Organisationskultur der katholischen Kirche

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2 Begriffliche Interpretation und Fokussierung

Um eine wissenschaftlich wertende Aussage über das Thema der Organisationskultur der Kirche zu machen, bedarf es einer Analyse beider Begriffe, jedoch keiner detaillierten pastoral-theologischen oder kulturanthropologischen Ekklesiologie und auch keiner unternehmens-theoretischen oder organisationsmethodischen Aufarbeitung des Kulturbegriffs. Um das Thema „Organisationskultur der Kirche“ glaubhaft ansprechen und organisationswissenschaftlich und theologisch aufbereiten zu können, ist eine Annäherung an beide Begriffe allerdings nicht ohne professionelle Betrachtung des Themas möglich, speziell in einer Zeit, in der beide Begriffe bisweilen verwaschen, heterogen oder etwa mit Vorurteilen belastet verwendet werden. Dies schließt eine notwendige Klarstellung mit ein, die Begriffe „Kultur und Organisationskultur“ im praktischtheologischen Kontext – auch mit Hilfe von Bildern aus der kirchlichen Praxis – verständlich zu artikulieren. Zunächst jedoch stellt sich die Frage, welcher „Kirche“ und damit welcher Organisationskultur hier nachgegangen werden soll: Welches Kirchenbild liegt den Gedanken über die Organisationskultur zugrunde und welcher organisatorische Kirchenbegriff bildet den Hintergrund der Überlegungen: die Weltkirche, Rom, der Vatikan, die Ortskirche(n), die Diözese, Pfarre oder Gemeinde …?

2.1 Von welcher Kirche ist die Rede?

In der Hinführung zum Thema „Organisationskultur der Kirche“ ist schon zum Ausdruck gekommen, dass die Ortskirche im Kleinen theologisch und speziell ekklesiologisch nicht von der katholischen, also universalen Kirche – und umgekehrt – getrennt gedacht werden kann und darf. Folglich wäre es auch nicht angebracht, von einer Subkultur beispielsweise einer Diözese zu sprechen, ohne einen Blick auf die Organisationskultur der globalen Kirche zu werfen oder die in der Heiligen Schrift begründeten Denk-, Verhaltens- und Handlungsmuster einer missionarischen Weltkirche im praktisch-theologischen Leerraum stehen zu lassen, ohne Beispiele und Ereignisse aus dem täglichen Leben christlicher Gemeinden als Zeichen der Zeit zu Wort kommen zu lassen und im Licht des Evangeliums (GS 4) zu interpretieren.

Die Kirchengeschichte sieht stets mit einem Auge auf das sich ständig ändernde gesellschaftlich-kulturelle Umfeld der Gemeinde, das ja ihre Organisation ohne Zweifel sowohl strukturell als auch kulturell beeinflusst und mit formt. Solche unterschiedlichen Einflüsse werden beispielsweise schon in der Apostelgeschichte in den Gemeinden von Jerusalem, Judäa, Samarien oder Antiochia sichtbar.

Es leuchtet ein, dass eine konkret-praktische Analyse der Organisationskultur der Kirche in dieser Forschungsarbeit natürlich nicht auf globaler Ebene und über alle Zeithorizonte hinweg machbar ist; und so werden nach der systematisch- und praktisch-theologischen Erarbeitung des heutigen Kirchenbildes vor allem die Kulturen zweier diözesaner Ortskirchen72 analysiert, freilich ohne sie miteinander in einem quasi Wettbewerb zu vergleichen und aufzuwägen, sie jedoch an den Erwartungen und Forderungen Jesu zu messen, die vor allem in den Schriften des Neuen Testaments sichtbar werden.

2.1.1 Kirche als Missionsauftrag Jesu

Weil die Frage nach der Organisationskultur auf allen hierarchischen Ebenen der Kirche nur auf einem pastoralen Verständnis vom verantwortlichen Hirten und der Nahrung suchenden Herde aufgebaut sein kann, ist sie im Kern auch eine Frage ihres Hinausgehens auf die Straßen dieser Welt (EG 49), d.h. eine Frage nach dem Verständnis ihrer missionarischen Tätigkeit.

Der indische Theologe und Jesuit George M. Soares-Prabhu SJ (1929–1995) beschäftigte sich in seinem Werk „Biblical Themes for a Contextual Theology Today“ vor allem mit der missionarischen Sendung des Christentums in seinem Land und fordert in verständlicher Weise heraus, nicht nur einen Satz aus der Heiligen Schrift herauszulösen und sein Leben danach auszurichten, sondern den biblischen Kontext zu erfassen und daraus authentische Fundamentsteine für das Leben als Christen in dieser Welt zu formen.

Der „Große Sendungsauftrag“ am Ende des Matthäusevangeliums „… geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie …“ (Mt 28,16-20) ist seit zweitausend Jahren Christentum der grundlegende und richtungsweisende Text für die missionarische Kirche. Nicht wenige evangelikale Bewegungen – und bis in die heutige Zeit herauf auch die eine oder andere Hauptkirche – haben diese von Jesus überlieferten und von Matthäus zusammengefügten Bibelworte in eine aggressive Missionstätigkeit übersetzt. Um diesen „großen“ Sendungsauftrag richtig auslegen zu können, muss er kontextuell mit einem anderen Sendungsauftrag gelesen und verstanden werden, und zwar mit den Worten in Mt 5,13-16 vom Licht der Welt und vom Salz der Erde. Während beispielsweise die englische Jerusalem-Bibel mit einem „must“ – ihr müsst – den Auftrag Jesu klarer zur Sprache bringt, verwenden sowohl die Luther-Bibel als auch die Einheitsübersetzung in diesem Kontext das weichere ‚soll‘: „So soll euer Licht vor den Menschen leuchten …“ (Mt 5,16). Dieser „kleineren Version“ des Sendungsauftrags Jesu, den Matthäus an einem wichtigen Punkt in die Bergpredigt einfügt, wird in der missionarischen Arbeit kaum Bedeutung beigemessen: Es geht meistens um den „Großen Sendungsauftrag“ (Mt 28,16-20), dessen Sinn allerdings durch ein Eintauchen in den Text von Mt 5,13-16 ein ganz anderes, ja sogar neues Verständnis wachrufen kann.73

Mt 28,16-20 wird von Exegeten oft Jesus direkt in den Mund gelegt, ist aber nach den neuesten Erkenntnissen eine redaktionelle Meisterleistung des Evangelisten, der darin die christologischen (v.18), ekklesiologischen (v.19-20a) und eschatologischen Fäden (v.20b) zu einem missionarischen Leitfaden zusammenknüpft74:

1. Christus ist der, dem „alle Macht gegeben [ist] im Himmel und auf der Erde“ (v.18).

2. Die Taufe aller Menschen aller Völker im Namen des dreieinigen Gottes beinhaltet auch eine klare Ansage an die Nachfolge Jesu (v.19-20a) in der kirchlichen Gemeinschaft.

3. Und zuletzt verspricht Jesus denen, die ihm folgen, dass er „alle Tag bis zum Ende der Welt“ bei ihnen ist; nicht sein oder bleiben wird, sondern ist (v.20b).

Dieser „Große Sendungsauftrag“ liegt der missionarischen Tätigkeit vieler Jahrhunderte zugrunde. Und er kann und soll es auch bleiben, solange die Jünger des Herrn nicht meinen, jene zu ihrem Glück zwingen zu müssen, die vom Geist Jesu noch nicht ergriffen sind. Unter diesen Vorzeichen wird Mission nicht zur Frohen Botschaft, sondern zum Gesetz.

Eine triumphale Kirche, die mit einem oft aggressiven oder neokolonialen Gehabe in die Welt hinausgeht und Zivilisation, Demokratie und Wohlstand verspricht, wurde in den letzten Jahrhunderten zu Recht mit Eroberern gleichgesetzt und als solche abgelehnt.75 Ein Blick auf eine andere Stelle des Matthäus-Evangeliums, nämlich Mt 5,13-16, kann das Verständnis von Mission und Evangelisation korrigieren, ohne den „Großen Sendungsauftrag“ zu entthronen. Diese Stelle wird oft sehr stiefmütterlich behandelt: Sie setzt den Sendungsauftrag Jesu „… geht … macht … tauft … lehrt“ nicht außer Kraft, sondern ergänzt ihn. Die Worte in Mt 5,1316 beschreiben die missionarische Sendung weniger im Sinn verbaler Verkündigung als im Sinn des Zeugnisgebens. Papst Franziskus nimmt diesen Gedanken auf, wenn er in Evangelii gaudium auf das pastorale Anforderungsprofil des Missionars hinweist: „Jesus sucht Verkünder des Evangeliums, welche die Frohe Botschaft nicht nur mit Worten verkünden, sondern vor allem mit einem Leben, das in der Gegenwart Gottes verwandelt wurde.“ (EG 249) Zweifellos ist diese Aufforderung zum missionarischen Zeugnis für das Reich Gottes nicht auf einen bestimmten Kontinent oder ein bestimmtes Land beschränkt. Die Verse in Mt 5,13-16 sind Teil der Bergpredigt und zielen auf ein Verständnis einer integralen Mission, in der die Verkündigung der Worte Jesu erst durch das Zeugnis glaubwürdig wird:

Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr; es wird weggeworfen und von den Leuten zertreten. Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

Diese Worte der Orientierung für die Jünger, die Jesus nachfolgen, sind der verbindende Text zwischen der Eröffnung der Bergpredigt, d.h. den eigentlichen Seligpreisungen (Mt 5,2-12) und der Zusammenfassung seiner Rede in IchForm: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um […] Ich bin nicht gekommen, um […] Amen, das sage ich euch: […] Darum sage ich euch: […]“ (Mt 5,17-20). Während die Seligpreisungen eine Art Ouvertüre zu dem darstellen, was das Leben eines Christen beinhalten soll, erläutern die Ich-Worte Jesu den Zweck seiner Rede. Der eigentliche Sendungsauftrag, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein (vgl. Mt 5,13-16), fokussiert auf der missionarischen Orientierung des Lebens der Jünger Jesu, durch die die Welt erlöst wird. Die Seligpreisungen (Mt 5,3-12a) zeigen an, wie das christliche Leben gelebt werden soll, die Worte Jesu in Ich-Form (Mt 5,17-20), was er unter der Erfüllung des Gesetzes versteht, und der eigentliche Sendungsauftrag (Mt 5,13-16), weshalb christliches Leben für die Erlösung der Welt wesentlich ist76.

 

Für Soares-Prabhu, den indischen Theologen aus dem Jesuitenorden, sind die von Jesus verwendeten Bilder von Salz und Licht offene Symbole, die in ihrer Bedeutung nicht unbedingt starr festgeschrieben sind. Salz kann das Gericht schmackhafter machen, Salz kann jedoch auch die Suppe versalzen. In der Natur schenkt Licht die Fähigkeit des Wachsens und kann die Leistungsfähigkeit des arbeitenden Menschen erhöhen, Licht kann jedoch auch blenden und das Sehvermögen zerstören. Diese beiden Bilder im Matthäus-Evangelium müssen also im Kontext der Rede Jesu verstanden werden, denn sie beschreiben ja nicht das exakte Verhalten der Jünger, die folgen. Für Soares-Prabhu ist es denkbar, dass der Evangelist in seiner Textkomposition gar nicht auf eine spezifische christliche Haltung anspielt, sondern simpel und einfach auf die unverzichtbare Rolle der Jünger bei der Erlösung der Welt hinweisen möchte. Wenn Jesus vom Salz der Erde und Licht der Welt spricht, geht es ihm um das Wie – wie die missionarische Rolle seine Anhänger in der Heilsgeschichte Gottes aussehen muss: „So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,16). In ihrer gemeinsamen Sorge um das Reich Gottes geht es primär und vornehmlich nicht um Worte, sondern um das lebendige Beispiel und das glaubhafte Zeugnis aller Getauften.

Damit treffen die von Matthäus aufgezeichneten Worte auf die verkürzte Definition dessen, was Inhalt dieser Studie „Kultur der Kirche“ sein möchte: das Wie oder die Art und Weise, wie die Communio des gesamten Volkes Gottes auf ihr Ziel, die Verherrlichung des Vaters durch die Teilnahme am himmlischen Festmahl, zugeht (Lk 14,15-24; Mt 22,1-14; Offb 19,9). „Denn christliches Leben im Alltag richtig zu leben bedeutet schon Mission; die Bergpredigt, die die Konturen christlichen Lebens umreißt, wird zu einer Strategie für die missionarische Sendung!“77 Mit Blick auf das Organisationsmodell der Kirche mit seinen drei Dimensionen wären somit ihre Strategie die Worte der Bergpredigt; ihre Struktur die vom Geist Gottes inspirierte Hierarchie des Gottesvolks hier auf Erden; und ihre (Organisations-)Kultur die Art und Weise, wie die Gläubigen die „guten Werke“ (Mt 5,16) im alltäglichen Denken und Tun in und für die Kirche leben. Einer Zurschaustellung der Frömmigkeit seiner Jünger erteilt Jesus eine harsche Absage: „Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler […]“ (Mt 6,5).

2.1.2 Die Zeitlosigkeit des Sendungsauftrags

Die Bedeutung von Mt 5,13-16 für das Leben der Jünger in der Communio kann somit in fünf Gedanken zusammengefasst werden, die – ohne schon auf eine Analyse organisationskultureller Dimensionen vorweggreifen zu wollen78 – als Fundament des „Sendungsverhaltens“ des Volkes Gottes interpretiert werden können:79

(1) Die Worte der Bergpredigt sind nicht an eine spezifische Gruppe unter den Jüngern Jesu gerichtet, sondern an das ganze Volk, mit dem er in Raum und Zeit unterwegs ist. Alle Getauften sind seine Jünger, was auch bedeutet, dass seine Anhänger nicht bloß eine Sammlung von Individuen sind, die ihm folgen, sondern eine „Kirche“ (Mt 16,18), d.h. eine Gemeinde (Mt 18,17). Diese, nicht ein einzelner Jünger, soll Salz der Erde und Licht der Welt sein, damit sie Gott verherrliche. Die „guten Werke“ (Mt 5,16), die Jesus in seiner Predigt auf dem Berg als Umsetzung der selbstlosen Liebe christlichen Lebens darstellt, sollen von der ganzen Gemeinschaft der Kirche sichtbar gemacht werden – und „nicht bloß von einer Mutter Teresa“, wie Soares-Prabhu im sozialen Kontext seines Heimatlandes erläutert.80 Eine Gemeinschaft erlangt ihre Authentizität nicht allein durch das Bekenntnis ihres Glaubens an Jesus, sondern wesentlich durch ihr glaubhaftes Tun, bei dem es darum geht „den Willen [… des] Vaters im Himmel“ (vgl. Mt 7,21) zu erfüllen, wie es Jesus in der Bergpredigt formuliert.

(2) Das wirkliche Fundament des Sendungsauftrags Jesu ist das, was die Kirche durch ihr eigenes Leben und ihre Praxis der Welt weitergibt. Wenn die Gemeinschaft durch ihr Leben nicht mehr Zeugnis ablegen kann für das, wofür sie von Jesus ins Leben gerufen wurde, nämlich Salzgehalt und alles erhellendes Licht für die Welt zu sein, dann wird sie zum Club oder zu einer wohltätigen Non Governmental Organization (NGO).81 Mission bedeutet die Weitergabe oder Kommunikation des eigentlichen Lebens, das ganz spontan aus dem zeugnisgebenden Leben der Gemeinde hervorbricht. Analog zu einer medizinischen Infektion spricht Soares-Prabhu von einer Infektion82, die christliches Leben nur dann weiterreichen kann, wenn es zuerst ohne Überheblichkeit (Mt 7,5; 15,7) in der christlichen Gemeinschaft glaubhaft gelebt wird. Wie kann von einer missionarischen Kirche die Rede sein, wenn in einer Pfarre – und auch in der vatikanischen Kurie – Verleumdung, Lüge und Verachtung den Alltag bestimmen?83 Wie kann eine Diözese ihrem pastoralen Auftrag nachkommen, wenn sie sich nur selbst verwaltet, ihre Leuchtkraft nach außen hin allerdings verloren hat? Wo bleiben Menschenwürde und christliche Achtung für das Anderssein, wenn unter dem Missionsauftrag Jesu, also unter dem Wachsen der Kirche nur mehr der quantitative Zuwachs an Christen verstanden wird? Wo findet sich Jesu Präsenz in solchen Gemeinden, die nicht mehr vom Geist erfüllt und geführt werden, sondern von einer Selbst-Reproduktion infiziert sind?84

(3) Die Verkündigung des Reiches Gottes durch das gesprochene Wort hat in manchen Epochen, Situationen und Bereichen der Kirchengeschichte Oberhand gewonnen über das zeugenhafte Leben der ganzen Communio. Weil die westliche Christenheit mehr den Worten mancher Prediger geglaubt hat und weniger das Abbild Jesu im Zusammenleben der Gemeinden sehen wollte, ist die Kirche vor allem von den jüngeren Generationen heute mehr denn je mit der berechtigten Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit konfrontiert. Mit einem Hinweis auf seine Herkunft ruft der Theologe Soares-Prabhu Worte Mahatma Gandhis über „das Evangelium der Rose“ in Erinnerung. Der Hindu-Staatsmann scheute nicht vor klaren Worten für die Christen in Indien zurück: „Ich würde zuallererst vorschlagen, dass ihr Christen, Missionare und alle, beginnen müsst, mehr wie Jesus Christus selbst zu leben.“85 Gandhi ermahnte die Christen immer wieder, dem missionarischen Auftrag Jesu gerecht zu werden: „Sprecht nicht darüber. Die Rose hat ihren Duft nicht zu propagieren. Sie verbreitet ihn einfach und Menschen fühlen sich von ihm angezogen. Sprecht nicht darüber. Lebt ihn [den Duft]. Und die Menschen werden kommen, um die Quelle eurer Kraft zu entdecken.”86

(4) Die ehrlich und ernst gemeinte Mission der Kirche, die aus ihrer Lebenspraxis fließt, wie sie in der Bergpredigt übermittelt wird, zeigt dem pilgernden Volk den Weg, Gott zu loben und zu preisen (Mt 5,16). Das bedeutet nichts Geringeres, als dass alles Denken und Tun der Jünger Jesu in und für die Kirche, das nicht zur größeren Ehre Gottes führt und Gott in allen Dingen findet,87 unterlassen werden muss: sowohl im persönlichen Leben als auch im Gottesdienst, sowohl in der kleinen Gemeinde als auch in der Universalkirche, sowohl in der Pfarrkanzlei einer kleinen Landpfarre als auch in den prunkvollen Büros der vatikanischen Dikasterien. Dieser Sendungsauftrag ist zu tiefst theozentrisch, nicht ekklesiozentrisch, und auch nicht christozentrisch, wie der Missionsauftrag in Mt 28,19-20 formuliert ist. Die höchste Verwirklichung der Ehre Gottes ist letztlich das Reich Gottes, das damit auch zum letzten Ziel der missionarischen und damit pastoralen Aktivitäten in der Kirche wird. Diese evangelisierenden Tätigkeiten der Kirche und die, die ihn ihrem Namen gesetzt werden, schließen alles kirchliche Tun mit ein, wieweit dieses auch administrativer oder „säkularer“ Natur sein mag. Das Ziel der missionarischen Orientierung kann es somit nicht sein, Kirche im eigenen Umfeld zu pflanzen oder in andere Gesellschaften und Kulturen zu verpflanzen, auch nicht die Welt für Christus zu erobern oder das Wachstum der Kirche voranzutreiben, sondern „vielmehr die Geschichte zu ihrer Vollendung in der vollen Verwirklichung des Reiches Gottes“ zu führen.88

(5) Die theozentrische Sicht des Sendungsauftrags der Kirche kann für die heute in der industrialisierten Welt des Westens durch endlose interne Skandale in Frage gestellte Kirche eine Chance sein, ihren missionarischen Weg der Evangelisierung mithilfe des pastoralen Kompasses einer Überprüfung zu unterziehen. Der immer bunter werdenden religiösen Gestaltung des säkularen Alltagsszenarios in Europa und Nord-Amerika mag heute der Fokus auf den Schöpfergott mehr bedeuten als der Blick auf die Kirche mit ihren oft unglaubwürdigen und verlogenen Strukturen.89 Die Kirche hier auf Erden ist nicht Ziel des Menschen, vielmehr ist sie mit Jesus als ihrem Haupt der Weg, und niemand kommt zum Ziel, seinem und unserem Vater, außer durch Ihn (vgl. Joh 14,6). Unsere Tage hier auf Erden sind ausgerichtet auf Gott, der alles in allem ist (Röm 11,36; 1Kor 8,6). Wenn immer Klerus oder „Laien“ in ihrem Denken und Tun an den Kirchentoren haltmachen, als wären sie dort schon zuhause, verherrlichen oder verhimmeln sie die Kirche, die ein Symbol ist und eine Dienerin des Reiches Gottes, aber nicht das Reich Gottes selbst ist. Damit aber hätten sie die überwältigende Realität Gottes verloren.90

Die Betrachtung der Kultur der Kirche, die nach innen und nach außen hin strahlt, wird sich somit sowohl auf die kleinste kirchliche Einheit einer Gemeinde oder Pfarre, sowie auf die jeweilige Ortskirche, aber auch auf die universelle Kirche beziehen müssen. Denn, gleichgültig ob örtlich eingegrenzte Pfarre oder bischöfliche Ortskirche, sind sie Teile der universalen Kirche, die wieder nicht ohne diese in Christus gegründet ist. Den missionarischen Auftrag, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein, können weder die Ortskirchen ohne die Weltkirche noch die Weltkirche ohne Ortskirchen erfüllen. Die Teilkirchen sind nach dem Bild der universalen Kirche gestaltet (LG 23) und „in ihnen und aus ihnen besteht die eine und einzige katholische Kirche“.91

In globalen Wirtschaftskonzernen werden sich deren regionale Tochterunternehmen in ihren Organisationsstrukturen und -kulturen oft von denen „ihrer Mutter“ signifikant unterscheiden. Betrachtet man jedoch beispielsweise Ortskirchen in Europa oder Afrika, sind bei diesen trotz kultureller Unterschiede im weitesten Sinn des Wortes die Grenzen viel enger gezogen. Einfach deshalb, weil sowohl Ortskirchen als auch die universale Kirche gemeinsam nur ein einziges Haupt haben, Jesus Christus (vgl. Kol 1,18), und sie beide deshalb nicht ohne die jeweils andere auf ihrem Pilgerweg unterwegs sein können.

2.1.3 Unterwegs als Volk Gottes

Beginnend im frühen Christentum und mit den alten Kirchenvätern haben sich unterschiedliche, oft im Alten Testament verwurzelte Bilder der Kirche entwickelt,92 die das Leben ihrer Mitglieder sowohl in der Familie als auch in ihrem bäuerlichen Alltag begleitet haben: Leib Christi (1Kor 12,12-27; Kol 1,27), Volk Gottes (2Kor 6,16; Offb 21,3), Stadt Gottes (Offb 3,12; 20,9; 21,23), Reich Gottes (Joh 3,3.5), Herde Gottes (Apg 20,28; 1Petr 5,2; vgl. auch Jes 40,11; Ez 34,11-22), Schafstall mit Christus als einzige und notwendige Türe (Joh 10,110), Pflanzung, Ackerfeld Gottes und Bau Gottes (1Kor 3,9), Weingarten (Mt 21,33-43; vgl. Jes 5,1-7), Weinstock (Joh 15,1-5), Haus Gottes (1Tim 3,15), Wohnung und Zelt Gottes unter den Menschen (Eph 2,22; Offb 21,2), Familie Gottes (Eph 2,19), Zelt Gottes unter den Menschen (Offb 21,3), Tempel Gottes (1Kor 3,16.17; 2Kor 6,16; Eph 2,21), Frau mit der Sonne bekleidet (Offb 12), Braut Christi (Off 21,2.9).

Alle diese neutestamentlichen Bilder oder Symbole für die Kirche können letztlich das Mysterium der Kirche nicht zur Gänze in ihrer vielfältigen Wirklichkeit beschreiben. Sie stehen auch „nicht im Gegensatz zueinander, sie sind auch nicht austauschbar und können sich nicht ersetzen“.93 Was jedoch auffällt, ist der dynamische Charakter, der in den meisten dieser Symbole zum Ausdruck kommt und ein Wesensmerkmal dieser lebensnahen Bilder ist: das Wachstum des menschlichen Leibes, der Pflanzen auf dem Acker und im Weinberg; das Haus, das zunächst gebaut, dann aber ständig gepflegt werden muss; die Schafherde, die tagsüber auf der Weide nach Nahrung sucht und sich abends in ihren Stall zurückzieht; die Gemeinschaft der Familie, in der sich Frau und Mann in Liebe finden, um darin gemeinsam zu wohnen und Kindern das Leben zu schenken; das Volk Gottes, das auf oft staubigen Straßen zum himmlischen Jerusalem unterwegs ist. Diese symbolischen Bilder der Kirche entbehren jeder räumlichen und zeitlichen Statik, sie demonstrieren existenznotwendige Veränderung, Wandel, Bewegung, Entwicklung und Wachsen sowohl im sozialstrukturellen als auch im kulturellen Zusammenleben der Kirche als Communio.

 

Beispielshaft soll hier mit den biblischen Gedanken von Walter Kardinal Kasper der dynamische Wandel im Symbol der Kirche als Volk Gottes, einem der am meisten verwendeten, jedoch nicht selten auch einseitig interpretierten Kirchenbilder, beleuchtet werden.94

Der griechische Text des Neuen Testaments verwendet für das Volk Gottes den heilsgeschichtlichen Begriff λαóς und nicht den soziologischvölkischen Begriff δῆµoς, der auch die Wurzel für das Wort „Demokratie“ bildet; λαóς ist auch nicht einfach das Volk, sondern das von Gott auserwählte und begleitete Volk, ganz im Unterschied zu έθvoι, den heidnischen Völkern.

Gott ruft Abraham: „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen“ (Gen 12,1-3). Mit dieser Aufforderung hat Gott eine Dynamik stellvertretend in die Sippe Abrahams gelegt, die alle Völker dieser Erde berührt bis zur eschatologischen Zielerreichung im himmlischen Jerusalem.

Am brennenden Dornbusch verheißt Gott Mose, dass er der ist, der da ist für das Volk und mit dem Volk ist (Ex 13,14). Im Laufe der Geschichte wird Gott seinem Versprechen treu bleiben, auch in Zeiten der Untreue seines Volkes. Gott weitet seine Verheißung und seine Liebe für sein Volk sogar aus: Die Propheten verkünden, dass Gottes Treue zu seinem Volk nicht nur für das Hier und Jetzt gilt, sondern diese ungebrochen in alle Zukunft reichen und universal sein wird. Jahwes Bund mit seinem Volk sprengt alle Zeiten (Jer 7,23; 24,7; 31,33; 32,36-44; Ez 11,20; 14,11) und alle Räume (Sach 2,14-15). Damit bettet Gott seine Beziehung zu seinem Volk in eine immerwährende Dynamik, die die räumliche und zeitliche Wirklichkeit offen hält „für eine größere und umfassendere Erfüllung“.95

Im Neuen Testament wird die alttestamentliche Bezeichnung „Volk Gottes“ für die Kirche angewandt (Apg 15,14; 18,10; Röm 9,25-26; 2Kor 6,16 u.a.), jedoch nicht mit λαóς, sondern mit ἐκκλησία τοῦ θεοῦ übersetzt. In der Taufe werden alle Menschen, auch wenn sie nicht „sein Volk“ waren, Teil des auserwählten Volkes Gottes (1Petr 2,9-10), womit die universale Verheißung Gottes an Abraham Wirklichkeit wird, deren Erben allerdings nicht die Getauften sind, sondern Christus selbst. Paulus spricht nämlich in seinem Brief an die Galater nicht von „den“ Erben der Verheißung, sondern von dem „einen“ Erben, der Jesus Christus ist (Gal 3,16). Und damit wird die eschatologisch begründete Volk-Gottes-Ekklesiologie christologisch fundiert.

Die Kirche ist auf unsicheren Straßen der Welt unterwegs zum sicheren Ort, dem „Land seiner Ruhe“ (Hebr 4,1-11). Das bedeutet für sie, stets der ihr aufgrund ihres Pilgerns auf den staubigen Straßen der Welt anhaftenden Bedrohung bewusst zu sein und nach der ewigen Sabbatruhe Ausschau zu halten. Das heißt auch, dass die Kirche als sich durch Raum und Zeit bewegendes Volk Gottes immer wieder den Staub der Welt aus ihrem Antlitz wischen und abschütteln muss, um ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Die Kirchengeschichte hat und zeigt bis heute immer wieder Zeichen dafür, dass ihr Blick durch den Staub dieser Welt getrübt sein kann, sie in dieser Situation jedoch niemals allein gelassen ist, denn auf dem geschichtlichen Weg des Volkes Gottes begleitet sie Jesus Christus als ihr Haupt: „Er ist das Haupt des Leibes, der Leib aber ist die Kirche“ (Kol 1,18). Die Volk-Gottes-Ekklesiologie widerspricht also nicht der Leib-Christi-Ekklesiologie, sondern setzt diese voraus. Walter Kasper präzisiert, dass „man nicht sagen [kann], die Kirche sei der gegenwärtige und weiterwirkende Christus und die Fortsetzung der Inkarnation. Richtiger muss man sagen, Christus sei in der Kirche wirksam gegenwärtig.“96 Wäre sie der inkarnierte Jesus Christus selbst, würde sie keine „Kirche der Sünder“97 sein und daher keiner Veränderung, keines Wandels, keiner Umkehr, keiner Läuterung bedürfen. Jesus Christus gibt seiner Kirche die Sicherheit, dass sie sich auf ihrem Weg durch Zeit und Raum nie hoffnungslos verirren kann; er ist ihre Orientierung und führt sie immer wieder auf den richtigen Weg zu ihrem Ziel, dem himmlischen Jerusalem.

In den vier Jahrhunderten zwischen dem Konzil von Trient (1545–1563) und dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) betonte die katholische Lehre, ausgelöst auch durch die reformatorische Ablehnung der Begriffe „Kirche“ und „Volk Gottes“ durch Martin Luther,98 vor allem das Wesen der Kirche als „Leib Christi“.

Im Zweiten Vatikanum haben die Konzilsväter im Unterschied, allerdings nicht im Gegensatz zur vor-konziliaren Wesensbestimmung der Kirche als Leib Christi99 in Lumen gentium von der Kirche als messianisches Volk Gottes gesprochen (LG 9-12), dessen Haupt Christus ist (LG 9). Damit wollte vor allem betont werden, dass die Rettung des Menschen durch Christus „nicht einzeln, unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung“ geschehe, sondern „als Gemeinschaft, nämlich als Volk Gottes“.100 Diesem Kirchenbild trat in den Jahren nach dem Konzil vor allem die europäische Theologie mit einem gewissen Argwohn entgegen, weil dahinter „eine einseitige soziologische, politologische, basisbezogene Ekklesiologie“101 vermutet werden konnte. Für Papst Franziskus, der aus einem ganz anderen kirchlichen Milieu und mit – von der europäischen Kirche unterschiedlichen – Erfahrungen in das Petrusamt gewählt wurde, ist das Bild der Kirche als pilgerndes Volk Gottes für die Pastoral viel praktischer und konkreter verständlich.102 Die universale Offenheit gegenüber den älteren Geschwistern der jüdischen Religion103 und die Volk-Gottes-Ekklesiologie als „Einordnung der Kirche ins Ganze der Menschheitsgeschichte“104 sind keine neuen Gedanken, hat doch schon Augustinus von der ecclesia ab Abel iusto105 gesprochen.

Auch wenn es mit einem flüchtigen Blick auf die angestrebte Öffnung der Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil so erschiene, wie die postkonziliaren Nachwehen bisweilen vermuten ließen, basiert die eschatologischchristologische Ekklesiologie des Gottesvolkes im biblischen λαός (Volk, Leute) und nicht im soziologischen, politischen oder völkischen Begriff δῆμος (Volk, Abteilung, Gefolgschaft), den manche Kreise als Fundament für eine „strukturelle“ Demokratisierung der kirchlichen Gemeinschaft ins Feld führen möchten. Es kann nicht übersehen werden, dass sich viele – auch innerkirchliche – Kreise immer wieder mit Strukturfragen der Kirche herumschlagen, das theologische Fundament der inneren Umkehr jedoch hintanstellen. Walter Kasper hat für diesen Irrweg des pilgernden Volkes Gottes klare Worte:106

Wir beschäftigen uns viel zu sehr mit uns selbst und bilden uns ein, dass die Menschen daran vor allem interessiert sind. Das ist eine große Selbsttäuschung. Die Menschen fragen, wenn sie religiös interessiert sind, nicht in erster Linie nach der Kirche, sie fragen nach Gott. Nach der Kirche fragen sie insofern, als in ihr etwas von der Wirklichkeit Gottes aufstrahlt und die Kirche ihnen dazu etwas zu sagen hat.

Glaubhaft wird der notwendige Wandel der Kirche nur durch eine kulturelle Neuorientierung angestoßen werden können, nicht aber durch nie enden wollende Diskussionen um ihre Strukturen. Diese sind Folgen der heutigen Situation der Kirche, nicht aber Grund und Ursprung der zunehmenden Kirchenferne. Nur dann, wenn die Kirche eine Weggemeinschaft ist, „die im Glauben und im Lob Gottes gemeinsam zum himmlischen Jerusalem unterwegs ist“,107 wird Kirche authentisch Kirche sein können.