Emmentaler Alpträume

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Freitag, 3.5.2019

Markus Forrer und Heinrich Müller standen Punkt elf Uhr vor der verschlossenen Tür des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Bern an der Bühlstraße in der Länggasse. Der Kommissar zückte sein Handy, um den Eintrag in der Agenda zu überprüfen.

»Elf Uhr, vorgestern abgemacht.« Er hob die tiefschwarzen Augenbrauen, die vom langen Haupthaar, das über die Stirn gefallen war, beinahe verdeckt wurden. »Dr. Augsburger ist doch die Zuverlässigkeit in Person.«

»Wir haben ja sonst nichts zu tun«, sagte der Detektiv. »Hast du neue Erkenntnisse?«

»Nein.«

Heinrich erzählte seinem Polizeikollegen von der Diskussion in der Detektei.

»Ich will euch von Anfang an mit dabeihaben«, sagte Forrer. »Zehn Augen sehen mehr als zwei, und ihr kennt Nicole wesentlich besser als ich. Was hat sie denn im Emmental gesucht?«

Nun war es an Müller, seinem Nichtwissen Ausdruck zu verleihen. »Letzten Freitag hat sie uns erzählt, sie besuche einen Kurs. Welchen und wie lange, hat sie nicht gesagt. Wir müssen wohl warten, bis wir sie fragen können.«

Sich rasch nähernde Schritte waren zu hören. Schritte von zwei Personen, zum einen von einem Paar Lederschuhe, die bei jedem Auftreten leicht quietschten, wenn das Wasser aus den Regenpfützen hervorquoll, das durch ein Loch in der Sohle gedrungen war; zum andern von einem Paar, das mit spitzen Absätzen über die Fliesen klackerte.

»Tut mir leid, dass wir zu spät sind«, sagte Dr. Augsburger und trocknete mit einem Papiertaschentuch seine Glatze, bevor er ihnen die Hand entgegenstreckte. Laura de Medico klappte den blau gepunkteten Schirm zu und begrüßte die beiden ihrerseits, während der strahlende Blick aus den rehbraunen Augen, der zwischen Erwartung und Erfüllung oszillierte, vor allem auf Markus Forrer fiel.

»Wir kommen gerade aus dem Spital«, erklärte der Rechtsmediziner, als er die Tür aufschloss. Mit dem Betätigen des Lichtschalters ertönte gleichzeitig Musik. Romantische Klanglandschaften mit Orchester- und Klavierbegleitung waberten durch den Seziersaal, dazwischen fiepte eine Mädchenkopfstimme ihre komplexen Geschichten.

»Joanna Newsom«, erklärte Augsburger, »ein elfenhaftes Wesen mit langem Haar, eine Märchenprinzessin«, schwärmte er. Augsburger war bekannt für seinen exzentrischen Musikgeschmack. »Eigentlich Harfenspielerin. New Folk nennt sich das.«

»Meinen Sie, die Toten lassen sich davon erschüttern?«, bemerkte Forrer mit schneidender Stimme.

Augsburger konterte: »Wir haben eher daran gedacht, sie wieder aufzuwecken.«

Dann gingen sie für einmal ins Büro.

»Zur Abwechslung haben wir es erfreulicherweise mit einer Überlebenden zu tun«, setzte Augsburger das Gespräch fort, »und wir hoffen, dass es so bleibt.«

Müller wollte wissen: »Ist Nicole ansprechbar?«

»Nein, sie liegt immer noch im künstlichen Koma«, antwortete Laura. »Wird noch ein paar Tage dauern. Jedenfalls bis die Wundheilung im Körper ohne Komplikationen abgeschlossen ist.«

»Dann können wir sie besuchen?«

»Dann können Sie sie abholen«, schaltete sich Augsburger ein. »Sie liegt kurze Zeit im Aufwachraum, aber zur endgültigen Genesung wird sie wohl entlassen. In der gewohnten Umgebung erholt sie sich schneller, und man kann ein Trauma eher vermeiden. Ich muss Sie schon darauf hinweisen, dass sich Frau Himmel noch immer in einem zwar stabilen, aber kritischen Zustand befindet. Sie hat einen Lungenstreifschuss erlitten. Wenige Millimeter haben zu einem Lungendurchschuss gefehlt, und da sie erst etwa zwei Stunden nach der Verletzung ins Spital gebracht worden ist, hätte das wohl zu einem tödlichen Lungenkollaps geführt. Diese Gefahr ist gebannt, aber sie braucht nun Antibiotika, um eine Sepsis zu verhindern. Deswegen das künstliche Koma.«

Forrer fragte: »Was haben Sie vor Ort gemacht?«

Laura entgegnete: »Den Berichten der Polizei und des KTD ist wenig Aufschlussreiches zu entnehmen. Es gibt auch kein Projektil, das sie am Fundort entdeckt hätten. Deswegen haben wir Nicole untersucht. Es handelt sich um einen glatten Durchschuss, der wie gesagt die Lunge gestreift, aber sonst keinen groben Schaden angerichtet hat. Im Körper sind keine Projektilreste zu finden.«

»Der KTD hätte eine Patrone oder eine Hülse bestimmt gefunden«, sagte der Kommissar. »Sie wussten ja, dass es um eine Schussverletzung geht und hatten wohl ein Metallsuchgerät dabei. Das lässt den Schluss zu, dass Fundort und Tatort nicht identisch sind, es sei denn, der Täter hätte extrem gut aufgeräumt. Also hat man Nicole dort abgelegt. Gibt es denn Erkenntnisse zur benutzten Munition?«

Die Stille im Raum war bedrückend. Die Harfenistin beschallte wohl weiter den Seziersaal und Augsburgers Klienten. Ins Büro aber drang dank der dreifach verglasten Fenster nicht einmal das Zwitschern eines Vogels.

»Schwierig«, sagte Augsburger. »Eine Waffe mit hoher Durchschlagskraft, kleines bis mittleres Kaliber. Das Einschussloch im rechten Unterbauch ist kaum zu erkennen, das Ausschussloch unter dem Rippenbogen in erwartbarem Ausmaß größer. Der Schusskanal hat sich relativ schnell zusammengezogen, die inneren Blutungen waren glücklicherweise nicht heftig, sodass es dank der Antibiotika keine Entzündungen oder Infektionen geben sollte. Bei vernünftiger Wundheilung muss man in Nicoles Alter auch nicht mit Spätfolgen rechnen, es sei denn mit solchen der Psyche. Aber ich glaube, sie hat vom ganzen Geschehen nicht viel mitbekommen, deswegen bin ich optimistisch.«

»Wir haben Nicole komplett untersucht«, fügte Laura an. »Der Körper weist keine weiteren Wunden auf, weder Druckstellen noch Prellungen, was darauf hindeutet, dass keine direkte Auseinandersetzung stattgefunden hat.«

»Was wir allerdings bemerkt haben«, schloss sich Augsburger an, »sind Kratzer an den Fingern, leichte Absplitterungen an den Nägeln und ziemlich viel Dreck darunter. Nicole ist vielleicht ausgerutscht und hat versucht, sich festzuhalten. Darauf deutet die lehmverkrustete Kleidung. Die war wahrscheinlich auch nass, aber ob das vor oder nach der Deponierung auf der Platzgeranlage geschehen ist, können wir nicht sagen.«

Stumm prasselte der Regen gegen die Scheiben.

Freitag, 10.5.2019

Nicole erkennt das Gebäude wieder. Es ist ein Stöckli, und da treibt sich auch ihre Freundin Claudia rum. Die erklärt der furnierten Holzwand, dass im Emmental früher der jüngste Sohn der Erbe des Bauernhofes war, die älteren gingen leer aus und mussten zum Söldnerdienst oder sich andernorts ein Heimetli suchen, weshalb die Töchter besonders begehrt waren, wenn der Bauer keine Söhne gezeugt hatte.

Wie ein Geist schwebt Claudias Gestalt nun durch die Stube und erklärt weiter. Wenn der Älteste volljährig war, waren die Eltern erst um die vierzig und noch zu jung, um sich zurückzuziehen. Beim jüngsten waren sie zwischen fünfzig und sechzig, und die Eltern konnten ihm noch ein paar Jahre zur Hand gehen, zogen jedoch aus dem großen Bauernhaus hinüber ins kleinere, ins Stöckli.

Davor sitzen nun Nicole und Sandra auf einer Bank an der Sonne, wie ein altes Bäuerinnenpaar. Plötzlich sagt Claudia in den Nachmittag hinein: »Wir müssen noch einmal zum Wasserfall.«

Nicole erinnert sich, wie sie am frühen Morgen beglückt durchs taufrische Gras gerannt ist. Irgendwo plätschert ein Bach, dem sie nach oben folgt, bis sie in einer Geländemulde anlangt. Dort fällt das Wasser über eine Fluh und hat ein Becken ausgespült. Nicole hat Claudia geholt, die noch gejammert hat, sie habe kein Badekleid mit. Aber es ist keiner zu sehen, also hüpfen sie nackt ins erfrischende Wasser.

Plötzlich ruft Claudia: »Achtung, eine Schlange!«

Und wirklich, Nicole sieht eine Schlange, packt sie aus Spaß hinter dem Kopf, legt sie auf der andern Uferseite ins Gras, weil sie doch nicht recht glaubt, dass es hier Wasserschlangen geben soll.

Und nun sagt Claudia, sie müssten nachsehen, ob das Reptil immer noch vor Ort sei. Mit einem leicht mulmigen Gefühl machen sie sich auf den kurzen Weg. Tatsächlich sitzt die Schlange wie eine Kobra an genau der Stelle, an der Nicole sie abgelegt hat. Sie überwindet ihre Angst, nähert sich dem Tier, packt es, und als es keinen Widerstand leistet, beginnt sie es zu streicheln. Die braun gefleckte Schlange züngelt.

Nicole denkt an ein Märchen und küsst sie, Zunge an Zunge, hält sie sehr fest, damit sie nicht beißen kann. Da geht sie unter Zischen in einer Rauchschwade auf. Nicole erschrickt und flüchtet ans andere Ufer zu Claudia. Sie stehen vor Schreck wie gebannt dort, umarmen sich gegenseitig und warten darauf, was weiter passiert. Dann wird Claudia ungeduldig und ruft: »Wenn du schon Action machen willst, dann bitte richtig!«

Da verwandelt sich der Rauch in eine Bocksfigur. Der Leibhaftige selbst? Nicole redet ihn an und lobt ihn für die coole Vorstellung. Man kommt ins Gespräch, freundet sich an und erfährt Folgendes: Er komme aus der vierten Dimension. Diese sei eine Paralleldimension zu unserer dritten wie die dritte zur zweiten und die zweite zur ersten. Die vierte Dimension sei die Stufe, von der man durch Umstülpen seiner selbst eine Gestalt in der nächstniedrigeren annehmen könne, aber man müsse auch in die nächsthöhere blicken können.

Der Rauch, der nun körperlos über dem Wasser wabert und auf dem die Tropfen im Sonnenlicht glitzern, verspricht den beiden Frauen, Wünsche zu erfüllen, was sie aber mit der Behauptung ablehnen, sie seien wunschlos glücklich. So lässt der Rauch sie einen Blick in die vierte Dimension werfen. Erst sehen sie nur ein Farbchaos, dann mehrere gestaffelte Farbtöne, die sich irgendwie unterscheiden. Aber sie merken bald, dass sie nicht fähig sind, diese Dimension zu erfassen.

 

Dann spricht eine nicht näher lokalisierbare Stimme: »Weißt du, jenes Clownsgesicht, über und über bemalt mit fröhlichen Farben, das Weiß um den Mund und das saftige Himbeerrot der Lippen, lange, feine, zarte Wimpern und blauviolette Lider, die Brauen ein dicker schwarzer Strich und die Wangen leicht gerötet, pointillistisch auslaufend bis zu den Ohren, jene geschmückt mit zwei langen Silberstäben, die leicht klirren. Und jetzt ist dieses Mädchengesicht entstellt von Trauer, das heißt, entstellt ist es nicht, es ist in eine neue Sphäre noch größerer Schönheit gehoben. Und jene Träne, die die Wange hinab eine Furche ins Weiß gräbt und darunter reine, von Schmerzen geküsste Haut sehen lässt. Und die Augen weit offen, die Lippen schließen einen Hohlraum ein, der eine Erbse knapp durchschlüpfen ließe. Und über allem jene Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger, ausgeschnitten aus irgendeiner Zeitung, der auf die in Mundwinkelhöhe stecken gebliebene Träne weist.«

Durch ihre Lider dringt das Morgenlicht. Nicole Himmel öffnet zaghaft ihre Augen. Sie schreckt zurück. Da steht jemand in der Tür!

Sofort schließt sie die Lider, als ob sie damit alles ungeschehen machen könnte. Dann schießt der Gedanke durchs Gehirn, dass sie sich wehren muss, dass sie nicht einfach hilflos liegen bleiben kann. Also öffnet sie vorsichtig die Augen.

Da ist keiner. Aber hinter der offenen Schlafzimmertür, im Eingangsbereich der Wohnung, steht der Garderobenständer und daran hängt ein schwarzer Mantel, der sich leicht bewegt. Als Nicole den Kopf ein wenig hebt, erkennt sie, dass Lucy mit den Schößen spielt. Nicole ist wieder zu Hause!

Erleichtert sinkt sie auf das Kissen zurück. Sie schwebt noch zwischen Traum und Wirklichkeit, aber die Wirklichkeit kämpft sich langsam zurück. Über diesen Gedanken nickt Nicole noch einmal ein.

Samstag, 11.5.2019

»Kommt sie runter?«, fragte Gwendolin Rauch besorgt. Nicole war gestern aus dem Spital entlassen und nach Hause gebracht worden, aber die drei Grazien hatten sie noch nicht gesehen.

»Nein«, antwortete Heinrich Müller. »Der Arzt hat gesagt, sie sei erst in ein paar Tagen wieder teilweise belastbar.«

Phoebe Helbling schlug vor: »Wir könnten ihr ein paar Fragen schriftlich stellen, sonst wissen wir überhaupt nicht, wo wir anfangen sollen.«

»Leider auch nicht«, sagte der Detektiv. »Nicole hat eine komplette Amnesie, was die Ereignisse und die Tage davor betrifft. Wie lange sie zurückreicht, wissen wir erst, wenn wir mit ihr sprechen können.«

»An die Tage im Koma wird sie sich auch nicht erinnern«, mutmaßte Melinda Käsbleich. »Also fehlen ihr mindestens zwei Wochen ihres Lebens.«

»Kann man das behandeln?«, wollte Phoebe wissen. »Hypnose?«

»Der Arzt hat mir erklärt, dass retrograde Amnesien oft bei Unfällen und plötzlich eintretenden Ereignissen vorkommen. Schusswunden werden nicht separat erfasst, da sie nicht besonders häufig sind. Er hat betont, dass sich die meisten Amnesien zumindest teilweise zurückbilden, also dass die Erinnerung wieder zurückkehrt, am ehesten durch Bilder und Gegenstände aus der fraglichen Zeit. Allerdings braucht es viel Zeit und Ruhe.«

Phoebe erkannte: »Wir haben das Opfer eines Verbrechens im Haus. Es kann sich jedoch nicht an das Geschehen erinnern. Und wir tappen im Dunkeln, als ob wir die Person gar nicht kennen würden.«

»So in etwa«, seufzte Heinrich. »Fangen wir an mit dem, was wir wissen. Nicole Himmel verlässt vor genau zwei Wochen das Haus, um einen Kurs zu besuchen, wofür sie wahrscheinlich irgendwo in die nördliche Napfregion reist. Was hat sie mitgenommen?«

Die vier hatten sich im Büro der Detektei Müller & Himmel auf die wenigen Sitzplätze verteilt, während Nicole ein Stockwerk höher in ihrem Bett lag und immer noch wenig von all dem mitbekam, was um sie herum passierte.

»Was man halt für ein paar Tage außer Haus mitnimmt«, sagte Phoebe.

»Das wäre?«, fragte Heinrich Müller.

»Eine Reisetasche oder einen kleinen Rollkoffer mit den persönlichen Effekten, jedenfalls nichts Großes. Ihr Portemonnaie mit Ausweisen, Kreditkarten. Das Handy.«

»Das Notebook?«, fragte Heinrich Melinda, die an Nicoles Arbeitsplatz saß, während ihr Lucy, die Schildpattkatzendame mit dem schwarzen Fell und dem rotgoldenen stehenden Dreieck über der Nase, über die Tastatur rannte.

»Ist nicht an seinem Platz.«

Müller erklärte: »Das wissen wir zwar bereits seit Tagen, aber es ist wichtig, sich noch einmal daran zu erinnern, denn irgendwo müssen die Dinge ja geblieben sein. Markus Forrer hat eine Handyortung in Auftrag gegeben. Ohne Erfolg. Man konnte nachverfolgen, dass Nicole wirklich unterwegs in den Hornbach gewesen ist, aber kurz vor Wasen hat sie das Handy ausgeschaltet. Und seither blieb es stumm. Haben wir noch einen Anhaltspunkt?«

Phoebe fragte: »Sagt uns die Ortung auch, mit welchem Verkehrsmittel sie unterwegs war?«

»Nein. Sie sagt uns noch nicht einmal, ob wirklich Nicole das Handy bei sich gehabt oder ob es jemand anders mitgetragen hat. Aber da Nicole hinter der Hornbach-Pinte gefunden wurde, gehen wir davon aus, dass sie es selbst bei sich hatte.«

»Eventuell hatte sie einen Fotoapparat mitgenommen«, sagte Gwendolin.

Melinda zweifelte: »Zusätzlich zum Handy?«

»Also wahrscheinlich nichts weiter«, schloss Heinrich. »Ihr habt eure Laptops startbereit? Das Passwort für die Detektei lautet …«

»›Beverly Negril‹«, sagten die drei wie aus einem Munde. »Ist bekannt. Immer etwas aus einem der letzten Fälle.«

Müller war überrascht. »Das für Nicoles soziale Netzwerke kennt ihr auch?«

»Wahrscheinlich ›Magdalena im Ager‹«, riet Phoebe, denn sie hatte eine sentimentale Ader.

»Bingo«, sagte Gwendolin. »Ich bin in ihrem Facebook-Account drin. Seit Mittwoch lauter Geburtstagswünsche.« Sie scrollte enttäuscht weiter.

»Sie hat doch gar nicht Geburtstag«, sagte Heinrich erstaunt.

Phoebe erwiderte kopfschüttelnd: »Gehörst du zu den Menschen, die bei Facebook ihr echtes Geburtsdatum angeben, eventuell mit dem richtigen Jahr? Und welche Daten verschenkst du sonst noch?«

Melinda doppelte nach: »Wenn man sich heutzutage in den Netzwerken tummelt, stellt man mit Erstaunen fest, wie viele Menschen mit Vornamen ›Arschloch‹ heißen. Gut, der Geburtskanal liegt nicht weit davon entfernt …«

Der Detektiv fasste sich wieder und sagte: »Hat Nicole an jenem Samstag über den Laptop auf irgendetwas zugegriffen?«

»Sieht nicht so aus«, antwortete Gwendolin. »Die letzten Einträge stammen vom Tag davor.«

»Ein Hinweis auf den Kurs?«

»Nein.«

Heinrich fragte: »Wir können also nicht feststellen, auf welchem Weg sie zu diesem Kurs gekommen ist?«

»Nein«, sagte Gwendolin noch einmal, »ohne den Laptop läuft gar nichts. Wir können natürlich auf gut Glück im Internet suchen: Kurs, Emmental, Datum. Ich gebe es ein.«

Es dauerte nicht lange, bis sie aufgab.

»Melinda, schaust du bitte am Arbeitsplatz nach schriftlichen Unterlagen?«, sagte Heinrich. »Es muss doch etwas zu finden sein.«

»Was, wenn es gar keinen Kurs gibt?«, sagte Phoebe.

»Wie meinst du das?«, fragte Melinda.

»Nun, sie hat uns allen einen Bären aufgebunden und hat gar keine Veranstaltung besucht, sondern einen Liebhaber getroffen.«

Gwendolin lachte. »Einen Emmentaler Bergbauern, den sie uns monatelang verheimlicht hat?«

»Dann mach halt einen besseren Vorschlag«, sagte Phoebe beleidigt.

Heinrich intervenierte: »Die Detektei hat im Moment keinen Auftrag. Könnte es sein, dass Nicole dennoch an irgendetwas gearbeitet hat? Mir schien, dass sie leicht unruhig war, was ich einer verständlichen Besorgnis über das weitere Schicksal der Detektei zugeschrieben habe. Schließlich gehe ich bald in Rente, da weiß man nie. Wenn nun so etwas der Grund dafür war?«

»Ich habe eine Idee«, sagte Melinda. Ihr Wühlen unter den Papieren auf dem Tisch und in den Schubladen war auch nicht erfolgreich. »Die Detektei hat doch ein kleines Netzwerk, an das alle Computer angeschlossen sind?«

»Ja«, bestätigte Müller. »Das Passwort …«

»Ist dasselbe«, echoten alle drei.

»Schon gut«, brummte der Detektiv.

»Also, da hätten wir den Browserverlauf von uns allen«, sagte Gwendolin. »Ihr wollt nicht wissen, was Melinda …«

»Vergiss es«, sagte die Angesprochene.

»Mal sehen. Verdammt, der geht nur bis letzten Montag zurück. Habt ihr einen Löschautomatismus?«

Heinrich fragte: »Wie meinst du das?«

»Na, den Browser so eingestellt, dass er nach einer gewissen Zahl von Tagen den Verlauf automatisch löscht, damit man nicht nachvollziehen kann, was ihr recherchiert. Wäre eigentlich vernünftig. Außer gerade jetzt.«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Müller. »Aber dafür wäre sowieso Nicole zuständig.«

»Oder hast du den Verlauf gelöscht?«, fragte Melinda.

Der Detektiv schlug sich an die Stirn, bevor er antwortete: »Alles klar. Am letzten Montag habe ich Online-Banking erledigt. Anschließend lösche ich die Eingabedaten.«

Gwendolin klickte in Safari auf »Verlauf löschen« und zeigte Heinrich das Dialogfeld: »Worauf klickst du?«

»Hier«, zeigte Müller. »›Gesamten Verlauf löschen‹.«

»Ein Sechser im Lotto«, stöhnte Phoebe. »Kein Laptop, keine nachverfolgbaren Daten, keine Kursunterlagen, ein stummes Handy und eine angeschossene Detektivin. Ich verkrieche mich in meinem Depressionenkämmerchen.«

Sonntag, 12.5.2019

Sie sitzt auf einer Aussichtsbank an einer Straßenkreuzung, jedenfalls ist sonst nichts zu sehen, keine Häuser, keine Menschen. In der Ferne ein kleiner Wald, aus dem eine Kurve herausragt. Dort fährt ein Postauto, aber das Billett ist sehr teuer, und das lange Warten kostet Kraft, auch wenn sich Nicole kaum bewegt.

Dann taucht eine Schulklasse auf, lauter lärmende Kinder. Nicole geht los, in der Kurve wird sie von den fröhlichen jungen Menschen eingeholt. Das Postauto, das kurze Zeit später am Horizont auftaucht und nun vor ihnen anhält, ist ein offener Lastwagen. Sie werden auf die Ladefläche verfrachtet. Nicole winkt jemandem zum Abschied. Ihrem Traummann?

Hinter der Kurve tut sich ein herrliches Panorama auf: ein enges Hochtal mit einem gemütlichen Dorf im Zentrum, steil abfallende Wildheuerwiesen und Weideflächen in der schmalen Ebene. Die Straße führt den Hang entlang, direkt darunter stehen etwa fünfzig überdimensionierte Kuhglocken, fast mannshoch, in allen Formen, meist golden leuchtend in der Sonne: ein Kuhfriedhof.

Dann fällt Nicole auf, dass man mit neunzigprozentiger Sicherheit zu Tode stürzt, wenn man mit einer dieser schweren Glocken um den Hals Ski fahren würde. Als ob sie das jemals getan hätte. Aber sie hat es zuerst entdeckt und sie will das Geheimnis so lange wie möglich für sich behalten. Wer weiß, wozu es noch nützlich sein würde.

Aus der Aue steigt bald ein betörender Duft auf: Karamell mit Vanille und etwas Morbides, Modriges ist mitgemeint. Es gibt das Leichte nicht ohne das Schwere, das Licht nicht ohne den Schatten, das Weite nicht ohne die Enge, das Leben nicht ohne den Tod.

Nicole spürt sie wieder, diese Enge. Sie kriecht auf allen vieren durch Schlamm und über brüchiges Erdreich, immer tiefer hinein, bis das letzte Licht von der massiven Dunkelheit geschluckt wird und es weder ein Vor- noch ein Rückwärts gibt. Es wird immer wärmer, gleichzeitig stickiger. Nicole schnappt nach Luft, beschleunigt die Atmung, ein kurzer Durchzug schiebt Sauerstoff nach, auf den Lippen macht sich pelzige Feuchtigkeit breit, auf der Zunge klebt der Geschmack eines undefinierbaren Metalls. Und dieser Duft nach Vanille … den kennt sie von stark parfümiertem Wein, der lange im Barrique gelegen hat.

Bevor sie ohnmächtig wird, zerrt jemand an ihren Schuhen und legt Nicole in nassem Gras ab. Dann schreien Kinder und es fällt ein Schuss.

Wahrscheinlich hat Nicole geschrien, denn Lucy ist vom Fußende des Bettes auf den Tisch gesprungen und hat dabei die Vase zu Boden gestoßen, deren Scherben auf dem Parkett verstreut liegen. Von den Blüten der Lilien stammt dieser betörende Geruch.

»Was für Alpträume«, denkt Nicole, als sie feststellt, dass es draußen nichts zu tun gibt.

Sie kuschelt sich noch einmal unter die Decke.

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