Fokus SEIDENPLANTAGE

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Kapitel 15

»Das ergibt alles keinen Sinn«, lamentierte der Köstlbacher, der zusammen mit dem Baldauf nun genau dort stand, wo er vor wenigen Tagen bereits gestanden hatte, als die erste Leiche gefunden worden war. Er versuchte dabei authentisch zu wirken. »Wenn’s wieder eine Joggerin gewesen wäre, dann hätten wir einen Anhaltspunkt. Aber diese Frau wollte eindeutig in die SEIDENPLANTAGE.«

»Und das, obwohl wir geschlossen haben. Lockdown! Oder Shutdown, wie sie diese andersgearteten Einschränkungen neuerdings nennen. Vorläufig mindestens bis zum Dezember. Aber wenn Sie mich fragen, dauert das noch viel länger. Natürlich haben wir all unsere Kunden über die Schließung informiert. Falls es sich tatsächlich um eine Kundin handelt, dann kam die Info bei ihr nicht an. Oder sie ist eine von denen, die nur hin und wieder online gehen, um ihre Mails zu checken«, sagte Frau Herrmann, die sich wegen Renovierungsarbeiten am Pool in der Nähe aufhielt und inzwischen zu den beiden Kriminalbeamten getreten war.

Kommissarin Koch, diesmal ohne die Polizeihündin Mina vor Ort, stand ganz in der Nähe. Im Moment war sie damit beschäftigt, eine fingierte Spaziergängerin, die die mutmaßliche Leiche angeblich entdeckt hatte, zu befragen. Frau Koch konnte gerade noch zwei schnelle Schritte machen und Frau Herrmann auffangen, als diese plötzlich zu wanken begann und in den nächsten Sekunden umzufallen drohte.

Die Leiche war zwar nicht echt, und es sollte laut Plan sogar nur eine schwere Verletzung festgestellt werden, aber das wusste Frau Herrmann schließlich nicht. Sie sah nur diese am Boden liegende Frau, den Notarzt und das vermeintliche Blut.

»Bei Film und Fernsehen kann gar nicht genug Blut fließen. Nur echt darf das Blut nicht sein. Erinnert mich an unseren verstorbenen Kollegen Liebknecht. Hart wie ein Hundeknochen, aber kaum hat er Blut gesehen, wurde ihm schlecht«, kommentierte der Köstlbacher die Szene mit einem Schmunzeln.

»Hast eine Minute?«, fragte in dem Moment der Kollege Jung, dessen Team emsig an der vorgetäuschten Spurensicherung zu arbeiten schien.

»Was gefunden?«, fragte der Köstlbacher laut und deutlich, damit ihn auch andere hören sollten. Üblicherweise wandte sich der Jung nur an ihn, wenn er irgendeine Entdeckung gemacht hatte, die ihn überraschte. Nun aber spielte er mit Vergnügen Köstlbachers Krimikomödie mit und antwortete so, dass auch entferntere Personen es hören konnten und sollten:

»Sagen wir’s mal so, die Vermutung lag von Anfang an nahe, dass wir es mit demselben Täter zu tun haben. Gleicher Tatort, gleicher Typ Frau. Selbst der versuchte Stich ins Herz, dürfte auf dieselbe Art und Weise erfolgt sein, wenngleich zum Glück nicht perfekt ausgeführt. Das Opfer hat vielleicht noch einmal Glück gehabt. Sagt zumindest unser Notarzt. Übrigens, das hier wurde gefunden! Damit dürfte kein Zweifel mehr bestehen. Kein Trittbrettfahrer kann alle Details kopieren!« Damit reichte er dem Köstlbacher ein Messer in einem Asservatenbeutel. »Ähnelt dem beim ersten Mord verwendeten wie ein Ei dem anderen«, fügte er seinen Ausführungen noch hinzu. »Nachdem wir nirgends in der näheren Umgebung eine Mordwaffe fanden, kam deine Kollegin Cuscunà auf die Idee, dort nachzusehen, wo die erste Tatwaffe gefunden worden war. Et voilà! Volltreffer!« Das Blinzeln in Jungs Augen bemerkte außer dem Köstlbacher niemand.

Der Köstlbacher nahm den Fund in die Hand, wog das Messer prüfend darin, als ob er den Wert der Waffe bestimmen wollte, schaute zur Martina Cuscunà hinüber und meinte, erneut etwas lauter, damit nicht nur sie es hören sollte: »Respekt Kollegin Cuscunà! Haben Sie sich das Messer schon näher angesehen?«

»Nicht wirklich! Ich weiß ja, dass diesbezüglich die Spurensicherung Vorrang hat«, antwortete sie und kam näher.

»Sehen Sie!«, der Köstlbacher war zu diesem Zeitpunkt immer noch per Sie mit der neuen Kollegin, gedachte das aber baldmöglichst zu ändern. Im engeren Team war es ohnehin üblich, sich zu duzen. »Fällt Ihnen was auf?«

Die Cuscunà beugte sich vor und warf einen prüfenden Blick auf die blutverschmierte Waffe im Asservatenbeutel. »Sie spielen auf die Gravur an? Scheint ein Name zu sein. Das verkrustete Blut ist an der Stelle zu dick, um ihn lesen zu können. Mit etwas Fantasie könnte es ESTHER heißen.«

»Gebens Sie’s dem Kollegen Jung! Er wird sich drum kümmern.«

Die Kollegen vom Polizeirevier, die in den Plan eingeweiht waren, zeigten sich bewusst nachlässig, Passanten und Schaulustigen den Weg zu versperren. Je mehr sie mitbekamen, desto besser.

Da die ganze Show nur einen Sinn haben konnte, wenn auch die Presse vor Ort war, hatte jemand dem Kamarek einen Tipp gegeben. Plötzlich stand er vor dem Köstlbacher, wedelte mit seinem Presseausweis vor dem Gesicht des Kommissars herum und fragte:

»War’s erneut eine Einzeltat? Oder tippen Sie auf einen Serienmörder?«

»Wer hat Ihnen den Zutritt erlaubt?«, fragte der Köstlbacher mit gespielter Verärgerung im Tonfall.

»Rudolf Kamarek. ›Unabhängige Presse‹. Es hat mich niemand gehindert! Übrigens haben wir schon einmal miteinander telefoniert«, antwortete der Pressefuzzi und lachte dabei hämisch. Zumindest empfand es der Köstlbacher so.

Irgendetwas an diesem Typen war dem Köstlbacher zuwider. Auch wenn sein Erscheinen im Moment goldrichtig war. Warum in aller Welt hatte man keinem von der Mittelbayerischen Zeitung einen Tipp gegeben?

»Von einer ›Unabhängigen Presse Regensburg‹ habe ich noch nie etwas gehört«, grantelte daher der Köstlbacher, tat, als erinnere er sich an kein Telefonat, und beäugte bewusst misstrauisch den Ausweis dieses Kamarek.

»Kann ich verstehen. Ich bin sozusagen das öffentliche Sprachrohr der ›Querdenker‹. Von denen haben Sie doch sicher schon etwas gehört.«

Jetzt wusste der Köstlbacher schlagartig, warum er diesen Typen nicht ausstehen konnte. Wegen dieser ›Querdenker‹ mussten in letzter Zeit Tausende von Kollegen deutschlandweit Sonderschichten schieben, weil die anscheinend nichts anderes zu tun hatten, als medienwirksam gegen die Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Dabei verunglimpften und provozierten sie die Polizei, wo immer es ihnen möglich war. Als ob es seinen armen Kollegen Spaß macht, dafür zu sorgen, dass diese Demos den Auflagen entsprechend abliefen. Ein Polizist hat zu tun, was man ihm befiehlt. Ansonsten kann er gehen.

»Das hier«, und dabei machte er eine Handbewegung zu der Stelle hin, von der man die Frau soeben abtransportiert hatte, »hat mit ›Querdenken‹ nichts zu tun!«

»Die Leiche vor ein paar Tagen war eine von uns. Eine ›Querdenkerin‹. Vielleicht richtet sich diese Tat ja auch gegen uns?« Natürlich horchte der Köstlbacher kurz auf, als er dies erfuhr, aber sympathischer wurde ihm aufgrund dieser Info der Pressefuzzi deswegen auch nicht. Daher drehte er sich zum Kollegen Baldauf um, der mit Herrn Müller redend in Reichweite stand, und gab Anweisung, den Reporter Kamarek entfernen zu lassen. Was er gesehen hatte, musste reichen. Den Rest würde er sich sowieso aus den Fingern saugen.

»Es wird sicherlich bald wieder eine Pressekonferenz geben. Bis dahin werden Sie sich gedulden müssen!«, gab er dem Journalisten mit auf den Weg.

Das Zwischenspiel bewirkte, dass dem Köstlbacher seine Laune in den tiefsten Keller fiel. Mit der Presse war er noch nie besonders gut Freund gewesen. Und mit so einer ›Querdenker-Presse‹ würde er es schon dreimal nicht sein oder werden. Und das hatte nicht einmal politische Gründe. Eigentlich ganz pragmatische. Sein Berufsstand war immer der Leidtragende, wenn was schieflief. Und das passierte in letzter Zeit leider immer öfter, dass etwas schieflief.

Kapitel 16

Dem zweiten Opfer gab man den Namen Gizela. Gizela Drom. Die fiktive Biografie für Gizela war schnell zusammengestellt. Tochter einer Serbin und eines Deutschen. Beide Eltern verstarben vor ein paar Jahren bei einem tragischen Verkehrsunfall. Gizela Drom war 25, ledig und wohnte in einer Altstadtwohnung nahe dem Ostentor.

Das Abhalten einer Besprechung vor der großen Pinnwand war früher ein Highlight, das der Köstlbacher liebte. Vor der Pinnwand wurden Zusammenhänge klar und selten wurde so eine Konferenz beendet, ohne zu neuen Erkenntnissen gekommen zu sein.

Heute sollte sich daran eigentlich nichts ändern. Viele Mosaiksteine galt es zusammenzutragen. Auch wenn dem Puzzle elementare Teile fehlten, man würde hoffentlich einen Schritt vorwärtsmachen können.

Trotzdem war heute vieles anders als früher. Das lag nicht nur am einzuhaltenden Abstand. Den Köstlbacher nervte am meisten der Mundschutz. Er wurde ohnehin viel zu schnell kurzatmig, wenn er sich aufregte. Vom Schwitzen ganz zu schweigen, das mit der Kurzatmigkeit einherging. Und jetzt noch dieser Mund-Nasenschutz. Angenehm war das nicht, auch wenn er einsah, dass es nötig war, möglichen Ansteckungen vorzubeugen.

»Fassen wir zusammen«, begann er und kratzte sich am Kragen. Dort juckte es so gut wie immer, vor allem aber, wenn alles nur vordergründig nach seinen Vorstellungen ablief, bei genauerem Hinsehen jedoch größere Probleme zu erwarten waren. »Ich kann vermelden, dass wir den Plan unserer Kollegin und Beraterin Dr. Unger detailgetreu durchgeführt haben. Aber ich bezweifle sehr, dass das etwas gebracht hat, beziehungsweise noch bringen wird.«

Frau Dr. Unger kommentierte das nicht, drückte ihre Missbilligung für diese Einschätzung dafür mit ihrer Mimik und Gestik umso deutlicher aus.

»Wer weiß, vielleicht haben wir ja Glück«, meinte der Baldauf. Hatte es eigentlich eine besondere Bewandtnis damit, in das fingierte Tatmesser ESTHER einzugravieren? Warum nicht Gizela?«

 

»Jeder Name wäre gut gewesen, nur nicht Gizela«, warf die Forensiche Psychiaterin Dr. Karin Unger energisch ein. »Auf der ersten Tatwaffe war KARIN eingraviert. Karin war nicht der Name der Toten. Diesem Umstand wollten wir auch beim zweiten Mord, unserem gefakten Mord, Rechnung tragen.«

»Wobei wir keinerlei Anhaltspunkt haben, warum auf der ersten Mordwaffe KARIN eingraviert war und nicht der tatsächliche Name der Joggerin«, meinte der Köstlbacher.

»Und wenn…?«, kam es plötzlich verhalten von der Kommissarin Cuscunà.

»Und wenn was?«, fragte der Köstlbacher.

»Ist nur so eine Idee. Mein Exmann war Italiener. Er hat mir oft erzählt, dass es in Italien heute noch so etwas wie Blutrache gibt.«

»Was hat ›Blutrache‹ mit unserem Namensproblem zu tun?«, fragte die Kollegin Müller.

»Die Assassinen, das italienische Wort für Bluträcher, ritzten in die Kugel, die den Mann töten sollte, an dem man sich für einen Mord rächen wollte, die Initialen desjenigen ein, für den er sterben sollte.«

Den Satz musste die Runde erst einmal verdauen. Aber natürlich wusste jeder nach kurzer Überlegung sehr wohl, worauf die Cuscunà hinauswollte.

Der Köstlbacher sprach aus, was alle dachten und redete die Cuscunà von nun an, ohne das vorher abgeklärt zu haben, mit ›Du‹ an: »Du meinst also, das Messer mit der Gravur KARIN tötete zwar Helge Martinson, galt aber symbolisch einer Karin?«

Die Dr. Unger machte den Eindruck, das Gehörte noch einmal mit ihren eigenen Überlegungen abgleichen zu wollen, bevor sie darauf zu antworten bereit war. Offensichtlich kam sie dabei zu einem positiven Ergebnis, denn sie nickte beifällig.

»Oder so ähnlich, ja«, bestätigte die Cuscunà, was der Köstlbacher soeben messerscharf geschlossen hatte.

»Und das Motiv? Die Assassinen töteten, weil vorher einer der Ihren getötet worden war. Sollte das unser gesuchtes Motiv sein?«, fragte Kommissar Krimeck, von dem man schon lange nichts mehr gehört hatte.

»Soweit würde ich nicht gehen«, antwortete die Cuscunà.

»Was das Motiv betrifft, tappen wir meiner Meinung nach nach wie vor im Dunkeln.«

»Ob das alles stimmt, das muss sich erst zeigen«, fügte die Koch der Diskussion hinzu, die ein wenig angepisst war, weil die Neue mit ihren Ideen sich gar so in den Mittelpunkt drängte. Wobei die Koch der Ehrlichkeit halber trotzdem zugeben musste, dass die Vermutung was Einleuchtendes hatte.

»Martina hat nicht behauptet, dass das stimmt«, machte sich überraschend der Baldauf für die Neue stark. »Aber dazu sind wir schließlich hier. Ideen sammeln. Möglichkeiten in Betracht ziehen.«

Ein zustimmendes Murmeln ging durch die Reihen. Sollte dabei die eine oder andere negative Bemerkung gefallen sein, so war sie jedenfalls nicht zu verstehen, weil die Corona-Masken nicht nur Tröpfchen stoppen. Oft genug halten sie auch undeutlich gesprochene Worte zurück. Was bisweilen durchaus einen positiven Aspekt haben kann.

»Ideen sind immer gut. Und sie müssen auch mitgeteilt werden. Nur so können wir darüber diskutieren. Aber uns fehlt jetzt erst einmal Grundlagenarbeit«, schloss der Köstlbacher die Debatte ab. »Wir müssen alles in Erfahrung bringen, was es über die ermordete Helge Martinson in Erfahrung zu bringen gibt. Wie hat sie gelebt? Familie? Freundeskreis? Das Übliche eben. Dann werden wir vielleicht zu Erkenntnissen kommen, die uns weiterbringen. Vielleicht! Aber vergessen wir dabei nicht: Nicht immer führt der Weg zum Mörder über das Opfer! Ich kümmere mich um die diesbezügliche Zusammenarbeit mit den Kollegen in Norwegen. Vielleicht können die auch einiges beisteuern. Baldauf, du bleibst vorläufig im Haus, falls ich dich brauche! Du auch Martina! Ihr beide koordiniert die weiteren Ermittlungen. Sprecht euch ab, wer was in Angriff nehmen soll. Also, ab an die Arbeit! Ach ja, dass ich es nicht vergesse, ich will niemanden ohne Maske antreffen! Keine Anweisung vom Söder! Anweisung von mir!«

Sobald alle, bis auf die Cuscunà, die sich noch einmal verinnerlichte, was die Pinnwand bisher hergab, den Raum verlassen hatten, wandte er sich an seine Kollegin: »Mir ist zu Ohren gekommen, du bist mit Dr. Simone Becker und dieser Frau Petra Herrmann befreundet. Setzt euch doch mal zusammen und versucht herauszufinden, ob im Zusammenhang mit der SEIDENPLANTAGE vielleicht etwas übersehen worden ist! Vielleicht wäre es auch sinnvoll, unsere Forensische Psychiaterin am Gespräch teilnehmen zu lassen.«

Kapitel 17

Noch vor ein paar Tagen hätten grundlegende Besprechungen nicht ohne den Abteilungsleiter stattgefunden. Ja selbst die Staatsanwältin hätte es sich nicht nehmen lassen, zumindest stille Beobachterin zu sein. Aber die steigenden Infektionszahlen und der angelaufene Lockdown brachten so einige Veränderungen mit sich. Nicht nur Landesväter und internationale Staatsmänner ersetzten direkten Kontakt durch Videokonferenzen. Inzwischen hatte sich diese zugegeben wenig persönliche Form der Kommunikation sehr verbreitet und sich auch im Präsidium etabliert.

Als auf Anordnung vom Abteilungsleiter Tobias Lenz eines Tages plötzlich ein neues Programm auf dem Dienstcomputer vom Köstlbacher installiert wurde und ein zweiter, moderner Monitor mit Touchscreen neben seinem alten Bildschirm stand, wusste der Köstlbacher erst nicht, was das zu bedeuten hatte. Aber die Edith Klein, die dem Jens Homeier von der Technik, der die Installation vorgenommen hatte, nicht von der Seite wich und ihn ununterbrochen belaberte, konnte zum Glück diese Wissenslücke ihres Chefs komplett schließen. In Zukunft würden alle ordentlichen und außerordentlichen Besprechungen mit der Staatsanwältin, dem Abteilungsleiter und ihm, nur noch per Videokonferenz stattfinden. Eine hausinterne Corona-Schutzmaßnahme.

Wer hätte das gedacht, dass der inzwischen 55 Jahre alte Kriminalhauptkommissar, der sich immer nur schlicht mit ›Herr Kommissar‹ anreden ließ, die modernen Möglichkeiten der Kommunikation noch nutzen würde? Er selbst sicherlich am allerwenigsten!

Nach einigen zähen Anläufen, bei denen die Edith Klein nur allzu gerne assistierte, klappte das allerdings inzwischen recht gut. So auch heute, als der Köstlbacher nach der Besprechung mit den Kollegen die bisherigen Ergebnisse in einer Konferenzschaltung mit dem Abteilungsleiter und der Staatsanwältin noch einmal Revue passieren ließ.

»Sorgen macht mir dieser Reporter von der ›Unabhängigen Presse Regensburg‹. Wie hieß er doch gleich?«, fragte der Abteilungsleiter Lenz, nachdem der Köstlbacher sein Statement abgeliefert hatte.

»Rudolf Kamarek«, antwortete der Köstlbacher.

»Rudolf Kamarek? Den kenne ich! Der war maßgeblich an der Organisation der ›Querdenker-Demo‹ am vergangenen Samstag beteiligt«, sagte die Staatsanwältin Dr. Simone Becker und fuhr sich dabei mit einer Hand durch ihre blonden Haare. Eine Bewegung, die sie ganz unbewusst immer dann machte, wenn sie sich aktiv in ein Gespräch einbrachte.

»Als ›Querdenker‹ hat er sich bei mir auch vorgestellt«, meinte der Köstlbacher. »Ich wusste allerdings bis dato nicht, dass es diese ›Unabhängige Presse Regensburg‹ gibt.«

»Die gibt es auch noch nicht lange. Quasi das Sprachrohr der ›Querdenker‹. Dieser Rudolf Kamarek ist ein Wichtigtuer! Aber wenn man ihn richtig behandelt, frisst er einem aus der Hand«, sagte die Staatsanwältin und strich sich dabei erneut durch die Haare. Ihr Blick, den sie dabei aufsetzte, machte, ihr selbst sicherlich unbewusst, deutlich, dass sie bei ihren Worten an etwas Konkretes dachte. Allem Anschein nach an nichts Unangenehmes. Zumindest nicht für sie selbst.

»Mir scheint, Sie verfügen über geeignete Maßnahmen, diesen Kamarek im Zaum zu halten. Würden Sie das übernehmen?«, fragte der Abteilungsleiter, dem natürlich auch nicht entgangen war, dass die Frau Staatsanwältin einen Trumpf in der Hinterhand hatte, der dort allerdings auch bleiben sollte. Mit anderen Worten, sie würde ihn nutzen, aber nicht darüber reden.

»Natürlich! Ich denke, das bekomme ich gebacken!«, antwortete sie, lächelte dabei vielsagend, strich erneut eine Haarlocke mit einer Hand zur Seite und nutze die Gelegenheit zu einer Frage: »Wenn ich einen Wunsch äußern dürfte?«

»Immer zu!«, ermunterte sie der Abteilungsleiter, froh das Problem ›Unabhängige Presse Regensburg‹ in guten Händen zu wissen.

»Ich muss dazu etwas ausholen«, begann Dr. Simone Becker.

»Vermutlich wissen Sie nicht, dass ich in gewisser Hinsicht persönlich in diesen Fall, involviert bin.«

Auch wenn es sich nur um eine Videokonferenz handelte, die Fragezeichen, die sich sowohl im Gesicht vom Köstlbacher als auch in dem vom Tobias Lenz abzeichneten, waren nicht zu übersehen.

»Aha!«, kam es vom Köstlbacher, dem dieser Umstand nicht neu war. Über sein Vorzimmer, dem Klatschzentrum des Präsidiums, war ihm das natürlich schon längst zugetragen worden. Vom Abteilungsleiter kam nichts. Nur sein offener Mund verriet sein Erstaunen.

»Ich erwähne das, weil es irgendwann ohnehin offenkundig werden wird, und ich nicht möchte, dass Sie es von dritter Seite erfahren. Frau Herrmann und ich, wir sind schon seit Kindertagen befreundet.«

»Frau Herrmann wird keiner Straftat beschuldigt!«, reagierte der Köstlbacher als erster. »Insofern sind Sie nicht involviert, weil Sie Frau Herrmann kennen.«

»Ich sagte ja, ›in gewisser Hinsicht‹! Nicht direkt. Allerdings sollten Sie wissen, dass auch Ihre Kollegin Kommissarin Cuscunà mit von der Partie ist.«

»Kommissarin Martina Cuscunà? Was sollte die mit der Sache zu tun haben?« Diesmal war es der Abteilungsleiter, der zuerst reagierte, und der Köstlbacher, der unwissend staunte.

»Sie hat nichts ›mit der Sache zu tun‹. Aber sie ist mit Petra Herrmann und mir befreundet. Ich wollte das nur erwähnt haben. Wir kennen uns seit unseren Kindertagen.«

Der Köstlbacher wartete, ob noch etwas kommen würde. Anders der Abteilungsleiter. Er meinte spontan: »Rechtlich sehe ich da keinerlei Probleme. Frau Herrmann ist Zeugin. Mehr nicht.«

»Rechtlich sehe ich das auch so. Trotzdem versuchen wir natürlich, Martina Cuscunà und ich, Schaden, der sich durch die beiden Morde vor der SEIDENPLANTAGE für das Geschäft unserer Freundin ergeben könnte, fernhalten zu helfen. Insofern stellt sich die Frage, ob wir mit dranbleiben, oder ob ich nicht besser diesen Fall an einen anderen Staatsanwalt abgeben und Frau Cuscunà die Abteilung wechseln sollte?«

Der Köstlbacher war begeistert von dem schauspielerischen Talent der Staatsanwältin. Selbstverständlich zog sie diese Show nur ab, um auf diese Weise ganz von alleine Rückendeckung vom Abteilungsleiter zu bekommen. Der war zwar nicht ihr Vorgesetzter, aber Probleme machen konnte er ihr trotzdem. Der Cuscunà allemal!

Noch bevor der Lenz etwas sagen konnte, warf der Köstlbacher lautstark und vehement ein:

»Kommt nicht infrage! Die Kollegin Cuscunà ist zwar erst wenige Wochen bei uns, aber sie hat was drauf! Da könnte sich so mancher eine Scheibe davon abschneiden. Selbständiges Denken und Entscheiden ist heutzutage nicht mehr so leicht anzutreffen.«

»So gut ist sie? Kann ich das für die anstehende dienstliche Beurteilung übernehmen?«, fragte der Lenz. Dabei zwinkerte er mit einem Auge.

»Mein Bauchgefühl sagt, sie ist noch besser! Wie dem auch sei, wir brauchen die Kollegin Cuscunà. Und eine persönliche Involvierung kann ich nicht erkennen. Nur weil vor einigen Jahrzehnten die Staatsanwältin mit Frau Herrmann im Sandkasten Kuchen backen gespielt hat und inzwischen beide mit unserer Cuscanà befreundet sind.« Bei seiner Begründung musste der Köstlbacher lächeln, weil er sich im Kopf bildlich zwei kleine Mädchen im Sandkasten vorstellte, mit denen er jetzt als erwachsene Frauen zu tun hatte.

»Ich kann dem Kollegen Köstlbacher nur beipflichten. Solange Frau Herrmann nichts angelastet wird, gibt es weder Interessenüberscheidung noch Befangenheit. Und was Ihre Bemühungen betrifft, Schaden, der aufgrund des Falles SEIDENPLANTAGE für das Geschäft Ihrer Freundin Herrmann entstehen könnte, vermeiden zu helfen, dagegen ist nichts einzuwenden! Mit unserer Kollegin Cuscunà verhält es sich ähnlich.«

»So sehe ich das auch!«, pflichtete der Köstlbacher seinem Vorgesetzten bei.

»Nun gut! Natürlich freue ich mich, wenn dieses Problem damit aus der Welt ist. Zur Sicherheit habe ich die Angelegenheit übrigens auch Frau Kranz schon vorgetragen. Unsere zuständige Richterin nahm in ähnlicher Weise Stellung. Heutzutage ist es besser, vorab Dinge zu klären. Im Nachhinein führt das meistens nur zu einem Fressen, auf das sich nur allzu gern die Presse stürzt.«

 

»Die darüber nicht informiert werden muss! Geht sie ja auch absolut nichts an!«, kommentierte der Köstlbacher abschließend. Insgeheim war er froh, dass Monika Kranz von der Staatsanwältin schon informiert worden war. Dass die Richterin letztendlich auch mit im gemeinsamen Sandkasten gesessen hatte, wäre vielleicht sogar dem Köstlbacher zu viel geworden. Aber er musste schließlich nicht alles erfahren.

»Frau Herrmann und Frau Cuscunà wird ein Stein vom Herzen fallen. Wir sahen unsere Freundschaft schon auf einem harten Prüfstein«, ergänzte die Staatsanwältin. Die Erleichterung war ihrer Stimme anzuhören. »Dann geben Sie Gas, lieber Kollege Köstlbacher. Ich hoffe sehr, dass Ihre Bemühungen bald von Erfolg gekrönt werden.«

»Hegen Sie irgendwelche konkreten Bedenken?« fragte der Abteilungsleiter, dem offensichtlich irgendetwas ungereimt vorkam, es aber nicht einordnen konnte. In den fragwürdigen Plan der Dr. Unger hatte ihn bislang immer noch niemand eingeweiht.

»Nein, nein! Ich persönlich bin mir sicher, ein planvoller Mord dominiert unseren Fall SEIDENPLANTAGE. Und mit der Inschrift auf der Tatwaffe will man uns auch auf einen ganz bestimmten Zusammenhang hinweisen. Man wird sehen!«

Mit dieser offiziellen Einschätzung der Staatsanwältin Dr. Simone Becker wurde die Videokonferenz beendet. Weit mehr als der Staatsanwältin und dem Abteilungsleiter, dem es letztendlich nur um eine gute Erfolgsquote seiner Abteilung ging, lag der Fall dem Köstlbacher wie ein steinharter Klos im Bauch. Und das, obwohl er seit Stunden nichts gegessen hatte. Vielleicht aber auch ein wenig genau deswegen.

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