Geschichten aus Nian

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Z serii: NIAN-ZYKLUS #3
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Die Kneipe

Es war schon eine Weile her, seit Martin das letzte Mal hier gewesen war. Schon damals war diese Kaschemme das einzige noch einigermaßen nutzbare Gebäude in diesem Außenbezirk gewesen. Nun aber, so stellte er fest, wirkte das Haus fast ebenso verfallen wie die umgebenden Ruinen. Mit gemischten Gefühlen und einem zum Strich gezogenen Mund ging er darauf zu und betrat die Kneipe durch den alten Holzeingang, dessen Tür leicht klemmte und beim Öffnen kratzende Geräusche von sich gab. Schummrig war es hier drinnen, obwohl es Mittag war und die Sonne hoch am Himmel stand. Die wenigen Fenster waren entweder mit Lamellenplatten oder mit Brettern vernagelt worden, der Fußboden bestand aus alten, abgewetzten Holzpaneelen. Lampen, welche früher einmal elektrisches Licht geliefert haben mochten, hingen verstaubt und nutzlos an der Decke. Ansonsten gab es im Gastraum außer Bretterverschlägen, die als Raumteiler dienten, nur Tische und Bänke, und über allem hing ein muffiger Geruch nach Rauch und verschlissenen Sitzpolstern. Auf der Theke allerdings brannten zwei große Kerzen und auf hohen Hockern davor saßen drei Menschen, die sich mit dem Wirt, einem älteren Mann mit schütterem grauen Haarkranz und gekrümmtem Rücken in einem karierten Hemd, unterhielten. Alle drehten sich nun herum, um zu sehen, wer dort durch die Tür gekommen war.

„Grüß dich, Oskar“, begann Martin und nickte dem Wirt zu. „Hoffe, der Laden brummt?“

Bevor der Angesprochene antworten konnte, waren zwei der Leute am Tresen von ihren Hockern gesprungen und rannten nun zu einer Seitentür, durch die sie hastig aus der Gaststube flohen. Der dritte trug einen dunklen Mantel mit über den Kopf gezogener Kapuze. Er wirkte zwar auch nicht angenehm überrascht, reagierte aber wesentlich ruhiger und schien die Eingangstür hinter Martin ins Auge zu fassen, um zu sehen, ob weitere urgalanische Kämpen hindurchtreten würden.

„Na, kommst du, um meine Kunden zu vergraulen?“, sagte Oskar in resigniertem Tonfall und mit einem ironischen Zug um die Mundwinkel. „Jahrelang sieht man dich nicht, und dann marschierst du einfach so hier herein. Hast du deine wüsten Kumpels auch mitgebracht?“

Gut. Offenbar hatte sich die Nachricht über den Ausgang ihrer Mission noch nicht bis hier herumgesprochen. Oskars Kneipe war immer einer der ersten Plätze gewesen, an denen man von solchen Dingen erfuhr. Das bedeutete, man sah ihn hier immer noch als Mitglied einer mächtigen und brutalen Armee – ein wichtiger psychologischer Vorteil. „Sie sind andersherum gegangen. Ich wollte aber hierherkommen, weil mir mein Proviant auf See verloren gegangen ist“, erwiderte Martin. Die Augen dieses Burschen an der Theke gefielen ihm gar nicht. Generell waren ihm Menschen suspekt, denen man nicht ins Gesicht sehen konnte und die sich am helllichten Tage verhüllt in Spelunken wie dieser herumtrieben. Meist hatten sie nichts Gutes im Sinn.

Oskar begann hämisch zu lachen. „Du scheinst tatsächlich vergessen zu haben, dass die Küche seit Jahren geschlossen hat. Das war bei deinem letzten Besuch so und bei diesem ist es das immer noch. Oder glaubst du, dass hier in der Nachbarschaft“, er holte mit einem Arm weit aus, „plötzlich der Wohlstand ausgebrochen ist?“

„Lass das Gequatsche. Ich weiß, dass du immer noch etwas im Schrank hattest, auch wenn du schon ewig nichts mehr für Gäste brutzelst“, sagte Martin in einem etwas schärferen Ton.

Der Wirt zuckte mit den Achseln. „Tut mir leid, mein Junge, aber dieses Mal bist du umsonst gekommen. Das Pack aus der Stadt hat mir die längste Zeit meinen Laden ausgeräumt. Seit ich nichts mehr vorrätig habe, bleiben sie weg. Wenn du willst, kannst du etwas zu trinken haben.“ Er holte eine Flasche hinter der Theke hervor und stellte sie darauf. „Ansonsten würde ich sagen, du verschwindest besser wieder dahin, wo du hergekommen bist.“

Die Gestalt am Tresen bewegte sich unvermittelt und griff nach der Flasche. Ohne Martin auch nur eine Sekunde aus dem Auge zu lassen, schenkte sich der Bursche sein Glas voll und stellte die Flasche dann wieder ab. In Martins rechtem Arm hatte es kurz gezuckt. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass eine zerbrochene Flasche sich plötzlich in eine Waffe verwandelte, die sich gegen ihn richtete. Was mochte dieser unheimliche Kerl nur vorhaben? Bisher hatte er noch nicht ein Wort gesagt.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Oskar hatte natürlich irgendwo Vorräte versteckt, alles andere hätte nicht zu ihm gepasst. Das aber konnte nur eines bedeuten: Wer immer der Typ auf dem Hocker war, er sollte das nicht wissen. Vielleicht wollte Oskar ihn selbst mit dieser Tour sogar schützen … Es war für ihn eindeutig Zeit zu gehen und vielleicht später noch einmal zu erscheinen. „Mein Sold reicht nicht für dieses elende Zeug“, sagte Martin und nickte der Flasche zu. „Wenn du nichts zu beißen hast, geh ich eben wieder und frag auf dem Weg weiter.“ Gerade wollte er sich umdrehen, als etwas äußerst Merkwürdiges geschah: Die verhüllte Gestalt stand auf, griff an ihre Seite und riss sich dann mit einem einzigen Ruck den Kapuzenmantel vom Körper. Noch während er zu Boden sank, wurde Martin einiges klar.

Vor ihm stand eine schlanke und hochgewachsene dunkelhaarige Frau im schwarzen Kleid einer Karnola des Königs, an ihrem Gürtel das typische blitzende Rundwurfschwert. Diese äußerst gefährliche Waffe ließ sich im Nah- und Fernkampf einsetzen. Manche Mitglieder des Geheimbundes der Karno hatten sich sogar darauf verlegt, das Schwert so zu werfen, dass es nach Verrichtung der Dinge wieder zu ihnen zurückkehrte. Nur wer exzellent trainiert war, konnte so ein kreiselndes Objekt wagen zu fangen.


Oskar wurde leichenblass und duckte sich mit schreckensstarrem Gesicht hinter seine Theke. Auch Martin war mit einem Mal mulmig zumute. Seine Gedanken rasten. Karno-Angehörige waren fast immer weiblich, eiskalt und wurden vom König niemals ohne konkreten Auftrag oder Ziel entsandt. Um Oskar konnte es sich dabei nicht handeln, denn er hatte offensichtlich nicht gewusst, wer da die ganze Zeit über an seiner Bar das vermutlich selbstgebrannte Zeug aus seiner Flasche geleert hatte. Also hatte es etwas mit ihm zu tun …


„Kämpfer, wie ist dein Name?“, fragte die Karnola herrisch.

„Martin“, antwortete der Angesprochene mit so fester Stimme wie möglich.

„Der vollständige Name!“, fauchte sie mit blitzenden Augen. „Und dein Auftrag!“

„Martin Darian Kalder, verehrte Karnola“, erwiderte er. „Ich bin Träger einer Botschaft für Kraton den Edlen, unseren ehrenwerten König.“

Die Karnola schritt nun langsam um ihn herum. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich allmählich zu einem herablassenden Lächeln. „Wenigstens hast du nicht vergessen, was sich gehört“, sagte sie schließlich ein wenig versöhnlicher. „Nenne mir deine Botschaft.“

Von so viel Dreistigkeit war Martin nun aber doch überrascht. „Karnola, Ihr wisst, dass ein Herold mit einer Botschaft für den König diese ausschließlich ihm selbst mitteilen darf. Wenn ich Ihnen den Inhalt offenlegte, hätte ich mein Leben verwirkt.“

Die Karnola wirkte zufrieden. Nachdem sie noch ein paarmal hin und her geschritten war, hob sie erneut an zu reden: „In Ordnung, Herold. Du bringst vermutlich Kunde von der Eroberung zum Palast nach Urlich. Weshalb aber sind deine Kameraden nah, wie du zum Ausdruck brachtest, wo du doch ein Vorbote sein willst? Sprich!“

Nun musste Martin zugeben, dass es keine anderen Kämpfer in der Nähe gab. Natürlich wollte er ihr aber keinen reinen Wein über den Untergang der Flotte einschenken. So entgegnete er schließlich: „Sie sind noch gar nicht hier. Ich wurde tatsächlich allein losgeschickt, wollte dies aber in diesem Umfeld nicht offenlegen.“

„Klug gehandelt, Soldat“, sagte die Karnola nach kurzer Pause, während sie etwas entspannter durch den Raum schlenderte, so dass sich ihr Kleid im Licht der Kerzen wiegte. „Wäre ich ein Betrüger oder gar ein Bandenspion gewesen, hätte ich diese Information sonst leicht gegen dich verwenden können.“

Zögerlich erschien Oskar wieder hinter dem Tresen. Er war immer noch kalkweiß. „Mö… Möchtet Ihr vielleicht noch etwas …“, stotterte er, aber die Karnola beachtete ihn nicht und sprach stattdessen weiter zu Martin: „Wie ich sehe, zählt die Ehre des Königs bei seinen Boten aus der Armee noch etwas. Gut, so setze deinen Weg fort, wie es dir beliebt, Herold.“ Daraufhin griff sie ihren Mantel, schwang ihn sich erneut um den Körper und stolzierte durch die hölzerne Eingangstür davon. Zurück blieben ein überraschter urgalanischer Kämpe und ein schlotternder Wirt, der sich nun zunächst selbst einen Schluck aus der Flasche genehmigen musste.

„T… Tut mir leid, Martin – ich wusste nicht, wer das war, schon gar nicht, was sie war!“, stieß er hervor. „Sie hatte vorher die ganze Zeit kein Wort gesagt, immer nur mit den Händen gedeutet. Ich dachte, es sei ein stummer Veteran oder so.“

Martin rieb sich nachdenklich die Wange. „Schon gut, Oskar. Was mich an dieser Sache so wundert – sie war ganz offensichtlich nicht deinetwegen hier, hatte aber auch mit mir nicht gerechnet. Was zum Henker hat sie für einen Auftrag?“

Galdauer Land

Martin sann immer noch über die Begegnung in der Kneipe nach, als er auf der breiten, aber zu einem Großteil überwucherten Straße gen Südosten weiterzog. Er hatte nach einigen Stunden Marsch in Richtung seines Heimatlandes die Umgebung Kippstadts hinter sich gelassen und befand sich nun in einem ehemals fruchtbaren Gebiet Atalans. Hier war es wenigstens ruhig und man musste nicht ständig mit Überfällen rechnen. Die früher gut ausgebaute, mehrspurige Straße, auf der moderne, schnelle Fahrzeuge entlanggebraust waren, war nunmehr von Löchern durchzogen und an den Rändern mit Büschen bewachsen. Auch die Fahrbahndecke selbst zeigte mehr grünen Kräuterbewuchs als das Grauschwarz des früheren Asphaltbelags. Schrott und Wrackteile lagen herum und säumten die Ränder. Dahinter lagen ehemalige Obstplantagen, die nun verwilderten und Tieren oder Landstreichern Heim und Nahrung boten.

 

Martin schüttelte den Kopf. Was für eine Schande! Hier verrotteten möglicherweise in jedem Sommer Tonnen essbarer Früchte, während sich in der Stadt zig Meuten um die wenige vorhandene Nahrung prügelten. Aus Angst verließen sie die Stadt nur, wenn sie mussten – Angst davor, dass sie von anderen Banden aufgerieben wurden oder dass bei ihrer Rückkehr bereits eine andere Meute ihr Gebiet beanspruchte. Was war nur aus diesem Land geworden?

Natürlich hatte Oskar noch Vorräte unter einer losen Diele in seinem Hinterzimmer gehabt. Dieser Bursche wusste, wie man überlebte. Selbst die zwielichtigen Gestalten, die sich meist in seinen Räumlichkeiten herumtrieben, wussten einen Anlaufpunkt wie die Kneipe zu schätzen und waren bereit, auf welche Weise auch immer für das zu bezahlen, was man dort bekam.

Nach einem guten Mittagbrot hatte sich Martin also mit einer Tasche und ein wenig Proviant wieder in Richtung Urgalan aufgemacht. Dafür hatte er allerdings auch etwas hergeben müssen: einen Teil der Notausrüstung jedes Kämpfers, das Texpack, womit man Schäden an Kleidung oder auch Schuhen selbst reparieren konnte. Nur sein Sanpack war ihm noch geblieben, auch wenn das Pflastermaterial durch seinen unfreiwilligen Aufenthalt im Wasser des Meeres womöglich unbrauchbar geworden war. Obwohl er gut vorankam, dauerte Martin angesichts der sinkenden Sonne die Reise viel zu lange. An diesem Tag würde er Galdau nicht mehr erreichen und war vermutlich dazu gezwungen, die Nacht abseits der Straße in einem der alten Plantagengebiete zu verbringen. Nun, dies hatte auch Vorteile – zu dieser Zeit des Jahres gab es möglicherweise bereits verlassene Apfelbäume mit Früchten daran, so dass er ein Frühstück und weiteren tragbaren Proviant bekommen konnte.

Martin hielt einen Moment inne und fühlte in sich hinein. Ja, das Licht war noch dort. Die bedrückende, triste Umgebung schlug einem aufs Gemüt. Wer überall nur Zerstörung zu sehen bekam, konnte vergessen, wie reich er innerlich war. Er wollte nicht, dass so etwas passierte. Dazu war ihm das neu Gelernte viel zu wertvoll. Wie viel mehr stimmte es mit seinem inneren Empfinden überein als der Inhalt seines bisherigen Lebens …

Die Sonne versank hinter dem bewachsenen Seitenstreifen. Es begann, dunkler und kühler zu werden. Nicht eine Menschenseele war Martin seit dem Verlassen Kippstadts begegnet. Lediglich ein Luchs oder Marder lief von Zeit zu Zeit über die verwüstete Straße, oder ein Rabe kreiste darüber. Es war Zeit geworden, sich einen Schlafplatz zu suchen. Also bahnte sich Martin einen Durchgang durch das Gestrüpp am Straßenrand auf das dahinterliegende Feld. Dort wuchsen Disteln, Brennnesseln und andere Kräuter zusammen mit halbhohen Büschen zwischen der ehemaligen Plantagenbepflanzung, deren Anordnung in diesem Durcheinander nur noch mit einiger Fantasie zu erkennen war. Er erblickte Zwetschgenbäume, die jedoch ihre Kraft in die Ausbildung von Wassertrieben gesteckt hatten und nicht mehr trugen. Alte Kirschbäume mit längst verfaulten Früchten zeichneten sich gegen den dunkler werdenden Abendhimmel ab und verweigerten ihm die Hoffnung auf etwas Obst am nächsten Morgen. Martin seufzte. Zwerg müsste man sein, dann hätte man die Bäume um Unterstützung bitten können, wie ihm die beiden winzigen Frauen erzählt hatten. So aber musste er sich freuen, dass es nicht regnete und kaum windig war.

Bevor er die Augen schloss, dachte er noch einmal an den vergangenen Tag zurück. Die Sache mit der Karnola ließ ihm keine Ruhe. Ein solches Verhalten kannte er von den Geheimagentinnen des urgalanischen Königshauses nicht. Wenn sie sich jemandem zu erkennen gaben, erfuhr man entweder rasch den Grund oder war danach tot. Diese schwarze Dame jedoch war einfach nach dem üblichen Einschüchterungsritual verschwunden und hatte selbst Oskar, einen Atalanen, am Leben gelassen. Vielleicht hatten sich in den Wochen seit der Abreise seiner Einheit aus Urlich, Urgalans Hauptstadt, mehr Dinge verändert, als er dachte. Nun, an diesem Tag würde er es nicht mehr herausbekommen. Er drehte sich auf die Seite und war bald eingeschlafen.

Ruckartig fuhr er aus dem Schlummer. Was war denn das gewesen? Dunkel war es noch, der Himmel bewölkt, der Mond verhüllt. Wie spät mochte es sein? Gerade wollte Martin sich wieder hinlegen, als er erneut ein lautes Geräusch hörte: die Hupe eines schweren Wagens. Nun drang auch Motorgeräusch an sein Ohr, ein hohes Brüllen. Jemand fuhr das Fahrzeug in einem niedrigen Gang mit hoher Geschwindigkeit. Schon war auch das Rumpeln zu vernehmen, welches es auf der überwucherten Straße verursachte, dazu schrilles Lachen und Johlen. Das konnte nur eins bedeuten: Eine der Meuten hatte einer anderen ihr Statussymbol abgeluchst und veranstaltete nun eine Art Siegesfeier.

Martin schüttelte den Kopf. So eine Vergeudung wertvoller Ressourcen in diesem armen Landstrich … Vor wenigen Jahrzehnten war dies Gebiet hier wohlhabend gewesen und viele solcher Vehikel waren auf der sogenannten Autobahn von Galdau nach Kippstadt, damals noch Feste des Lichts, gefahren. Fluggeräte waren nördlich der Stadt gestartet und gelandet, hatten weite Strecken zurückgelegt und Atalanen in Gebiete gebracht, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Eisenbahnen hatten in regelmäßigem Takt zwischen allen Städten des Landes verkehrt. Hohe Türme hatten sogenannte Funkwellen über den halben Kontinent geschickt, praktisch jede atalanische Familie hatte einen oder mehrere Empfänger für die Bild- und Tonübertragungen gehabt. Über das kleine Meer im Norden der Stadt war eine alles überragende Brücke gebaut worden, die weithin als Denkmal für die technischen Leistungen Atalans geleuchtet hatte. Nun aber war alles zerstört. Keiner schien mehr genau zu wissen, was passiert war. Niemand sendete mehr eine Übertragung, in rostenden Waggons hausten die Banden des Vorlandes und selbst die Große Brücke war vor vielen Jahren eingestürzt.


Urgalan war von den Annehmlichkeiten der atalanischen Kultur ausgespart worden. Sein Land galt als unzivilisiert und barbarisch, womit die Atalanen damals wie derzeit nicht ganz unrecht hatten. Neidisch und von Hass zerfressen hatte sich der damalige Herrscher über den Niedergang des reichen Nachbarlandes gefreut und an einem bestimmten Punkt die Gelegenheit ergriffen, seine Horden auszusenden. Auf Widerstand war er kaum noch gestoßen. Feige und mit unsäglicher Brutalität waren die Krieger Urgalans über das darniederliegende, wehrlose Land hergefallen und hatten es im Handstreich unterworfen. Um die Bewohner zu demütigen, hatte der König dem Namen des Landes das Wort „Provinz“ vorangestellt. Danach war das Gebiet geplündert und sich selbst überlassen worden.

Das alles war der Grund dafür, dass dort auf der alten Autobahn nun Menschen solche Rituale brauchten, um ihrem Leben ein wenig Bedeutung zu geben. Auch er, Martin, hatte seine eigenen Bräuche dafür gepflegt, als er sein Licht noch nicht gekannt hatte. Er konnte Leute verstehen, die lautstark schreiend ihren Triumph zelebrierten. Allerdings war er sich mittlerweile auch der Folgen bewusst, welche solches Handeln unweigerlich nach sich zog. Er selbst wollte nicht mehr unaufhörlich zwischen Rausch und Frustration pendeln.

Der Wagen war inzwischen näher gekommen. Das Rumpeln und Motorengebrüll war nun unüberhörbar, Lichtkegel durchschnitten die dunkle Nacht, und jedes Mal, wenn die Räder mit dem alten Asphalt in Kontakt kamen, gesellte sich Reifenquietschen hinzu. Es musste sich um ein Geländefahrzeug handeln, denn von Zeit zu Zeit krachte es, wenn ein offenbar schwerer Kühlerschutz einen Ast rammte und von der Straße stieß. Die Insassen hingen wohl teilweise aus den Fenstern heraus, ihr Gejohle hätte einen Bären aus seinem Winterschlaf geholt.

Plötzlich endete das Rumpeln abrupt. Der starke Motor heulte mit höchster Drehzahl auf, Scheinwerferlicht erhellte kurz die Wipfel der Bäume neben der Straße und das irre Lachen der euphorisierten Fahrgäste verwandelte sich schlagartig in ein entsetztes Kreischen. Einen Herzschlag später ertönte ein unglaublich lautes Krachen, gefolgt vom Scheppern sich verformenden Metalls und dem Splittern von Glas. Das Poltern einer sich überschlagenden großen Masse schloss sich an, dann war alles wieder still und dunkel.

Kachler

Martin hatte genug gehört. So schnell er konnte, bahnte er sich den Weg durch die dunkle Nacht zurück auf die Straße. Glücklicherweise war dort noch ein schwaches Licht zu erkennen, wo das verunglückte Fahrzeug lag. Vorsichtig und leise näherte Martin sich dem verbeulten Objekt, dessen linker Scheinwerfer beim Aufprall nicht zerstört worden war und nun nach unten in einen Pflanzenteppich hineinleuchtete. Sein gespenstisches Glimmen tauchte zusammen mit den entstehenden Schatten die Umgebung in ein unwirkliches Licht.

Als Martin das Wrack des Wagens fast erreicht hatte, hörte er, wie eine der Türen kraftvoll unter metallischem Kreischen geöffnet wurde. Heraus sprang eine menschliche Erscheinung, die sich den Arm hielt und nach kurzem Rundblick in die Dunkelheit davonhastete. Ihr folgte ein weiterer Schatten, welcher sich von der Straße erhob und dann ungelenk humpelnd das Weite suchte. „Gut – die beiden sind einigermaßen okay“, dachte Martin. Dann aber erspähte er im grünen Zwielicht eine weitere Gestalt, die sich einige Meter entfernt vom Fahrzeug auf dem Boden krümmte.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich sonst niemand in der Nähe aufhielt, war Martin blitzartig zur Stelle und beugte sich über den Verwundeten. Viel sehen konnte er nicht, es schien sich um einen sehr jungen Mann zu handeln, der sich stöhnend den Kopf hielt. Martin lief zum Wrack, zog geistesgegenwärtig sein Lederoberteil aus, benutzte es als Handschuh und riss mit einem Ruck den bereits gelockerten Scheinwerfer aus seiner Verankerung, um ihn auf den Verletzten zu richten. Nun konnte er erkennen, dass der recht schmächtige, vielleicht siebzehn Jahre alte Junge neben einer großen Platzwunde an der Stirn auch ein aufgerissenes Hosenbein hatte, aus welchem Blut sickerte. Ohne nachzudenken griff er nach seinem Sanpack, holte ein großes Pflaster zusammen mit etwas Desinfektionslösung heraus und versuchte, die Kopfwunde zu behandeln.

„Psst, halt still, Bursche! Wie soll ich dich sonst verarzten?“, stieß er ärgerlich hervor, als der Kopf des jungen Mannes bereits zum zweiten Mal zur Seite zuckte, nachdem die Flüssigkeit die Wunde berührt hatte. Schließlich gelang es ihm, das Pflaster darüberzukleben. Nun wandte er sich dem verletzten Bein zu. Ein großes Sterilo und zwei kräftig angezogene Verbände waren nötig, um die Blutung zu stillen. Wenigstens war es nicht gebrochen.

„Bist du sonst noch verletzt?“, fragte Martin den so Versorgten, der bisher noch kein Wort gesprochen, sondern nur laut geächzt hatte. Da erst bemerkte er, dass der Junge ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Angst betrachtete. „Schon gut, du siehst doch, dass ich helfen will!“, fügte er daher hinzu.

Jammernd begann sein Gegenüber nun erstmalig zu reden: „Nur am Kopf und Bein … aber Sie sind … Sie sind ein urgalanischer Kämpfer! Sie kommen um zu töten! Oder wollen Sie mich etwa zum Sklaven machen? Ich … ich … Lassen Sie mich gehen, bitte!“

Da war es wieder. Martin stand auf und knetete sich nachdenklich mit der linken Hand den Nacken. So funktionierte Gesellschaft hier: Einschüchterung, Angst, Beherrschung, Unterdrückung. Gerade eben hatte dieser Kerl noch über seine Mitmenschen und ihre Dummheit gespottet, sich so einen heißen Flitzer abjagen zu lassen, und zwei Minuten später lag er wimmernd auf der Straße und bettelte um Gnade. Zorn keimte in Martin auf – aber nicht auf den am Boden Liegenden, sondern irgendwie auf alles. Noch vor zwei Wochen hätte er diesem Kerl entweder seine Verachtung oder seine Überlegenheit demonstriert und ihn gefesselt als Beute vor sich hergetrieben, um ihn in Galdau jemandem gegen eine gute Mahlzeit und eine Jacke zu überlassen. Das Wissen darum, dass hierzulande so verfahren wurde, stieß ihm ebenso sauer auf wie die Tatsache, dass er als Uniformierter Teil dieses Systems gewesen war und genau dies einige Male getan hatte.

 

„Vergiss dein Licht niemals, besonders dann nicht, wenn Furcht, Scham, Wut oder Kummer ihren Tribut fordern.“ Amas Stimme hallte in seinem Geist wieder und erinnerte ihn daran, dass er jederzeit selbst entscheiden konnte, welchem Weg er folgen wollte. So richtete er seinen Blick nach innen. Ja, dort war es und darin herrschte Friede. Er brauchte ihn nur anzunehmen.

„Bursche, wenn ich etwas in dieser Art vorhätte, würde ich weder mein Sanpack an dich verschwenden, noch mir die Mühe machen, mit dir zu reden“, ließ Martin seine Stimme vernehmen. „Schluss mit dem Gejammere!“ Nachdem er sich sein Oberteil wieder übergestreift hatte, ergänzte er etwas sanfter: „Mein Auftrag ist ein vollkommen anderer. – Vielleicht sagst du mir erstmal deinen Namen.“

„Ich … ich bin Daniel“, stotterte der Junge verblüfft im Licht des Scheinwerferkegels. Außer der Platzwunde und dem verletzten Bein hatte er allerhand Abschürfungen und Schrammen, seine Kleidung war zerschunden. „Aber Sie, Sie sind doch …“

„Gut, Daniel. Ich würde dich gern um etwas bitten: Hör mit dem Gesieze auf. Wir sind hier in freier Wildbahn und müssen uns beide durchschlagen. Da passt das nicht.“

Daniels Verblüffung wurde immer größer. Warum war dieser bärenstarke Kerl mitten in der Nacht aus der Deckung gekommen, wenn er weder etwas aus dem Wagen klauen noch ihm schaden wollte? Und wenn er Soldat war, was faselte er da von einem „anderen Auftrag“ und „freier Wildbahn“? Wo waren seine Kameraden? Es gab keine einzeln durch die Lande ziehenden Kämpen in offizieller urgalanischer Uniform. Nun ja, offenbar wollte er ihm wirklich nichts tun. Und so begann er: „Wie heißen S… äh, wie heißt du denn?“

„Mein Name ist Martin“, erwiderte der Angesprochene ruhig. „Und ich möchte jetzt gern von dir wissen: Was ist vorhin passiert, wie viele Typen waren in deiner Meute und sind hier noch weitere von deiner Sorte?“

Daniel hatte immer noch etwas Angst und beruhigte sich nur langsam. Er wischte sich einmal vorsichtig über das großflächige Stirnpflaster, verzog schmerzhaft das Gesicht und begann dann zu berichten: „Wir nennen uns die Kachler und waren zu dritt in diesem Wagen, den wir vorhin den Brandhörnern abgenommen haben. Die brutzelten sich auf ihrem Hinterhof gerade irgendwas Gejagtes, als wir losrannten und damit davondüsen konnten. Das war ihre einzige Mühle, sie konnten uns also nicht folgen.“ Ein Grinsen huschte über Daniels zerkratztes Gesicht. „Es war das erste Mal in drei Monaten, dass wir ihnen eine Niederlage beibringen konnten. Die Gesichter hättest du sehen sollen, als …“

„Das interessiert mich nicht“, fuhr Martin ihn an, um dann etwas ruhiger weiterzusprechen: „Nur ab dem Moment, bevor es hier geknallt hat.“

Daniel zuckte zusammen. „In Ordnung … also, wenn wir uns mal ein Auto ziehen können, hämmern wir damit immer volle Möhre über die alte Bahn hier, bevor wir es gegen ordentlich was zu mampfen oder so eintauschen. Daher haben wir ja auch unseren Namen. Sowas macht tierisch Bock. Na ja, und Frank hat’s dann halt ein bisschen übertrieben. Ich hing grad aus dem Fenster hinten, als die Karre ’nen Mordssatz machte. Hab direkt gecheckt, das geht nicht gut, aber da war’s schon zu spät, ich flog durch die Luft und bin hier aufgeschlagen. Den Rest kennst du.“

„Kenne ich nicht“, sagte Martin. „Wo sind denn dieser Frank und dein anderer Kumpel hin, wenn ihr eine Bande seid?“

Daniel sah mit einem Mal sehr resigniert aus. Nach einer Pause antwortete er leise: „Die sind vermutlich abgehauen …“

„Tolle Meutenfreunde“, meinte Martin, drehte sich zum Wagen und ging darauf zu. Ihm war nämlich eingefallen, dass Autos normalerweise einen Verbandskasten mit sich führten, der sich entweder unter einem Sitz oder im Kofferraum befand. Wenn er schon sein Sanpack angebrochen hatte, konnte er es daraus vielleicht wieder auffüllen oder den Kasten gleich ganz mitnehmen. Nachdem er durch die aufgebogene Fahrzeugtür unter die Vordersitze des halb auf der Seite liegenden Wracks geschaut und nichts gefunden hatte, versuchte er, die stark verzogene Kofferraumklappe zu öffnen. Als ihm dies auf herkömmlichem Wege nicht gelang, packte er ein hervorstehendes Teil mit beiden Händen und riss mit einem gewaltigen Ruck das verbeulte Stück Blech zur Seite. Aus dem Kofferraum heraus polterten zwei Teile: ein leerer Blechkanister, der nur geringfügig eingedellt war, und der ersehnte kleine Verbandskasten aus Kunststoff. Seine Hülle war zwar an einigen Stellen gebrochen, aber der Inhalt schien noch vollständig intakt zu sein.

Mit den Teilen in den Händen kehrte Martin zum nunmehr bewundernd dreinblickenden Daniel zurück. Dieser hatte sich zum Sitz aufgerichtet und stammelte: „Donnerwetter! Schade, dass du ein Soldat bist … solche Kräfte könnten wir gut gebrauchen …“

„Wir? Wen meinst du mit ‚wir‘? Etwa deine Kumpel, die dich hier verrecken lassen hätten? Bursche, wach auf, das Thema hat sich erledigt! Kein Rumgeheize mehr mit fremden Karren, du bist auf dich gestellt und wirst hoffentlich nicht mehr so ausgesprochen dämlich sein, deine Ressourcen so zu verschwenden!“ Nun war Martin doch aufgebracht und musste sich wieder etwas zügeln. „Sag mir lieber, ob ihr noch mehr brauchbares Zeug an Bord hattet.“

„Im Handschuhfach könnten noch ein paar Dosen liegen“, hauchte Daniel eingeschüchtert mit gesenktem Blick.

„Okay, ich seh mal nach“, erwiderte Martin ruhiger. Und tatsächlich, nach einer Weile kehrte er mit vier Dosen zurück. „Ist da auch ein Öffner dabei?“

Zum ersten Mal zeigte Daniels Gesicht ein richtiges Lächeln. „Manchmal ist es gut, der Depp zu sein, der meist nicht fahren darf, aber alles reparieren können soll“, sagte er und wollte etwas aus seiner Hosentasche herausholen. Mit einem Aufschrei fiel er wieder zurück auf den Boden. Diese Bewegung war offensichtlich sehr schmerzhaft für ihn gewesen. Martin ging zu ihm und zog vorsichtig ein zusammengeklapptes Mehrfachwerkzeug aus seiner Tasche. Seine Augen begannen zu leuchten. Dieses Ding war nicht mit Gold aufzuwiegen, wenn man sich ohne Ausrüstung durch ein gesetzloses Land schlagen musste!

„Hab ich mir doch gleich gedacht, dass du auch nur ein Dieb bist“, erklang es gedämpft von unten.

Statt darauf einzugehen, legte Martin seine Hände unter Daniels Kopf und Rücken und richtete ihn vorsichtig wieder zum Sitz auf. Dann sah er ihm direkt in seine nun wieder furchtsamen Augen und sprach sanft: „Mein Junge, es tut mir leid, dass du so etwas denkst. Ich verstehe dich, du hast nichts anderes kennengelernt. Dafür wird es jetzt langsam Zeit.“

Daniel glaubte, er habe sich verhört. Redete so ein Krieger der Königlichen Urgalanischen Armee, selbst wenn er offensichtlich allein durch die Lande streifte? Er selbst war ein Atalane, sein Leben war für einen Urgalanen keinen Pfifferling wert. Dieser Kerl jedoch behandelte ihn, als wäre er sein Onkel oder sowas … Jetzt hielt er ihm auch noch eine von den Dosen hin!

„Wünsche ein angenehmes Nachtmahl … oder Frühstück“, fuhr Martin nun fort. Recht hatte er, denn im Osten zeigte sich allmählich der Silberstreif des ersten Tageslichts. „Bevor wir hier aber zu schmausen beginnen, sollten wir vielleicht von der Straße heruntergehen. Vielleicht kommen ja doch noch ein paar von diesen Brandhörnern vorbei, um euch zu jagen. Kannst du aufstehen?“

Nein, das konnte Daniel nicht. Also ergriff Martin ihn unter Schultern und Knien und hob ihn hoch.

Daniel schrie auf, Pein raste von seinem Bein aus durch seinen Körper und auch die pochenden Kopfschmerzen wurden wieder stärker. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der er alle Kräfte dafür benötigte, weitere Schmerzensschreie zu unterdrücken, wurde er schließlich auf dem Boden unter einem Obstbaum abgelegt und fiel keuchend in sich zusammen. Nichtsdestoweniger musste er noch ertragen, dass ihm Martin etwas später im Halbdunkel den Verband wechselte.