit gespielt wutverzerrtem Gesicht hob er ein paar große Steine auf und sagte zu Malu: „Los, schnapp dir auch ein paar! Und dann wollen wir doch mal sehen, ob wir ihm nicht das Maul stopfen können!“

Das Lachen wirkte befreiend auf Malu. Es war aber auch zu komisch, wie die beiden friedfertigsten Erwachsenen, die sie kannte, sich angesichts dieses unheimlichen Jaulens in zwei kampflustige Urmenschen zu verwandeln schienen! Sie hob ebenfalls zwei Steine auf und folgte den beiden Männern weiter den Pass hinauf. Lauter und lauter wurde das Heulen, bis es ihnen dermaßen in den Ohren dröhnte, dass sie kaum ihr eigenes Wort verstehen konnten.

Auf einmal blieb Lutz, der zwei Schritte vorausgegangen war, stehen. Mit markerschütterndem Kriegsgebrüll schleuderte er einen der mitgebrachten Wackersteine von sich und nahm gleich den nächsten in die Hand. „Komm hierher, Herk, gib ihm eins auf die Rübe! Uuuuaaaaahh!“ Schon flog der nächste Stein. Malu erstarrte, teils vor Entsetzen, teils vor Bewunderung. Wie konnte es ein einzelner nur mit Steinen bewaffneter Mensch mit einem Monster aufnehmen, welches solch grässliches, überlautes Heulen von sich zu geben vermochte? Nun rannte auch noch Herk hinter Lutz her und begann, wie ein Berserker mit dem Stock um sich zu schlagen! Wie gelähmt starrte Malu die unwirkliche Szene an. Lange jedoch blieb sie dort nicht stehen. Was fiel ihr nur ein, hier vor Angst erstarrt ihren Freunden zuzusehen, wie sie einen übermächtigen Gegner allein bekämpften? Monster oder nicht, jetzt war der Grusling dran! Ein gellendes Kreischen entfuhr ihrer Kehle, als sie ebenfalls aufwärts stürzte und den Arm mit einem Stein hob, um diesen dem Geist in den Rachen zu werfen.

Als sie die beiden Männer erreichte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Herk hatte aufgehört, mit dem Stock auf den Boden einzudreschen und Lutz hatte gerade seinen letzten Stein in ein riesiges gähnendes Loch in der schrägen Felswand an der Seite des Grats geworfen. Polternd rollte dieser den dahinter befindlichen Steilhang hinab. Das jammernde Heulen ertönte noch immer, jedoch als Malu nun sah, woher es stammte, fühlte sie auf einmal keine Angst mehr. Stattdessen kroch dunkelrote Wut ihre Wirbelsäule empor. Als diese ihren Kopf erreichte, brüllte es aus ihr heraus: „Du blödes, unendlich mistiges Drecksloch! Deinetwegen habe ich mich also Zyklen lang vor diesem Ort gefürchtet! Na warte! Nimm das!! Und das!!“ Außer sich vor Zorn schleuderte sie ihre beiden Wackersteine durch das gewaltige Loch hindurch. Sie kollerten ebenso wie Lutz’ Wurfgeschosse knirschend den Hang dahinter herab.

Eine Weile lang war nichts zu hören außer dem lauten Jammern des Windes, der sich in dem Loch fing. Jedes Mal, wenn eine Bö die Felswand erreichte, wurde das Heulen lauter und höher und die drei Federer mussten ihr Gewicht verlagern, denn die wechselnde Luftströmung war wirklich sehr kräftig.

„Kein Wunder, dass hier eine solch gruselige Legende entstanden ist“, sagte Lutz schließlich mit seiner tiefen Stimme. „Wir haben ja heute noch recht gutes Wetter erwischt. Bei schlechter Witterung oder gar Sturm wird das Heulen vermutlich in ein nahezu unerträgliches Pfeifen übergehen und die Windströmung dürfte dann mühelos so stark werden, dass sie einen Menschen von den Beinen reißen und durch das Loch schleudern kann. Daher kommt dann wohl auch das ‚saugende Maul‘ in diesem Gedicht.“

Malu hatte sich wieder ein wenig gefangen, starrte aber immer noch voller Ärger auf das Felsloch. „Fragt sich nur noch, wer die ‚gierigen Helfer‘ sein sollen.“

„Vielleicht habe ich darauf eine Antwort“, rief Herk, der ein paar Schritte weitergegangen war. „Schaut mal.“

Als Lutz und Malu ihn erreichten, stockte ihnen der Atem. Nur zur Rechten und zur Linken von ihnen erhoben sich die Flanken der Berge weiter in den Himmel. Nach Westen jedoch bot sich den Federern ein prachtvoller Ausblick über die im Sonnenlicht leuchtende Westliche Ebene. Ganz eindeutig war hier die Kletterei vorbei, dies war der Kamm des Trenngebirges. Sie hatten den Kerstlinger Pass bestiegen!

„Und wo sind nun die Helfer?“, fragte Malu, nachdem sie sich eine Mittelzeit später vom atemberaubenden Anblick des weiten Landes hatte lösen können.

Herk zeigte mit dem Finger nach vorn. „Schau, wie sanft der Hang an dieser Seite des Gebirges abfällt. Der Wind muss hier in vielen Dekazyklen Erde, Kies und anderes Material angeweht oder von den Bergen abgetragen haben. Ich vermute, dass früher dunkle Gesellen von Westen her auf den Pass gestiegen sind und Wanderern oder Händlern aufgelauert haben, die den beschwerlichen Aufstieg mit ihrer Ware von Osten her auf sich nehmen mussten. Geschwächt wie sie waren, wurden diese dann leichte Beute der Räuber. Der eine oder andere konnte vermutlich fliehen. Und so ist dann das Gedicht entstanden.“

„Klingt logisch“, meinte Malu. „Heute aber lohnt es sich nicht mehr, hier jemandem aufzulauern, da sowieso niemand mehr etwas mit der Westlichen Ebene zu tun haben will und dieser Pass von keinem Menschen mehr benutzt wird.“

„Genau“, sagte Lutz. „Zumindest von keinem außer von drei Federern. Und genau jetzt wird es sich auszahlen, dass wir ebensolche sind!“

„Warum das?“, fragte Malu überrascht.

„Sieh doch, wie viele Pflanzen auf dieser Seite den Hang bewachsen! Fast überall steht Gras. Ich glaube, unser Abstieg wird nur einen Bruchteil der Zeit des Aufstiegs in Anspruch nehmen.“

Tatsächlich, er hatte recht. Malu strahlte erst ihn, dann Herk an. „Dann können wir ja vielleicht noch heute mit der Suche beginnen!“

„Zunächst mal sollten wir ganz allgemein Kontakt mit Menschen aufnehmen und schauen, ob sie wirklich so seltsam sind, wie die Gerüchte auf unserer Seite des Gebirges behaupten“, sagte Herk. „Dann müssen wir spontan entscheiden, was sich daraus für Folgen ergeben. Und wir sollten sehr vorsichtig sein. Vermutlich haben die meisten hier noch niemals einen Federer gesehen oder überhaupt etwas vom Federn gehört. Dass Menschen über den Pass kommen, kennt bestimmt auch kaum noch jemand. Wir könnten ihnen auf zweifache Weise fremdartig vorkommen und sie könnten sich überrumpelt fühlen.“

„Das stimmt“, sagte Lutz. „Lass uns die Reise über das Gras weit genug vor dem ersten Ort in der Senke beenden und dann zu Fuß weitergehen.“

Neues Unbehagen regte sich in Malu. Weiter als bis zum Pass hatte sie bisher gedanklich nicht geplant. Hoffentlich waren die Menschen hier nicht wirklich so unzivilisiert, wie manchmal erzählt wurde. Nun, noch vor dem Abend würden sie es wissen. Gemeinsam mit den beiden Männern flüsterte sie den ersten Grasbüschen ihren Wunsch zu und diese antworteten mit einem freudig-erstaunten Wispern. Federer in ihren Landen, die auf ihnen reisen wollten! Das hatten sie in ihrem Leben noch niemals erlebt. Fröhlich nahmen die Halme sie auf und schon federten drei Menschen mit ihren Tragsäcken wie auf Flügeln nianianischer Adler zu Tal.

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