Geschichten aus Nian

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Z serii: Nian Zyklus #5
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Vorbereitungen

„Was er bloß mit diesem ganzen Zeug will?“, fragte Tern seinen Mitreiter. „Erst mietet die Loge fast ein halbes Flächenlangmaß Lagerräumlichkeiten hier am Nordrand Medrianas, dann werden wir hierher abgestellt und seitdem reißt der Strom an Lastwagen nicht ab, die hier anfahren. Und was haben sie geladen? Nichts als Schrott!“

Fonn nickte. Gerade einmal eine Woche war es her, als der Dritte Rengat der Hauptloge der Lindenreiter plötzlich auf der Logenwiese aufgetaucht war, scheinbar wahllos die beiden Lekure ausgesucht und sie dann hierher transportiert hatte. Wenn etwas Derartiges unerwartet geschah, wurde es als „Sonderdienst für die Loge“ bezeichnet, was meistens bedeutete, dass man für die Zeit der Aktion nicht nach Hause kam und seine Familie die ganze Zeit über nicht sah. Nicht selten wurde einem auch ein Schriftstück vorgelegt, dass man über den Inhalt und Fortgang des Dienstes Stillschweigen zu bewahren hatte. Und tatsächlich hatten die beiden nach der Unterzeichnung eines ebensolchen Dokuments zwei Zimmer in einem Hotel am Stadtrand gestellt bekommen, dem es zwar an Luxus nicht mangelte, dafür aber an Fröhlichkeit und Leben.

„Und du hast wirklich keinen Schimmer, was das Ganze hier soll?“ Mit dieser Frage schloss Tern seine Überlegungen ab.

„Bruder, du weißt doch, dass ich genauso blind für den Fortgang der Dinge bin wie du“, entgegnete Fonn. „Und selbst wenn ich etwas wüsste, dürfte ich es dir nicht erzählen. Ich muss sagen, mir erscheint das Ganze genauso rätselhaft. Normalerweise lagert der Klan edle Stoffe ein, vielleicht auch Baumaterial oder Farbe oder auch schon mal Frischblätter, aber solchen Krempel?“

„Baumaterial, hmm … könnte es das sein? Ich meine, gut fünfzig Flächenlangmaße Metall, daraus könnte man schon etwas errichten.“

„Aus dem verbeulten Zeug? Die verrosteten Moniergitter könnte man vielleicht benutzen, aber die Autobleche, Träger und Türrahmen? Nein, lieber Tern, das Ganze ergibt in etwa so viel Sinn, wie wenn ein Riese zu reiten versuchte. Und wie ich den Rengat kenne, brauchen wir ihn gar nicht erst danach zu fragen.“

„Und im Lekurenkreis ansprechen?“

Fonn zeigte seinem Mitreiter einen Specht. „Bruder, bei uns gab es seit vielen Zyklen keine Degradierungen. Willst du es jetzt darauf anlegen? Wenn der Älteste überhaupt mal dort erscheint, dann lässt er dich aus dem Raum entfernen, sobald du auch nur angefangen hast, davon zu sprechen! Und hinterher darfst du dich dann bei den Rötlurmreitern als Ragnor bewerben – wenn er gute Laune gehabt hat!“

Tern nickte mit verkniffenem Mund. Ja, damit hatte Fonn recht. Irgendwie hatte er sich vor vier Zyklen etwas anderes vorgestellt, als er nach Medriana gezogen und in die Hauptloge eingetreten war. Auch später noch, als ihn nach dem Tag des Riesenangriffs der damalige Erste zum Lekur ernannt hatte, da hatte er genau gewusst, weshalb er gern ein Lindenreiter geworden war. Nun jedoch hatten sich die Zeiten geändert. Vorbei waren die Tage, an denen man fröhlich miteinander lachte und am Ende eines festlichen Ritttages gemeinsam in die Altstadt Medrianas ging, um den Tag zünftig ausklingen zu lassen. „Freude fußt auf Ehre, Ehre fußt auf Freude“, das war dermaleinst der Wahlspruch der Lindenreiter zu Medriana gewesen. Doch zurzeit schien Freude nichts mehr zu zählen, Ehre schien auf Gehorsam zu fußen und Gehorsam auf … Weiter kam der Lekur jedoch mit seinen Überlegungen nicht, denn plötzlich öffnete sich quietschend die Tür im mittleren Metalltor des Lagerhauses und herein trat der Dritte Rengat der Hauptloge. Er kam ohne Umschweife auf den Punkt:

„Fonn, Tern, euer Dienst hier ist beendet. Ich danke euch im Namen des Klans für eure Einsatzbereitschaft an diesem Ort. Eure Loyalität wird im Klan nicht vergessen werden. Bitte verschließt das Lager und verlasst eure Hotelzimmer innerhalb der nächsten zwei Langzeiten. Die nächsten zwei Tage habt ihr dann zu eurer freien Verfügung.“

Das klang ja fast so, als wäre jemand endlich vernünftig geworden! Fonn verneigte sich lächelnd vor dem Rengat und bedankte sich. Tern tat es ihm zwar nach, aber konnte sich eine Frage dennoch nicht verkneifen: „Rengat, sollen wir wirklich einfach so gehen und die ganzen Dinge hier so ungeordnet ihrem Schicksal überlassen? Ich meine, was immer hier nun folgen wird, dieses Lager erscheint mir nicht gerade als unserem Klan angemessen sortiert und gepflegt.“

Der Rengat verzog keine Miene. „Bereits in Kürze werden sich andere Kräfte, die dem Klan dienen, darum kümmern, hier Ordnung zu schaffen. Das soll dich aber nicht kümmern, Lekur. Geht nun eurer Wege.“

Dieses Mal folgte auch Tern unverzüglich der Aufforderung seines Rengats. Dessen letzte Worte bedeuteten in der üblich höflichen Weise verbrämt nämlich nichts anderes als „verschwindet jetzt“. Die beiden Lekure traten durch die Tür ins Freie und ergriffen ihre Blätter, die sie am Morgen neben dem Lager an einem schattigen Platz abgelegt hatten. Kurze Zeit später ritten sie in Richtung ihres Hotels davon.

Der Rengat sah ihnen nach, bis sie am Horizont verschwunden waren. Danach öffnete er mit einem Schlüssel das kleine Büro des Lagerhauses und schaltete den dortigen Teleskriptor ein, um anschließend eine einzige Zeile auf der Tastatur einzugeben: „Der Rost ist frei zum Befeuern.“ Diese Nachricht schickte er anschließend an eine Nummer, die er sich, wie jeder Rengat der Hauptloge, sehr gut hatte merken müssen und nirgendwo aufschreiben durfte. Daraufhin schaltete er den Teleskriptor wieder aus, verschloss das Büro von neuem und begann, langsam vor dem großen Gebäude auf und ab zu schlendern, während er an seiner mitgebrachten Krautpfeife zog.

Als er gerade das vierte Mal seinen Weg beginnen wollte, näherte sich auf der Zufahrtsstraße ein unscheinbarer beigefarbener Wagen, der vor dem Gebäude bremste. Rasch öffnete der Rengat das große Mitteltor in Gänze, so dass der Wagen hineinfahren konnte. Anschließend schloss er es wieder von innen. Aus dem Wagen stieg ein Chauffeur des Klans, der zur Beifahrertür eilte und diese öffnete. Heraus stieg niemand Geringeres als der Älteste persönlich. Der Rengat lächelte. Damit hatte er gerechnet. Er verneigte sich tief und lange vor ihm.

„Erhebe dich, Raul“, ertönte die Stimme seines Ersten. „Und sieh, wen ich uns mitgebracht habe.“ Er winkte dem Chauffeur, der daraufhin auch die beiden hinteren Türen des Wagens öffnete. Zwei Männer traten heraus, die der Rengat noch niemals gesehen hatte. Sie trugen einfache Arbeiterkleidung und sahen sich verwundert um. „Raul, du wirst dich jetzt vor dem Größeren der beiden Herren verneigen“, fuhr der Älteste fort. Ein nur für geübte Augen wahrnehmbarer Zug der Missbilligung umspielte seine Lippen. „Auch wenn er dir nicht so erscheinen mag, er ist der Erste seines Klans. Erweise ihm deinen Respekt!“

Überrascht nahm der Rengat mechanisch seine Hand vor die Brust und verneigte sich tief vor dem Genannten. Dieser beantwortete die Ehrerbietung mit einem leichten Nicken, bevor der Älteste erneut zu sprechen anhob: „Diese beiden werden uns helfen, unser kleines Problem im Westen rasch und effizient in den Griff zu bekommen. Du wirst gleich Zeuge ihres Könnens werden, wenn wir die ersten Probedurchgänge vornehmen.“


„Ältester“, erwiderte der Rengat, „diese beiden Herren sind augenscheinlich keine Reiter und scheinen auch sonst keinem der mir bekannten Klans anzugehören, geschweige denn einen von ihnen zu leiten. Ohne respektlos sein zu wollen: Mit wem haben wir es denn hier zu tun?“

„Dies“, begann der Erste theatralisch, „sind die ersten beiden Vertreter des fortan wichtigsten mit uns verbündeten Klans. Zur Rechten siehst du Zeg Ranolok, den Ersten des Klans der Brenner, und zu seiner Linken steht Lorn Gerland, der ebenfalls diese Gabe besitzt.“

Raul fiel die Kinnlade herunter, sein Blick wanderte rastlos von einem Mann zum anderen. „Brenner?“, brachte er schließlich unter höchstem Erstaunen hervor. „Ältester, Sie haben es tatsächlich geschafft, Mitglieder dieses längst erloschenen Klans ausfindig zu machen?“

„Er ist nun nicht mehr erloschen“, sagte der Erste langsam. „Im Gegenteil. Und wir haben vor einigen Tagen ein Bündnis geschmiedet, welches uns dazu befähigen wird, jedwede Bedrohung unseres Klanwesens nicht nur unschädlich zu machen, sondern weitere potenzielle Seilschaften von Aufrührern in einer bisher undenkbaren Weise zu demoralisieren. Niemand mehr wird es dann wagen, den Frieden im Lande zu bedrohen, den wir gewährleisten.“ Damit wandte er sich den beiden Brennern zu. „Wie unhöflich von mir, verzeihen Sie bitte. Dies ist Raul Mernek, Dritter Rengat meiner Hauptloge und einer meiner engsten Vertrauten. Er hat persönlich dafür gesorgt, dass ohne großes Aufheben eine nicht geringe Menge an Rohmaterial hier gesammelt werden konnte. Wenn ich Sie beide nun bitten dürfte, das Material zunächst grob zu prüfen?“

Zeg antwortete mit seiner warmen tiefen Stimme: „Ältester, in welcher Hinsicht soll das Material geprüft werden?“

„Oh, natürlich, wie unachtsam von mir!“ Das typische Lächeln umspielte den Mund des unnahbaren Mannes, welcher Zeg immer noch nicht ganz geheuer war. „Wir möchten daraus stabile und belastbare Bögen, Pfeilspitzen und wenn möglich auch Armbrustbeschläge herstellen. Falls dafür Zusatzstoffe erforderlich sein sollten, so müsste ich wissen, welche und in welcher Menge.“

„Armbrüste?“, entfuhr es Lorn. „Sagten Sie nicht etwas von ‚Frieden‘?“

Der missbilligende Blick des Ältesten, mit dem dieser Zeg ansah, war nun nicht mehr zu übersehen. Schnell stieß der Brenner seinen Begleiter kräftig in die Rippen und raunte ihm ins Ohr: „Ich habe dir doch gesagt, lass mich reden und richte deine Fragen an mich! Das hier ist keine Betriebsversammlung in Brennstätte C oder so, für sowas kannst du hier richtig Ärger bekommen. Begreifst du?“

 

Als Lorn nickte, setzte der Erste der Lindenreiter wieder sein üblich höfliches Lächeln auf. „Danke, Herr Ranolok, dass Sie solche Dinge so unbürokratisch auf Ihre Weise zu regeln verstehen! Bitte beginnen Sie.“

Nach einer kurzen Zeit der Konzentration öffnete Zeg wieder die Augen und sagte: „Das meiste Material ist geeignet. Einige Stücke bestehen nicht aus Eisen, sondern weicheren oder leichteren Metallen, aber die können wir rasch aussortieren. In jedem Fall benötigen wir einige Raumkurzmaße reinen weißen Sand. Auch Braunstein sollte geliefert werden. Zwei Eimer davon sollten zunächst genügen, wir brauchen ihn nur in geringen Mengen. – Habe ich etwas übersehen, Lorn?“

„Ich empfehle, vorsichtshalber ein paar Brocken Chromeisenstein mit anliefern zu lassen. Er könnte die Eigenschaften des Zielmaterials günstig beeinflussen.“

„Gut. Sehr, sehr gut!“, rief der Älteste. „Raul, bitte besorge nach unserer nun folgenden Demonstration das genannte Material und lasse es so rasch wie möglich hierher liefern. Die beiden bekommen noch heute Abend die Zimmer der Lekure.“

„Gern, Ältester“, erwiderte Raul. Er war gespannt, was nun folgen würde, denn er hatte niemals zuvor etwas Konkretes über die Fähigkeiten von Brennern gehört. Dementsprechend steigerte sich das Ausmaß seines Erstaunens ins Unermessliche, als die ersten Schrottstücke zu glühen und andere Formen anzunehmen begannen. Und auch der Chauffeur starrte durch die Seitenfensterscheiben des Wagens, als ob er gerade von einem Riesen „Alle meine Gänschen“ vorgesungen bekommen hätte.

Scharmützel

„Hier können Sie bitte anhalten“, sagte Herk zum Fahrer des Mietwagens.

„Weiter könnte ich Sie eh nicht bringen, dort vorn stehen bereits die Lotsen“, knurrte der Fahrer, der sich fragte, was wohl zwei Männer und ein Mädchen in dieser entlegenen Gegend wollen könnten. Er hatte ihnen doch von Anfang an gesagt, dass die Straße unpassierbar sei. Nun ja, wenn sie unbedingt für die Besichtigung einer Straßensperre zahlen wollten, warum denn nicht.

Herk war ausgestiegen und beugte sich durch das Fenster zu Malu herein. „Hast du dein kleines Taschenfernglas immer noch dabei?“

„Klar“, erwiderte das Mädchen. Sie begann, in ihrem Tragsack zu kramen. „Hier, bitte. Aber was gibt es denn hier zu sehen?“

„Das will ich gerade herausfinden“, sagte Herk, klappte das Fernglas auseinander und suchte in Richtung Norden den Himmel damit ab, bis er plötzlich stutzte und am kleinen Einstellrädchen drehte. Zum Wagen gewandt, fügte er hinzu: „Steigt aus und seht selbst.“

Nachdem Lutz und Malu ihrerseits einen Blick durch das optische Instrument geworfen hatten, warfen sie sich einen vielsagenden Blick zu. Dann platzte es aus der Jugendlichen heraus: „Sind die völlig durchgerädert? Das sind doch Ulmenblätter, oder nicht? Und die anderen haben Lindenblätter!“

Herk nickte langsam. „Hast du auch gesehen, was sie da machen?“

„Sie kämpfen“, stieß Lutz hervor. „Mit Pfeil und Bogen, Keulen, Wurfseilen und allem, was das Arsenal hergibt. – Und hast du auch den Rauch gesehen, der vom Boden aus aufsteigt? Dort unten müssen mehrere Gebäude brennen!“


„Natürlich.“ Herks Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Deswegen also sind alle Wege gesperrt, weil dort Unruhen ausgebrochen sind. Und den Leuten erzählt man nichts, damit sie sich keine Gedanken machen und weiter ihren Dingen nachgehen.“

„Leute!“ Malu schrie fast. „Das ist eine Bruderfehde! Wollt ihr tatenlos zusehen, wie sie sich von den Blättern reißen und sich gegenseitig ihr Land in Brand setzen?“

„Malu, bitte!“ Lutz’ tiefe Stimme beendete den Ausbruch des Mädchens. „Sollen wir vielleicht dorthin federn und uns ins Getümmel stürzen? Oder laut schreiend an alle appellieren, sie mögen doch bitte wieder freundlich zueinander sein? Da sind fünfzig, sechzig Reiter in der Luft und man weiß nicht, wie viele Kämpfer am Boden aktiv sind. Es hat seinen Grund, dass alles gesperrt ist.“

„Warum machen diese … diese ‚Ordnungskräfte‘ nicht ausnahmsweise mal was Vernünftiges?“ Die Federin war nicht zu beruhigen. „Stellen sich doof auf die Straße und stoppen Reisende! Dorthin sollten sie gehen und den Irrsinn beenden!“ Tränen schossen ihr in die Augen.

Herk nahm sie in den Arm. „Du hast recht. Du hast vollkommen recht. Aber du weißt auch genauso gut, dass Reiterklans das Vorrecht haben, all ihre Angelegenheiten unter sich zu regeln. Solange kein öffentliches oder anderes klanfremdes Eigentum zu Schaden kommt, können sie machen, was sie wollen.“

„Aber sie halten Züge und Autos auf! Bestimmt wird doch auch die Straße beschädigt!“, schrie Malu in Herks Jacke hinein.

„Malu.“ Nun war es Lutz, der zu sprechen begann. „Diese Straße führt durch unwegsames Gelände zu einem Ort, den Mederland fast aufgegeben hat. Wesenburg gehört für die Arealverwaltung gedanklich schon zur Westlichen Ebene. Und du weißt ja, dass nichts, was dort geschieht, die Verwaltungen auch nur einen feuchten Kehricht kümmert.“

Malus tränenüberströmtes Gesicht wurde wieder sichtbar. Schluchzend kam es aus ihrem Mund: „Das heißt … wir … niemand … kann etwas tun? Warum … machen die das da überhaupt?“

„Schau mal“, sagte Herk, „wir wissen durch unser Klantreffen ja schon seit einiger Zeit von den Unstimmigkeiten zwischen manchen Reiterklans, und die Warnung des Merkantusbaums war ja auch recht eindeutig. Die Ulme ist im Mittelland zwar weit verbreitet, ihr Hauptwuchsgebiet aber ist der Westen. Nimm jetzt mal an, die Ulmenreiter hätten sich dazu entschlossen, den Streit zu einem richtigen Kampf eskalieren zu lassen, und die Lindenreiter würden daraufhin das machen, was sie nur allzu gern tun, nämlich sich als Schirmherren des einzig echten, ehrbaren Reitertums aufführen – was würde dann deiner Meinung nach passieren?“

Malu schaute Herk nun mit aufgerissenen Augen ins Gesicht. „Genau das, was dort gerade geschieht!“

Ein bitteres Lächeln war die Antwort. Lutz ergriff nach einer Weile das Wort und fragte leise: „Und wie soll es jetzt weitergehen? Der Fahrer will sicherlich für das Warten bezahlt werden. Ich fürchte, wir müssen von hier aus irgendwohin federn oder bald zurückfahren.“

„Das werden wir auch“, stimmte Herk grimmig zu. „Aber bestimmt nicht, um die Reise abzublasen. Wenn wir hier wegen der Unruhen nicht weiterkommen, können wir einen anderen Weg wählen.“

„So?“, fragte Lutz überrascht. „Wie willst du denn auf die Ebene gelangen, wenn nicht über die Wesenburger Landenge?“

Herk nahm die beiden anderen Federer ein wenig beiseite. „Wir gehen über den Kerstlinger Pass.“

Lutz runzelte nur die Stirn. Er war ja nicht aus der Gegend und begriff nicht, was Herk da soeben für einen Vorschlag gemacht hatte. Malus Reaktion dagegen fiel vollkommen anders aus. „Bist du total durchgeknallt?? Du willst wirklich …!“, schrie sie mit vor Angst aufgerissenen Augen. Weiter kam sie nicht, denn Herk legte seinen Finger auf ihren Mund und machte ein finsteres Gesicht. „Schschscht!! Wollen wir das vielleicht ein wenig leiser besprechen und am besten auch anderswo?“ Er deutete mit den Augen auf den wartenden Wagen. „Wir fahren jetzt zurück zum Stadtrand, federn ein wenig in die Wildnis und dann reden wir bitte dort weiter, ja?“

Lutz war völlig konsterniert. Er kannte Malu ja nun schon eine Weile, aber solch blanke Furcht hatte er noch nie in ihrem Blick gesehen, selbst dann nicht, als sie von ihrer Zeit im Waisenheim erzählt hatte. Das musste ja ein furchtbarer Ort sein, dieser Pass – aber woher wollte sie das wissen? Zusammen stiegen die drei erneut in den Wagen ein. Herk saß wieder vorn und bat darum, zurück nach Gehlstadt zum nördlichen Stadtrand gefahren zu werden. Der Fahrer rollte mit den Augen und wendete. Er hatte es ja gleich gewusst. Na, nun würde ihm die kleine Unterhaltung dieser seltsamen Leute eine halbe Silbermünze extra in die Kasse spülen. Auf dem Rücksitz drückte sich Malu zitternd an Lutz, der seinen linken Arm um sie legte. Was um alles in der Welt war nur fähig, diesem robusten und erfahrenen Mädchen solche Angst einzujagen?

Nachdem Herk den Fahrer bezahlt und dieser seiner Wege gefahren war, sammelten sich die drei Federer und bedankten sich beim Gras am Straßenrand für die nun folgende Reise. Freudig nahmen die Halme sie auf und transportierten sie ein paar Mittelmaße hinein in den Graswald bis zu einem Feldrain. Dort rollten alle drei mit ihren Tragsäcken aus und setzten sich auf zwei Felsen, die dort wie natürliche Wächter das Feld vom Graswald trennten.

„Dürfte ich jetzt eventuell weiterschreien, Herk?“ Malu hatte augenscheinlich ihren Sarkasmus wiederentdeckt. Lutz fand, dass dies ein gutes Zeichen war, und fügte seinerseits hinzu: „Ich würde auch gern wissen, was an diesem Vorschlag so durchgerädert sein soll. Ihr scheint mehr zu wissen als ich.“

„Malu hat recht“, begann Herk. „Die Route über diesen Pass ist gefährlich. Seit vielen Zyklen hat niemand mehr die Reise dort entlang gewagt, zumindest ist nichts davon bekannt geworden. Auch Reiter überqueren das Trenngebirge zwischen Mederebene und Westlicher Ebene nicht, sie reiten nordwärts und wählen gewöhnlich den Weg über Wesenburg – so sie denn überhaupt einen Grund haben, nach Westen vorzustoßen.“

„Niemand geht dort entlang!“ Malu zitterte wieder. „Hier kennt jedes Kind das Gedicht vom Kerstlinger Grusling und seinen Helfern! Keine zwanzig Lasttiere bekommen mich dorthin!“

„Was für ein Gedicht?“, wollte Lutz nun wissen.

„Soll ich es wirklich vortragen? Ich will Malu nicht noch mehr Angst einjagen, als sie sowieso schon hat“, brummte Herk. Doch da hatte Malu bereits mit zitternder Stimme zu sprechen begonnen:

„Gedenke, gedenke und niemals verschenke

Am Kerstlinger Passe deine Kraft

Denn so du erreichest den Kamm vor der Senke

womöglich du denkest, du hast es geschafft

Mitnichten! Schon greift’s nach dem zitternden Bein

mit Heulen und schrecklich Gejaule

der Grusling des Passes fährt aus dem Gestein

und packt dich mit saugendem Maule

Herunter in die Tiefe wird fahren

des Wanderers müdes Gebein

so sehr er sich mühet das Leben zu wahren

wird’s doch ein gut Ende nicht sein

Denn so er entkommet dem finsteren Grabe

im Felsbett gar einsam allein

so wird er der gierigen Helfer Habe

als Sklave in Ketten und Stein“

Die letzten Worte hatte das Mädchen kaum aussprechen können. Fest schmiegte sie sich an Lutz, der nun endlich wissen wollte, woher Malu dies alles wusste. Er fragte sie danach, woraufhin sie mit erstickter Stimme flüsterte: „Habe ich es dir gar nicht erzählt? Ich stamme aus dieser Gegend. Meine Stiefeltern haben hier früher mit mir gelebt, bis es nicht mehr ging.“

Nun zog Lutz die Augenbrauen hoch und sah Herk an. „Solche grausamen Geschichten gehen hier um? Und dennoch schlägst du vor, es dort entlang zu probieren? Warum?“

„Zum einen“, erwiderte Herk ruhig, „ist dies ein sehr altes Gedicht. Von der Sprache her würde ich sagen, mehrere Dekazyklen. Zu diesen Zeiten wurden viele Schauermärchen und ähnlicher Unfug geschrieben, um beispielsweise Kinder von gefährlichen Abenteuern abzuhalten. Oder Trugkerle wollten sich mit solchen Spukgeschichten vor allzu neugierigen Zeitgenossen schützen, um in Ruhe ihren dunklen Geschäften nachgehen zu können. Dummerweise geht solcher Blödsinn dann manchmal in den Volksmund über und verweilt im Gedächtnis der Menschen, obwohl die zugehörige Begebenheit längst der Vergangenheit angehört. Kurz gesagt, ich glaube nicht an diesen Stuss. Zum anderen schlage ich dies nicht leichtfertig vor. Auch ohne solche Mären zum Bangemachen ist der Weg über das Trenngebirge mit Sicherheit deutlich mühsamer als durch Wesenburg. Leider gibt es ansonsten nur zwei Alternativen: warten, bis der Weg über die Landenge wieder freigegeben wird, oder aufgeben.“

Lutz zog die Stirn in Falten. Nach allem, was er über die Westliche Ebene gehört hatte, war mit Schwierigkeiten zu rechnen gewesen. Dass sich aber nun bereits welche ergaben, ohne dass sie auch nur in die Nähe der Ebene gekommen waren, erleichterte ihr Vorhaben keinesfalls. Hier auf dem Feld bleiben und einen Reiseabend verschenken, das konnten sie sich aber so oder so nicht leisten. „Ich möchte gern, dass Malu entscheidet, wie wir weiter vorgehen“, sagte er daher.

 

Malu schaute ihn aus verquollenen Augen überrascht an. „Ich?“, stammelte sie. „Warum ich?“

„Weil es das Größte ist, was ein Mensch tun kann, wenn er sich aus welchen Gründen auch immer seinem inneren Schatten, seinen Ängsten, stellt, um ein Werk der Liebe zu vollbringen. Herk und mich scheint dieses Gedicht nicht so zu beeindrucken wie dich – er glaubt nicht daran und für mich hat es auch keine tiefe Bedeutung, das Ganze erscheint mir eher wie eine dumme Spukgeschichte. Der Punkt ist aber: Es ist unwichtig, ob etwas davon wahr ist oder nicht. Es geht darum, inwieweit man bereit ist, seiner inneren Furcht ins Angesicht zu sehen und sie zu überwinden, egal ob andere sie nachvollziehen können oder nicht.“

Darüber musste Malu erst einmal nachdenken. Schweigen senkte sich über den Feldrand, nur das leise Rascheln der Gräser im Wind war zu hören. Nach ein paar Mittelzeiten sprang die Federin plötzlich unvermittelt auf, stellte sich mit in die Hüften gestemmten Armen und schief gelegtem Kopf vor Lutz hin und sagte in herausforderndem Ton: „Sag mal, wie zum Worger machst du es eigentlich, immer im richtigen Moment solche neunmalschlauen Reden zu schwingen? Mann, wenn ich dieser Grusling da auf dem Pass wäre, dir möchte ich da oben nicht begegnen!“ Dann fiel sie dem überraschten Mann um den Hals, der daraufhin Herk in dessen ebenso verdattertes Gesicht blickte.

Eine Zeit lang war es nun wieder still, bis schließlich Herk leise sagte: „Ich glaube, wir haben hier einen wirklich sehr, sehr mutigen Menschen bei uns.“