Organisationskultur der katholischen Kirche

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2.1.4 Kirche als komplexe Wirklichkeit

Es waren die Konzilsväter des Zweiten Vatikanums, die in Lumen gentium, der Dogmatischen Konstitution über die Kirche, deren Wesensbestimmung mit der menschlichen Verfasstheit andachten: „Der einzige Mittler Christus hat seine heilige Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfasst und trägt sie als solches unablässig.“108 Im selben Absatz dieses ersten Kapitels der Konstitution, das den Gedanken des Mysteriums der Kirche erläutert, wird jedoch zugleich festgehalten, dass diese eine Kirche Christi aus zwei Elementen zu einer einzigen komplexen Wirklichkeit zusammenwächst; das Konzilsdokument spricht von der Kirche als

(1) der mit hierarchischen Organen ausgestatteten Gesellschaft und dem geheimnisvollen Leib Christi,

(2) der sichtbaren Versammlung und der geistlichen Gemeinschaft,

(3) der irdischen Kirche und der mit himmlischen Gaben beschenkten Kirche, und

(4) einem menschlichen und göttlichen Element (LG 8).

Das Mysterium der Kirche besteht nicht nur in ihrer Verfasstheit durch den „einzigen Mittler Christus“ (LG 8), sondern auch darin, dass diese beiden konstituierenden Größen nicht voneinander getrennt gedacht und isoliert betrachtet werden können, sondern „eine einzige komplexe Wirklichkeit […] bilden, die […] zusammenwächst“.109 In der irdischen Kirche Christi greift Gott nach dem Menschen und dieser streckt sich in der sichtbaren Gemeinschaft, gebettet in der Konkretheit von Raum und Zeit, nach dem göttlichen Element.

Die Konzilsväter sprechen nicht davon, dass das menschliche und das göttliche Element bereits zu der von ihnen „komplex“ genannten Realität zusammengewachsen sind, sondern dass sich diese im Status des Zusammenwachsens befinden, d.h. sich durch Raum und Zeit bewegen. Menschliche Gemeinschaften, also Organisationen oder – im umfassenden Sinn – Kulturen, die aufgehört haben sich zu bewegen und zu wachsen oder ihren Willen sich weiter zu entwickeln, nicht mehr artikulieren können oder wollen, sind dem Untergang nahe.110 Die Analogie dieser organisationspsychologischen Prämisse, die für weltliche Institutionen und hier vor allem für profit-orientierte Produktions- oder Dienstleistungsunternehmen längst Allgemeingut geworden ist,111 wird später auch für der Kirche zugeordnete Institutionen und die Kirche selbst beleuchtet und hinterfragt werden müssen.

Bischöfe und Theologen des Zweiten Vatikanums streichen in diesem Zusammenhang noch eine „nicht unbedeutende Analogie“ (LG 8) mit der komplexen Wirklichkeit der menschlichen und göttlichen Kirchenelemente heraus: So wie Jesus Christus als einziger Mittler zwischen Gott und der Welt den ganzen Leib seiner Kirche zusammenfügt und in jedem einzelnen Gelenk mit der ihm zugemessenen Kraft festigt, „so wächst der Leib und wird in Liebe aufgebaut“ (Eph 4,16). Somit stellen die Konzilsväter die Ähnlichkeit beider Strukturen und Sachverhalte fest: das Mysterium des fleischgewordenen Wortes (Joh 1,14): „Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes.“112

Es ist also der Geist des Herrn selbst, der die komplexe kirchliche Wirklichkeit der menschlichen und göttlichen Elemente lebendig macht und sie wachsen lässt. Als verflochtene Realität ist die Kirche in dieser Welt jedoch weder ein Apparat113, eine soziale Institution oder mit den Worten von Papst Franziskus eine NGO114, auch wenn sie sich bisweilen in solchen Rollen verfängt, noch die societas perfecta, die in ihren apologetischen Ansätzen bis in das 20. Jahrhundert hinein über alles Menschliche erhaben zu sein schien und sich gegenüber dem im Zweiten Vatikanum ansetzenden sakramentalen und kommunionalen Ekklesiologieverständnis noch nicht geöffnet hatte.115

2.1.5 Kirche als homogene oder heterogene Organisation

Mit einem Blick zurück auf die frühe Kirche scheint das Nizäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis mit den Worten „Wir glauben […] an […] die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“116 eine Antwort auf die Frage nach der Einheitlichkeit und Gleichhaftigkeit oder der Unterschiedlichkeit der einen Kirche in ihrer weltlichen Wesenhaftigkeit zu geben. Auch die Konzilsväter betonen in der Kirchenkonstitution, dass die Kirche der Menschen hier auf Erden mit ihren hierarchischen Strukturen und die Kirche der Menschen hier auf Erden, über die Gott seine Gnaden ausgießt, nicht zwei unterschiedliche Organisationen seien, sondern „eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (LG 8). Wenn aber über Kirche von Zusammenwachsen ihrer irdischen und himmlischen Wesenheit gesprochen wird, scheint sich doch zunächst eine zumindest gewisse Heterogenität zu bestätigen.

Mit Recht stellt sich demnach die Frage, ob nicht auch noch im Zweiten Vatikanum eine bestimmte duale Einteilung der weltlichen Wirklichkeit mitschwingt, die ihre Dämonisierung durch den Sündenfall im Paradies auch durch den Erlösungstod Jesu am Kreuz noch nicht wirklich überwunden hat. Die Verführung des Menschen, hier auf Erden in „Gut und Böse“ zu denken, scheint auch in der Erklärung der Konzilsväter von der Kirche als Komplexität Widerhall gefunden zu haben. Ist er nicht das Haupt dieser Kirche und sind nicht wir alle ihre Glieder? (Kol 1,18) Heiligt nicht das Haupt den ganzen Leib? Kann es angedacht sein, dass das Haupt den Gliedern des Leibes in einer komplexen Dualität gegenübersteht? Ist der in der Taufe Geweihte ein „Kind Gottes“, der jedoch, der in der Taufe noch nicht zum Priester, König und Propheten gesalbt wurde, ein „Kind des Satans?“117

Die Komplexität einer verschuldeten oder unverschuldeten Situation mag von manchem Seelsorger als Entschuldigung aufgefasst werden, ein pastorales Gespräch abzukürzen oder sogar zu beenden. Die Zusage Gottes, die er Mose gegeben hat, bleibt aber auch in der Kirche des Neuen Bundes aufrecht: Ich bleibe bei dir (Ex 3,14). Damit weicht die Komplexität des Ich-hier und Dudort und wird zur Schnittstelle einer persönlichen Beziehung zwischen Gott und dem Menschen. Mitgliedschaft in der Kirche setzt die Dualität von Heiligem und Unheiligem oder Profanem außer Kraft. Die Verbannung des Kirchenbildes in die Sphäre einer sichtbar streitenden und damit einer oft sich auseinanderlebenden irdischen Versammlung wird dem Willen genauso wenig gerecht wie ein vergoldetes Kirchenbild, das den Schmutz der mit menschlichen Fehlern gepflasterten Straßen vermeidet (EG 49).

Ein Blick in den kirchlichen Alltag zeigt, dass manche Gruppierungen die „komplexe Wirklichkeit“ strapazieren und andere wieder aus ihr fliehen wollen. Beide Lager hängen einem Dualismus einer unheiligen weltlichen Versammlung und eines heiligen himmlischen Festmahls an, eines Kirchenbildes, das die Konzilsväter weder gedacht noch beabsichtigt hatten. So negieren die einen die göttliche Wirklichkeit in der menschlichen Gestalt der Kirche und beharren in ihrer Auffassung, dass allem, was auf kirchlichem Boden geschieht, Heiligkeit anhaften muss, so als hätte Jahwe nicht aus einem elenden Dornbusch auf dem staubigen Wüstenboden zu Mose gesprochen, sondern in einem der ägyptischen Tempel. Christliche Überheblichkeit kann der kirchlichen Gemeinschaft genauso wie politische Intoleranz dem Leben der Gesellschaft zur Gefahr werden. Überall dort, wo beispielsweise Bischöfe die universelle Kirche und Bischofskollegen in anderen Ortskirchen zu kritisieren beginnen118, zerfällt die von den Vätern des Zweiten Vatikanums gemeinte „komplexe Wirklichkeit“ der einen Kirche, wird dem Bischofskollegium aber auch als Ganzes seine apostolische Nachfolge abgesprochen.

Andrerseits begegnet man im kirchlichen Zusammenleben auch Gruppen, die die „komplexe Wirklichkeit“ der Kirche aufs Äußerste herausfordern und die Komplexität dafür verantwortlich machen, dass eben göttliche und menschliche Aspekte in der Kirche ihre eigenen, aber nicht gemeinsamen Wege gehen. Papst Benedikt XVI. erinnert mit seiner Aufforderung an „das missionarische Zeugnis der Entweltlichung der Kirche“ daran, dass der religiöse Mensch das Heilige vor dem Profanen schützen möge.119 In Evangelii gaudium wird ein klares Nein zu einer „spirituellen Weltlichkeit“ gesprochen, die „anstatt die Ehre des Herrn die menschliche Ehre und das persönliche Wohlergehen zu suchen“ (EG 93) strebt.

Beide päpstlichen Aussagen sprechen sich nicht für eine Aufsplittung der Kirche in untadelig heilige und menschlich fehlerhafte Räume aus, die es nicht gibt. Gott ist in jedem ihrer Räume zuhause und scheut die Nähe zum Menschen nicht, er sucht sie deshalb, um ihm „Weg, Wahrheit und Leben“ zu sein (Joh 14,6). Und wenn dennoch dunkle Räume in der Kirche existieren, dann haben die getauften Menschen selbst die Lichter ausgedreht und sie dunkel gemacht.120 Wahrscheinlich war die Gefahr in der Geschichte der Kirche niemals zu leugnen, sie in unserem vom Platonismus beeinflussten (nicht befruchteten) allgemeinen religiösen Denken als „dual“ zu denken und das Leben in und außerhalb von ihr danach zu gestalten. Die Kirche ist nicht in göttliche und nichtgöttliche Bezirke geteilt, nicht in fane und profane Räume getrennt, nicht in heilige und unheilige Wirklichkeiten gespalten. Selbst an ihren Rändern ist Kirche nicht aggressiv von Nicht-Kirche getrennt.

Wenn in dieser Studie von Kirche gesprochen wird, ist sie als eine (homogene) von Gott gewollte Kirche gedacht, in der der Herr das Haupt ist und die Getauften der Leib sind, als eine Communio, die mit seiner Begleitung auf dem Pilgerweg ins Reich des Vaters unterwegs ist. So wie es keinen Ort ohne Gottes Gegenwart121 gibt, gibt es auch nach Gottes Willen keine menschliche Communio, in der er nicht anwesend wäre. Mit anderen Worten: Der Herr hat in seiner, in ihm und durch ihn und mit ihm begnadeten Kirche sein immer wieder schwächelndes Geschöpf, den fehlerhaften Menschen „miteinkalkuliert“.

 

2.1.6 Kirche, Gottes Kraft in menschlicher Schwäche

Es war zunächst Karl Rahner (1904-1984), der schon 1947 in einem später veröffentlichten Vortrag die „Kirche der Sünder“ angesprochen hat.122 Am Beginn seiner Rede erwähnt er die Tatsache, dass sich die katholische Dogmatik meist nur am Rand mit diesem Thema beschäftige, um dann gleich hinzuzufügen: „Es gibt auch wirklich über die Kirche viel Wichtigeres und Herrlicheres zu sagen.“123 Aber Rahner ist sich auch schon Jahrzehnte vor der eigentlichen Aufdeckung massiver, vor allem sexueller und kirchliche Macht missbrauchender Verfehlungen von Seelsorgern und kirchlichen Mitarbeitern klar darüber, dass diese Tatsache im kirchlichen Leben zur alltäglichen Erfahrung geworden ist.124

Die Sündhaftigkeit der Kirche liegt auch in der Tatsache verborgen, dass sie sich bisweilen zu stolz wähnt, für ihre menschlichen Aktivitäten, die ihr als sichtbare Gemeinschaft (LG 8) obliegen, Hilfe von der säkularen Welt zu akzeptieren. Im Kapitel 40 von Gaudium et spes erinnern die Konzilsväter an „die gegenseitige Beziehung von Kirche und Welt“: „Zugleich ist sie [die Kirche] der festen Überzeugung, daß sie selbst von der Welt, sei es von einzelnen Menschen, sei es von der menschlichen Gesellschaft, durch deren Möglichkeiten und Bemühungen viele und mannigfache Hilfe zur Wegbereitung für das Evangelium erfahren kann.“ (GS 40)

Hugo Rahner (1900–1968) spricht einige Jahre vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil von der Kirche als „Gottes Kraft in menschlicher Schwäche“125 und beginnt diesen im Jahr 1957 veröffentlichten Aufsatz mit Worten, die den heutigen Theologen, vor allem nach den schmerzhaften Erfahrungen sexueller Missbrauchsfälle in den letzten Jahrzehnten, wahrscheinlich nicht mehr so unbekümmert über ihre Lippen kämen:126

Die katholische Kirche ist ein Haus voll Glorie, weit über alle Lande dieser Erdenwelt. Wir rühmen sie, weil wir sie lieben. Denn sie ist die heimliche Königin der Menschengeschichte. Schon aus der Urzeit der Kirche in deutschen Landen klingt ihr Lobpreis: ‚Gebenedeit sei die Kirche in der Kraft des Herrn, denn durch sie hat Gott die Gewalt des Bösen vernichtet. Gebenedeit sei sie, denn ihr Glaube und ihr Gottesdienst herrschen königlich über den Erdkreis. Und nie soll verstummen auf den Lippen der Menschen der Lobpreis der Kirche.

Von diesem Bild der societas perfecta, dem die Staatstheorie von Aristoteles und Thomas von Aquin zugrunde liegt, verabschiedete sich das Zweite Vatikanum,127 das die Kirche sakramental und kommunional als pilgerndes Volk Gottes, Leib Christi und Tempel des Heiligen Geistes gesehen hat (LG 17).

Die nach innen und nach außen hin wirkenden Fehlschritte der sündigen Kirche als der in der Welt „sichtbaren Versammlung“ (LG 8) halten Gott jedoch nicht davon ab, sie in seiner Liebe weiterzutragen. Denn er „hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen eigenen Sohn hingab“ (Joh 3,16). Es ist die eigene Schwachheit, der sich der Apostel Paulus rühmt (2 Kor 11,39).

Hugo Rahners poetische Sprache klingt schon wie die der Konzilsväter des Zweiten Vatikanums: Er spricht von der Mutter Kirche (LG 14; 15; 41; 42), die geliebt ist in ihrer ganzen Gebrechlichkeit, denn „Gottes Gewalt vollendet sich in der Schwäche“ (2Kor 12,9). Gerade in den Zeiten der Bedrängnis und der Verfolgung. Ihr Pulsschlag ist der Pulsschlag der Getauften. Ihre Hoffnung ist die aller Schwestern und Brüder. Ihr Glaube ist der Glaube des Gottesvolkes. Ihre Liebe ist die Liebe der Glieder des einen Leibes. Das pochende Herz der Mutter Kirche ist das Herz ihrer Kinder, die die nüchternen Fakten der statistischen Klagelieder aus Europa und Nordamerika ununterbrochen wiederholen ohne über ihre eigene Metanoia, ihr eigenes Umdenken nachzudenken: Die Zahlen der Kirchenaustritte steigen von Jahr zu Jahr, in den meisten Diözesen herrscht pastoraler Personalnotstand, Finanzen reichen vorne und hinten nicht mehr aus, obwohl die Kirchenbeiträge sowohl in Deutschland als auch in Österreich noch immer wachsen, Strukturen entsprechen nicht mehr den pastoralen und sozialen Anforderungen von heute, Kirchengebäude und -besitz müssen verkauft werden, um morgen am Leben erhalten zu können, was gestern geboren wurde.

Viele Analysen dieser pfingst-fernen Klagelieder bleiben an der Oberfläche haften. Sie suchen zwar nach Gründen der Misere, finden sie auch, aber immer im Anderen und anderen: in der Kirchensteuer, in den Skandalen in und um Priesterseminare, in der Unvollkommenheit von Bischöfen und Priestern, in der Unbeweglichkeit der Gläubigen und im Unverständnis derer, die den Geruch des Schafstalls nicht ertragen zu können meinen (EG 24).

Und doch sind Getaufte und Nicht-Getaufte, ob sie gemeinsam beten und arbeiten oder auch nicht, immer wieder von der Kirche Jesu Christi fasziniert. Denn:

Die Kirche ist durch sich selbst ein unwiderlegliches Zeugnis ihrer göttlichen Sendung, kraft ihrer hervorragenden Heiligkeit und ihrer unerschöpflichen Fruchtbarkeit in allem Guten. Sie ist das unter den Völkern aufgerichtete Zeichen, das alle einlädt, die noch nicht glauben.128

Daraus folgert Hugo Rahner:129

Das ist wahr. Das ist ewige Wahrheit. Aber wenn nur einer von draußen kommt und sagt: Zeige sie mir, diese Una Sancta, hier und heute, in deiner Familie, in deiner Stadt, in Deutschland, in Rom, in Südamerika, auf dem Weltrund? Seien wir ehrlich mit unserer Antwort.

So die fragenden Worte Hugo Rahners vor mehr als einem halben Jahrhundert, der dann Augustinus mit der Frage nach dem fragwürdigen Verhalten so mancher Christen zu Wort kommen lässt:130

Stellen wir heute neben das hehre Wort des Konzils [und damit meinte Rahner das Tridentinische Konzil] einmal ein anderes Wort – Augustinus hat es der Kirche in den Mund gelegt, Augustinus, der glühende Liebhaber der Catholica Mater: ‚Die mir schon nahe standen, um zu glauben, wurden abgeschreckt durch das Leben der schlechten und falschen Christen. Wie viele nämlich, meine Brüder, glaubt ihr, möchten gerne Christen sein, aber sie werden beleidigt von den üblen Sitten der Christen.‘131

Nicht die Kirchensteuer ist es ursächlich, die Schafe ihren Stall verlassen lässt. Nicht der Skandal ist es ursächlich, der Schafe die Flucht ergreifen lässt. Der Grund ist jener, der sich Christ nennt, der nicht glaubwürdig genug sein Christsein lebt und andere erleben lässt. Die Erneuerung der Kirche beginnt nicht im Pfarrgemeinderat oder im Ordinariat oder im Vatikan, sondern bei dem Menschen, der den Namen Christi trägt, d.h. bei jedem Getauften; eine Forderung, die in der Verkündigung zwar immer wieder betont wird, aber bisweilen nicht gehört werden will.

Hugo Rahner sagt über unsere Kirche, dass sie immer beides ist: „Kraft und Schwäche, Glorie und Verächtlichkeit, sie ist Herrin und Magd, thronende Königin und arme Pilgerin. Das ist eine Glaubenstatsache.“ Und Rahner fügt hinzu: „Kirchenglorie muss schon auf Erden sein, Kirchenschwäche muss ausgeduldet, geheilt, ja bekämpft werden.“132

Die Kirche ist aber auch Glaubensprüfung. „Es ist wahr“, meint Hugo Rahner: „Die Kirche ist, auch hienieden schon Herrin, und wenn unser Auge nicht blöde ist und gehalten, sehen wir in gnadenvollen Stunden den Goldglanz ihres Wesens durch die Risse ihres elenden Pilgergewandes schimmern.“133 Augustinus meint: „Wer sind denn diese Christen? Wie sind diese Christen? Geizkragen, Geschäftemacher sind sie. Sind es nicht die Christen, die das Theater und den Zirkus füllen, die gleichen, die an Festtagen die Kirche füllen?“134 Papst Franziskus hat in seinem vorweihnachtlichen Treffen mit der vatikanischen Kurie ähnlich harte Worte verwendet, allerdings nicht wie Augustinus als Frage gestellt. Franziskus spricht von fünfzehn Krankheiten und sieht dabei den Kardinälen in die Augen135: „die Krankheit, sich für unsterblich oder unverzichtbar zu halten … die Krankheit des exzessiven Tätigseins … die Krankheit der ‚mentalen und spirituellen Versteinerung‘ … die Krankheit der exzessiven Planung … die Krankheit der schlechten Koordinierung … die Krankheit des ‚geistlichen Alzheimers‘ … die Krankheit der Rivalität und der Eitelkeit … die Krankheit der existentiellen Schizophrenie … die Krankheit des Geschwätzes und des Klatsches … die Krankheit, die Oberen zu vergöttlichen … die Krankheit der Gleichgültigkeit gegenüber den anderen … die Krankheit des ‚Gesichts wie bei einer Beerdigung„ … die Krankheit des Anhäufens materieller Güter … die Krankheit der geschlossenen Kreise und der Zugehörigkeit zu Grüppchen … die Krankheit des weltlichen Profits, des Exhibitionismus“.

In ihrer Direktheit könnten diese Worte wohl nicht von Hugo Rahner stammen, der eine noble, vornehme, weniger direkte und eher poetische Sprache auf den Lippen hatte. Und doch könnte Rahner mit uns selbst „irre an der Kirche oder kirchenmüde [werden], weil ihr irdisches Erscheinungsbild so armselig ist“.136 Er fragt sich, ob nicht viele der Kirchenglieder (und dabei spricht er von wir) Armselige, Sonntagkatholiken, Taufscheinversicherte, Gelegenheitsfromme, bequem gewordene Hirten seien, die das Bild der Catholica verzerren und verdunkeln:137

Weil wir so sind, darum ist die Kirche für viele, die draußen stehen, Glaubensprüfung, vielleicht oft Glaubenshindernis, und für viele, die drinnen sind (für uns selbst oft) billige Entschuldigung dafür, dass wir heimlich eben das tun, was wir an der Kirche so messerscharf zu tadeln wissen.138

Diese Kirche, die sich draußen auf den Straßen immer wieder schmutzig macht (EG 49), „ist aber auch unsere Glaubensfreude. Nicht nur, obwohl sie schwach ist, sondern weil sie schwach ist. Wir schämen uns ihrer nicht, weil es an ihr noch so viel beschämende Dinge gibt.“139 Gesagt und niedergeschrieben von einem Jesuiten vor mehr als einem halben Jahrhundert, am Beginn jener kirchengeschichtlichen Epoche – so darf man heute wohl schon sagen –, in der das im 19. und 20. Jahrhundert geformte Kirchenbild überdacht und seiner pianischen Übertünchung entledigt wurde. Papst Franziskus nimmt in seinen Worten die Gedanken seiner Vorgänger seit Johannes XXIII. auf, entkleidet sie ihrer heutigen Unverständlichkeit und übersetzt sie in eine sprachliche Vertrautheit, mit der auch ein Nicht-Theologe durchs Leben gehen kann: Er spricht von den Schuhen, die beim Dienst am Menschen auf den Straßen schmutzig werden können.

Hugo Rahner geht es keineswegs primär um das Richtig oder Falsch oder die Angemessenheit oder die Widersinnigkeit kirchlicher Strukturen, sondern um die Gestaltung des Wie in der Communio, die immer beim Einzelnen verortet sein muss. Die Klagen der Kirche am Herzen ihres Hauptes über eine immer leerer werdende Kirche müssen von den Getauften zuallererst mit einem mea culpa beantwortet werden. Diese Einstellung kann in diesem Kontext wohl christliche Spiritualität genannt werden. Eine Spiritualität, die aus der menschlichen Unruhe geboren ist, bis sie in seinem Herzen Geborgenheit findet.140

Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Sündhaftigkeit der Kirche intensiv diskutiert, wie Kardinal Karl Lehmann in seinem Vorwort zu Karl Rahners 1947 gehaltenem und 2011 wieder publizierten Vortrag über die „Kirche der Sünder“141 erinnert. Lehmann weist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Rede des ersten Bischofs von Eisenstadt Stefan László hin, der am Beginn seiner bemerkenswerter Konzilsrede daran erinnert, dass „die Lehre von der Kirche ihre eschatologische Ausrichtung“ nicht vergessen sollte.142 In anderen Worten: Das Volk Gottes pilgert durch Zeit und Raum und verkündet in der Auferstehung des Herrn aller Menschen eigene Auferweckung (1Kor 11,16). Bischof László spricht keiner pilgernden Gruppe des Gottesvolkes den ernsten Willen ab, dem Weg des Herrn zu folgen, aber seine realistische Situationsanalyse weist auf die menschliche Schwäche des Abweichens von dem Weg Christi hin: „Es [das Volk Gottes] will treu sein, wird aber immer wieder untreu erfunden, [denn] die konkrete Kirche [ist] sehr verschieden […] von der, welche die Theologen und Prediger beschreiben.“143

 

Bischof László fordert in seinem kurzen Statement Ehrlichkeit von den Konzilsteilnehmern, nicht nur die „triumphalistisch[e] und heuchlerisch[e] Kirche“ zu sehen, sondern mit Blick auf ihre Pilgerschaft auch „immer von einer Ekklesiologie des Kreuzes“144 auszugehen. Denn „die Kirche ist in der Welt, aber die Welt ist auch in der Kirche, und der Ort des Kampfes zwischen der Gnade und der Sünde ist das Herz des Menschen.“145 Damit apostrophiert der österreichische Bischof die Verantwortlichkeit jedes einzelnen Getauften für die Heiligkeit der Kirche, die ja – wie oben erwähnt – immer Subjekt und Objekt dieser Welt ist. Die Kirche der Heiligen ist zugleich auch Kirche der Sünder hier auf Erden, denn die alleinig heilige Kirche hat ihren irdischen Weg bereits vollendet und ihr Ziel bereits erreicht. Seine realistische Sicht der sündigen heiligen Kirche fasst Bischof László abschließend in vier Punkten zusammen:146

(1) Die heilige Kirche mit ihrer Hierarchie ist auch eine sündige Kirche.

(2) Die Kirche muss sowohl als Einheit als auch als pilgernde Kirche mit einer Distanz zwischen Weg und Ziel gesehen werden.

(3) „Es muss ausdrücklich gesagt werden, daß die Kirche immer wieder reformiert werden muss, wie der Papst [Paul VI.] in seiner Ansprache vom 22. September dieses Jahres [1965] gesagt hat: ‚jene stete Reform, die die Kirche selbst als menschliche und irdische Institution dauernd nötig hat“‘.147

(4) Die Kirche hat auch „ein ausdrückliches Bekenntnis der Mitverantwortung und Mitschuld unserer Kirche an der Spaltung der Kirche“148 abzugeben.

Wenn in Bezug auf die Sündhaftigkeit der Kirche an Worte und Gedanken der beiden Brüder Hugo und Karl Rahner und des Bischofs Stefan László aus dem Burgenland erinnert wird, so muss nicht gleich an sexuellen Missbrauch kirchlicher Mitarbeiter aller hierarchischen Ebenen gedacht werden. Dieser hat erst seit den 1990er Jahren weltweit größere Aufmerksamkeit in den Medien und der Öffentlichkeit hervorgerufen. Der „sündige Mensch vor der heiligen Kirche der Sünder“149 hat sie, die heilige irdische Kirche als „Platzhalterin des heiligen Gottes in der Welt“150, in allen Bereichen ihres Denkens, Sprechens, Handelns und Unterlassens, also in allen Bereichen der sichtbaren Versammlung (LG 8) immer wieder verdunkelt. Dabei stehen strukturelle Fragen nicht im Vordergrund, vielmehr sind diese Konsequenzen ihrer Kultur, d.h. der Gesamtheit von Werten und Verhaltensnormen, die in der kirchlichen Gemeinschaft gelebt werden und die diese Gemeinschaft folglich auch in dem, was sie nach innen und außen hin denkt, redet und tut, beeinflussen.

Die Attraktivität der Kirche Jesu Christi beruht nicht auf einer vorgetäuschten populistischen Fehlerlosigkeit ihrer Mitglieder, vielmehr auf ihrer prophetischen Sendung, die die Welt aufwecken soll und das „Zeugen eines anderen Handelns“ verlangt.151 In seiner Ansprache an rund 120 Generalobere katholischer Männerorden Ende November 2013 fokussiert Papst Franziskus nicht auf die unterschiedlichen, bisweilen heute nicht mehr zeitgerechten Strukturen ihrer Gemeinschaften, sondern greift das Thema des Handelns des sündigenden Menschen auf, dem allerdings die Gnade zur Seite steht:152

Das Leben ist komplex und besteht aus Gnade und Sünde. Wenn jemand nicht sündigt, ist er nicht Mensch. Wir alle irren und müssen unsere Schwächen anerkennen.

Zwar waren sich schon die Kirchenväter wie Augustinus über die Kirche als corpus permixtum bewusst153, doch es waren erst das Zweite Vatikanische Konzil und die letzten Päpste, die den kirclichen Triumphalismus aus dem kirchlichen Vokabular – nicht immer erfolgreich – zu streichen begannen. Seitdem kann im kirchlichen Dialog auch von Strukturen der Sünde gesprochen werden, was jedoch keineswegs mit „sündigen Strukturen in der Kirche“ gleichzusetzen ist.154

2.1.7 Das Kirchenbild von Papst Franziskus

Schon vor dem Konklave hat Kardinal Bergoglio seine Stimme in der Generalkongregation erhoben und sein Verständnis über eine auf den Menschen zugehende und einladende Kirche artikuliert. Viele Kardinäle waren von den Einsichten Bergoglios beeindruckt, einer von ihnen, Kardinal Jaime Ortega, Erzbischof von Havanna, bat ihn um das Manuskript, das allerdings nicht existierte, weil es ganz spontane Gedanken waren, die der Erzbischof von Buenos Aires im Vorkonklave im Kreis der anderen Kardinäle geäußert hatte. Bergoglio „rekonstruierte“ seine kurze Rede über Nacht und gestattete Kardinal Ortega, diese auch zu veröffentlichen.155

In der Kirche muss eine mutige Freiheit der Rede vorausgesetzt werden, damit sie sich nicht „im Geist des theologischen Narzissmus“ um sich selbst dreht und so nicht aus sich selbst herausgehen kann. Auch vier Jahre nach dem Beginn seines Pontifikats ist von seiner Überzeugung der freien Meinungsäußerung kein noch so kleiner Abstrich zu bemerken. Im Gegenteil, besonders eher traditionelle kirchliche Kreise kritisieren den Stil der offenen Rede innerhalb des Bischofskollegiums genauso wie die oft sehr spontanen Äußerungen, Bonmots und „flapsigen Bemerkungen“156 von Franziskus. Der emeritierte Kardinal Francis George von Chicago drückt die Einzigartigkeit des Papstes mit den Worten „He is free“ aus und macht ihn so ohne Zweifel zu einem „Hoffnungsträger für viele Menschen in unterschiedlichen Welten und Kulturen“.157

Im Vorkonklave erwähnt Kardinal Bergoglio Jesus, der vor der Türe steht und anklopft (Offb 3,20), aber er meint auch, dass Jesus oft ebenso „von innen klopft“, weil er aus der „egozentrischen Kirche […] nach außen treten“ möchte. Eine solche Kirche dreht sich um sich selbst und meint, dass sie selbst Licht ist. Dieses „schreckliche Übel“ nennt der Kardinal „geistliche Mondänität“ in einer Kirche, in der „die einen die anderen beweihräuchern“.158 Danach spricht er ganz kurz über das Anforderungsprofil des nächsten Papstes, zu dem er einige Tage später selbst gewählt wurde:159

Was den nächsten Papst angeht: (Es soll ein Mann sein) der aus der Betrachtung Jesu Christi und aus der Anbetung Jesu Christi der Kirche hilft, an die existentiellen Enden der Erde zu gehen, der ihr hilft, die fruchtbare Mutter zu sein, die aus der ‚süßen und tröstenden Freude der Verkündigung‘ lebt.

Abschließend stellt Kardinal Bergoglio die zwei gegensätzlichen Kirchenbilder gegenüber und lässt keinen Zweifel daran, welchen Weg er für den einzig gangbaren hält: „die verkündende Kirche, die aus sich selbst herausgeht, die das ‚Wort Gottes ehrfürchtig vernimmt und getreu verkündet‘, und die mondäne Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt“. Dem in die Zukunft blickenden Kardinal ging es im Vorkonklave nicht um seine Person, sondern um Veränderungen und Reformen in der Kirche mit dem klaren Ziel der „Rettung der Seelen“.160

Das Antlitz der Kirche, wie es den Konzilsvätern in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts aufgeleuchtet hat, das dann jedoch immer mehr verblasste, hat sich mit der Wahl von Jorge Mario Kardinal Bergoglio am 13. Februar 2013 schlagartig geändert. Im Scheinwerferlicht der kirchennahen und kirchenkritischen Medien tritt sie nicht mehr unbedingt als triumphale Kirche auf, sondern als Kirche der Bescheidenheit, Einfachheit und Transparenz; als Kirche mit der pastoralen Fähigkeit, Menschen an die Hand zu nehmen und sie auf dem gemeinsamen Weg zu begleiten; als Kirche mit der Fähigkeit und dem Willen, Menschen und nicht nur Katholiken zuzuhören; als Kirche, die arm sein möchte unter Armen; als Kirche des einen Gottes, der ein Gott der Überraschungen ist.161 Manche Medienstimmen bezeugen Papst Franziskus auch, dass er uns die Kirche zurückgebracht hätte,162 und meinen damit offensichtlich, dass wir nach so einigen Ab-, Um- und Irrwegen in den vergangenen 2000 Jahren die ursprüngliche Vision Jesu und seiner jungen Kirche wieder entdecken dürfen, ohne sich allerdings auf diesem Weg zurück zu den Quellen in einen kirchen-zentrischen Kokon zurückzuziehen.