Organisationskultur der katholischen Kirche

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Erst im letzten Artikel des ersten Kapitels der Pastoralkonstitution kommen die Konzilsväter auf Christus, den neuen Menschen zu sprechen, „in dem allein ‚sich das Geheimnis des Menschen wahrhaft aufklärt„ (GS 22), freilich in das Geheimnis Gottes hinein.“29 Das verlangt von jedem einzelnen Christen und jedem menschlichen Kollektiv, das sich christlich nennt, die unbedingte Nachfolge Christi.

1.5.3 Pastoral-biblische Arbeitsinitiativen

Wie und auf welche Weise die Kirche Jesu Christi als Communio auf ihrem Pilgerweg ans Ziel gelangt, d.h. auf welchen Glaubenswerten und Wertvorstellungen sie dahinschreitet und welche Denk-, Verhaltens- und Handlungsweisen sie daraus adaptiert, kann nicht ohne Konsultation des Lebens Jesu geschehen, das von authentischen Zeugen im Neuen Testament tradiert wird.

„Jesus verkündete das Reich Gottes und gekommen ist die Kirche.“30 Die Hermeneutik dieser von zeitkritischen Kreisen der katholischen Kirche heute gerne argumentativ verwendeten Worte des französischen Priesters und Theologen Alfred Loisy (1857–1940) kann in zwei kontroverse Richtungen deuten. So wird diese Aussage einerseits dahin interpretiert, dass die Wirklichkeit des von Jesus verkündeten Reiches Gottes von sozial-kirchlichen und somit menschlichen, bewussten und unbewussten Struktur- und Kulturelementen im Laufe der zweitausendjährigen Kirchengeschichte überlagert wurde. Andrerseits – und das war wohl die ursprüngliche Intention31 des gewiss hierarchie-kritischen Modernisten-Theologen Loisy – sah dieser „in der Umwandlung der Reichshoffnung zur Kirche einen legitimen geschichtlichen Vorgang“.32 Diese Worte antizipieren gleichsam die vom Zweiten Vatikanischen Konzil in der Kirchenkonstitution formulierte Ekklesiologie: „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (LG 8). Was der Theologe offen kritisierte, war das Nachahmen oder sogar das Kopieren weltlicher Macht- und Regierungsstrukturen durch die Kirche Jesu Christi.33

Der Fokus dieser Arbeit wird die Kirche, beziehungsweise werden Teilorganisationen dieser Kirche, als „die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft“, also „die sichtbare Versammlung“ (LG 8) sein, deren Betrachtung und Analyse jedoch „die geistliche Gemeinschaft“, nämlich „die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche“ (LG 8) mit ihrem jesuanischen Sendungsauftrag miteinschließen und mitdenken muss. Da die Kirche jedoch nicht diese Welt bedeutet, sondern „sie [die Gläubigen] in dieser Welt auch den Tempel Gottes errichten können“ (GS 21), bedarf es einer authentischen Übersetzung des in der menschlichen Welt Werte-vollen für die Kirche und in diese Kirche hinein, denn „… diese Gemeinschaft [der Kirche erfährt] sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden“ (GS 1).

Die Erkenntnis der Bischöfe und Theologen des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass die Welt mit ihren wahren Werten Lehrmeisterin der Kirche Jesu Christi sein kann, macht der kirchenzentrierten Sicht des 19. und 20. Jahrhunderts ein Ende:

Mit großer Achtung blickt das Konzil auf alles Wahre, Gute und Gerechte, das sich die Menschheit in den verschiedenen Institutionen geschaffen hat und immer neu schafft. Es erklärt auch, dass die Kirche alle diese Einrichtungen unterstützen und fördern will, soweit es von ihr abhängt und sich mit ihrer Sendung vereinbaren lässt (GS 42).

Wenn Hugo Rahner seine Rede „am hohen Festtag der deutschen Katholiken“ im Jahr 1956, also sechs Jahre vor dem Beginn des Zweiten Vatikanums, mit dem markanten Satz beginnt „Die katholische Kirche ist ein Haus voll Glorie, weit über alle Lande dieser Erdenwelt“34, schimmert in diesen Worten noch die über alles erhabene und petrifizierte Kirche der Vergangenheit durch, die von der Welt nur Negatives, aber nichts Positives lernen kann.35 Aber schon im Titel dieser später publizierten Ansprache klingt die Realität an: „Die Kirche, Gottes Kraft in menschlicher Schwäche“36, ein Gedanke, den Hugo Rahner dann mit den Worten konkretisiert: „Die heilige Kirche Gottes ist in Kraft ihrer Nachbildung des Herrenleibes hienieden immer beides: Kraft und Schwäche, Glorie und Verächtlichkeit, sie ist Herrin und Magd, thronende Königin und arme Pilgerin.“37

Es ist einerseits die göttliche Communio, die geistliche Gemeinschaft, die die Kirche mit himmlischen Gaben der Kraft und Glorie beschenkt, und es sind andrerseits das sichtbare hierarchische Gefüge und das organisatorische Gesamtbild hier auf Erden, welche sie, nämlich die aufgrund dieser göttlichen Geschenke geliebte Kirche, in ihrem Denken, Handeln und Zusammenleben bisweilen schwach und verächtlich erscheinen lassen (LG 8). Als Arbeitsinitiativen mit vorläufigem Charakter und ohne Anspruch auf letztgültige Vollständigkeit sollen sechs Bilder aus dem Neuen Testament und somit aus den pastoralen Worten Jesu selbst auf das authentische Leben, also auf den getreuen Kern des Lebens, und wohlgemerkt nicht auf die Struktur der Kirche verweisen. Menschliche Zusammenarbeit in der Kirche und somit pastorale Ausrichtung des Sendungsauftrags Jesu (Mt 28,19) haben ihr Fundament in seinen Worten und Taten, was strikte bedeutet, dass Taten und Worte der Kirche heute, wenn sie glaubwürdig gelebt werden wollen, die Taten und Worte Jesu widerspiegeln müssen.

Fragen nach der „richtigen“ Organisationskultur und Antworten darauf müssen in allen Facetten „auf dem Niveau des Evangeliums“38 gestellt und formuliert werden. Es ist Überzeugung der christlichen Kirchen, dass sich Gott der ganzen Menschheit räumlich und zeitlich in der Geburt, dem Leben, dem Leiden, dem Tod und dem neuen Leben der Person Jesus geoffenbart hat. Seine Jüngerinnen und Jünger schrieben das Leben ihres Rabbi und ihr Zusammenleben mit ihm nieder, um ihren apostolischen Nachfolgern in ihrer missionarischen Sendung das Erbe Jesu authentisch weiterzureichen. Allerdings ist die Heilige Schrift keine Enzyklopädie für Argumente, wie viele evangelikale oder fundamentalistische kirchliche Gemeinschaften es gerne sehen wollen.39 Die Bibel ist eine Art Roadmap für eine Nachfolge Jesu, die nicht nur Aufgabe des einzelnen „Heiligen“ ist (Röm 16,2; 1 Kor 1,2; Eph 4,3;5,3; Hebr 13,24), wie die ersten Christen genannt wurden, sondern des ganzen Volkes Gottes, das durch Raum und Zeit zum Vater im neuen Jerusalem unterwegs ist (Offb 3,12; 21,10).

Im Folgenden sollen sechs neutestamentliche Meilensteine organisationskultureller Werte und Verhaltensweisen exemplarisch erläutert werden, die Jesus denen beispielhaft mit auf den Weg geben will, die seine Nachfolge ernst nehmen. Diese biblischen Highlights nehmen Bezug auf die im 5. Kapitel dargelegten Dimensionen einer Organisationskultur: Steuerung, Kommunikation, Leistung, Vertrauen, Wachstum und Identität.

Steuerung – die Verwandlung der geschockten Jünger

Nach der Verurteilung durch den Hohen Rat der Juden und der Kreuzigung Jesu durch die römische Besatzungsmacht vor den Toren Jerusalems schien für seine Freunde der Traum eines gemeinsamen Wegs zu Ende gegangen zu sein. Jesus hatte die Frohe Botschaft von der Barmherzigkeit seines Vaters nicht auf die Frommen und die im sozialen Scheinwerferlicht angesiedelten Juden eingeschränkt, sondern auch die am Rand der Gesellschaft Stehenden angesprochen: Aussätzige und Sünder, Dirnen und Zöllner. Dieses Szenario war für die Jünger Jesu unerträglich und sie alle ergriffen die Flucht (Mk 14,15). Sie waren schockiert, ratlos und am Boden zerstört: „Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde“ (Lk 24,21). Dann aber stand er wieder inmitten seiner Jünger, die ihm einen Fisch zu essen gaben (Lk 24,42). Und er begann mit ihnen über das zu sprechen, was mit ihm in Jerusalem geschehen war. Ihre geöffneten Augen (Lk 24,45) waren Voraussetzung dafür, sie zu Zeugen seines neuen Lebens zu machen und sie auf den Weg zu schicken, allen Völkern die Umkehr zu predigen (Lk 24,45-47).

Nach der Dramatik der Tage in Jerusalem war die Eigeninitiative der Jünger auf null gesunken. Sie verschanzten sich hinter verschlossenen Türen (Joh 20,24-29), bis ihr wieder lebender Freund die Initiative übernahm. Die letzten Worte Jesu, die Johannes in seinem Evangelium berichtete, sind an Petrus gerichtet: „Du aber folge mir nach!“ (Joh 20,22). Damit war es klar, welche Aufgabe Jesus ihm und allen seinen Jüngern übertrug. Sie sollten seine Initiative weitertragen. Der neutestamentliche Exeget Thomas Söding spricht von einem „österlichen Motivationsschub“, der die Geburt der ersten christlichen Gemeinden erst ermöglichte.40

Die Erzählung der beiden Jünger, die von Jerusalem nach Emmaus unterwegs sind und denen sich auf ihrem Weg ein offensichtlich Fremder anschließt, gipfelt im gemeinsamen Brotbrechen, bei dem ihnen schlagartig die Augen aufgehen und sie in diesem Fremden ihren Freund Jesus erkennen (Lk 24,13-35). Mut- und Ratlosigkeit hatten die beiden in den letzten Stunden in eine Passivität abdriften lassen, die erst im gemeinsamen Essen durchbrochen wurde. Und der Evangelist fügt die Unmittelbarkeit ihrer Initiative an: „Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück …“ (v.33). Kleopas und sein im Evangelium namenloser Freund setzen das spontan in die Tat um, was Jesus ihnen auf dem Weg dargelegt hatte (v.27).

 

Der notwendige Wandel von einer passiven Fremd- zu einer aktiven Selbststeuerung41 scheint den Jüngern von Jesus auch im Gleichnis vom anvertrauten Geld vermittelt worden zu sein (Mt 25,14-30). Ein Mann bricht zu einer Reise auf und hinterlässt seinen Dienern einen Teil seines Verdienstes. Der, dem er fünf Silbertalente anvertraut, erwirtschaftet weiter fünf Talente. Jener, der zwei Talente von seinem Herrn erhalten hat, verdoppelt das ihm Anvertraute auch. Nur der, der ein Talent überantwortet bekommt, gräbt dieses ein und gibt es seinem Herrn bei dessen Rückkehr von der Reise unangetastet zurück. Aus Angst, er hätte etwas falsch machen können. Es genügt nicht, Verantwortung übertragen zu bekommen ohne Bereitschaft, darauf auch eine Antwort zu suchen.

Die Übertragung eines kirchlichen Amtes durch Handauflegung oder Beauftragung bedeutet die Übernahme von administrativer und/oder pastoraler Verantwortung in der Diakonie, der Verkündigung, der Liturgie und im Leben der Gemeinde, für die am Ende des Tages auch Rechenschaft abzulegen ist. Kirchliche Sendung, die a priori persönliche Anstrengung und Erfolg ausschließt, bremst das Volk Gottes auf seinem heilsgeschichtlichen Weg.

Kommunikation als Grundwert der Communio

Um „Menschen fischen“ zu können, müssen die apostolischen Fischer ihren Mund auftun, ihre Füße und Hände aktivieren und ihre Herzen auf Empfangsmodus stellen, d.h. sie müssen die „Kunst“ des Kommunizierens besitzen, diese zumindest anstreben. Diese für die Kultur der Kirche notwendige Fähigkeit beschränkt sich nicht nur auf die Mitarbeiter der römischen Kurie, sondern auf alle Teilbereiche kirchlicher Sendungsarbeit bis hin zu den kleinsten im Namen Jesu versammelten Gemeinschaften.

Einige der Jünger Jesu waren Fischer. So erzählt Matthäus über die Berufung der beiden Brüder aus Betsaida am See von Galiläa, über Simon und seinen Bruder Andreas. Und ein wenig später näherte sich Jesus mit ähnlichen Worten dann auch Jakobus, dem Sohn des Zebedäus, und seinem Bruder Johannes; in Mt 4,21 heißt es schlicht: „Er rief sie …“. Auch sie waren Fischer. Die einen waren gerade dabei, ihre Netze in den See auszuwerfen, die anderen hatten offensichtlich ihren Fang schon eingeholt und saßen am Strand in ihrem Boot und besserten ihre Netze aus. Beide Brüderpaare waren sozusagen mit ihrer Arbeitsvorbereitung beschäftigt. Jesus aber schlug ihnen einen Rollenwechsel vor: Wenn ihr mit mir kommt, dann „werde [ich] euch zu Menschenfischern machen“ (Mt 4,18). Und sie willigten ein, „verließen […] das Boot und ihren Vater und folgten Jesus“ (Mt 4,22), ohne noch im Entferntesten zu ahnen, was die Worte Jesu für sie und ihre Nachfolger bedeuten würden.

Für den ersten Arbeitsanstoß verwenden wir dieses Bild der Fischer vom See von Galiläa, die auf Jesu Wort hin alles stehen und liegen haben lassen, um ihrem Freund zu folgen. Die richtigen Netze, die auch immer wieder ausgebessert werden müssen, können zwar am richtigen Ort und zur richtigen Zeit die Wahrscheinlichkeit auf einen guten Fang erhöhen, aber eine Garantie, dass die Fischer dann ihre Netze, gefüllt mit Fischen, ans Land ziehen können, gibt es dabei nicht. Gute Kommunikation und Zusammenarbeit werden die Netze voller machen können, aber Sicherheit für den Erfolg bieten sie nicht. Dazu gehört mehr. Dazu gehört das Vertrauen auf den, der den neuen Jobs als Menschenfischer in der Welt Sinn verleiht. Fehlen allerdings die richtigen Instrumentarien oder werden sie am falschen Ort und zur falschen Zeit eingesetzt, werden auch gute Kommunikation und Zusammenarbeit nicht zum Erfolg verhelfen; die Wahrscheinlichkeit des Nicht-Erreichens des erwünschten oder angestrebten Ziels würde in diesem Fall steigen. Die Schlussfolgerung, die die Kirche von den „apostolischen Fischern“ am See von Galiläa lernend ableiten kann: Die richtige Organisationskultur des Volkes Gottes auf seinem irdischen Weg zum Ziel wird das menschliche Pilgern erleichtern, es humaner und authentischer gestalten; aber eine solche Kultur, mit allen menschlichen Mitteln anstrebbar, ist allerdings auch kein Garant dafür, dass auf dem Pilgerweg zum Ziel hin keine Steine liegen. Eine Unternehmenskultur, die „strategisch“ nicht auf die gemeinsame Vision hin ausgerichtet ist und das Ziel nicht im Auge hat, also als für die Organisation nicht adäquate Kultur bezeichnet werden muss, lässt die Herde kleiner werden und die Hirten vereinsamen.

Leistung – das „Mit-einander“ als Maßstab

Spricht man heute im politischen, wissenschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Alltag von Leistung, so stellt sich stets sogleich die Frage, wie denn in diesen gesellschaftlich-sozialen Zusammenhängen Leistung gesehen, definiert und auch gemessen werden könne. Und weil es schwieriger ist, qualitative Schritte zu einem erwarteten Ziel hin greifbar und dingfest zu machen als quantitative Bewegungen, wird selbst die Reflexion über Leistung einfach verworfen42.

Das pastorale Bemühen Jesu, soziale Barrieren und religiöse Schranken zwischen den Menschen Israels abzubauen, wurde von den nachösterlichen Gemeinden als ein klarer Auftrag für ihre Arbeit der Verbreitung des Reiches Gottes gesehen und vor allem von Paulus wortmächtig weitergegeben. Für die Praxis des „Miteinanders“ listet Gerhard Lohfink in seinem Werk über die Frage, wie denn „Jesus Gemeinde gewollt“ hat, einige exemplarische „Stichproben der Briefliteratur des Neuen Testamentes“ auf43:

Einmütigkeit untereinander suchen (Röm 12,16)

auf den anderen bedacht sein (Röm 12,16)

einander annehmen (Röm 15,7)

einander zurechtweisen (Röm 15,14)

einander mit heiligem Kuss grüßen (Röm 16,16)

aufeinander warten (1Kor 11,33)

einträchtig füreinander sorgen (1Kor 12,25)

einander in Liebe Sklavendienste leisten (Gal 5,13)

einander die Lasten tragen (Gal 6,2)

einander in Liebe ertragen (Eph 4,2)

gütig und barmherzig zueinander sein (Eph 4,32)

sich einander unterordnen (Eph 5,21)

einander verzeihen (Kol 3,13)

einander trösten (1 Thess 5,12)

einander aufbauen (1Thess 5,12)

untereinander Frieden halten (1Thess 5,13)

einander Gutes tun (1Thess 5,15)

einander die Sünden bekennen (Jak 5,16)

füreinander beten (Jak 5,16)

einander von Herzen lieben (1Petr 1,22)

gastfreundlich zueinander sein (1Petr 4,9)

einander in Demut begegnen (1Petr 5,5)

miteinander Gemeinschaft haben (1Joh 1,7).

Diese neutestamentlichen Leistungskriterien können noch fortgesetzt werden, kennen allerdings keine quantitative Skaleneinteilung von „ausgezeichnet“ bis „ungenügend“. Denn der eigentliche Maßstab, der diesen Ermahnungen zugrunde gelegt ist, ist die Liebe Gottes, die sich im Leben und Zusammensein Jesu mit seinen Jüngern und dem Volk Israel geoffenbart hat. Heißt das aber, dass missionarische Arbeit in den Gemeinden, Diözesen und in der Weltkirche überhaupt nicht messbar ist? Vielleicht gar nicht der Versuch gemacht werden soll oder darf sie zu messen? Wenn Papst Franziskus reflektiert, dass das Maß der Liebe Gottes darin besteht einfach maßlos zu lieben44, kann das jedoch keinesfalls bedeuten, dass sich die getauften Christen, die dazu berufen sind das Reich Gottes in ihrem Raum und in ihrer Zeit greif- und erfahrbar zu machen, in den leerer werdenden Kirchenbänken und den spärlich besetzten Priesterbänken zurücklehnen und alles dieser maßlosen Liebe Gottes überlassen. Die Ermahnungen (Paraklese) spiegeln eine Dynamik des evangelisierenden Aufbruchs wider: suchen, annehmen, sorgen, leisten, tragen, ertragen, verzeihen … Auch Papst Franziskus erinnert in Evangelii gaudium an dieses Aufbrechen im Glauben und Vertrauen in Gottes Wort (EG 20), das im Alten Testament in den Gestalten Abraham, Mose und Jeremias auch für die nachösterlichen Gemeinden immer wieder zeichenhaft dafür steht, dass die Gottsuche kein Spaziergang ist, sondern ganz wesentlich auch etwas mit menschlicher Leistung zu tun hat.

In Mt 7,15-23 spricht Jesus die Warnung vor den falschen Propheten aus, „die einen leichten politischen Ertrag schnell und kurzlebig erbringen, aber nicht die menschliche Fülle aufbauen“. Heute ist es Papst Franziskus, der sich die Frage stellt, „wer diese sind, die sich in der heutigen Welt wirklich dafür einsetzen, Prozesse in Gang zu bringen, die ein Volk aufbauen“ (EG 224). Er hinterfragt also im Kontext der sozialen Dimension der Evangelisierung45 die pastorale Leistung und nimmt bei der Beantwortung dieser Frage Gedanken von Romano Guardini zu Hilfe; und hier geht es um eine Leistungsbeurteilung (EG 224):

Die Geschichte wird die letzteren [jene, die nicht die menschliche Fülle aufbauen] vielleicht nach jenem Kriterium beurteilen, das Romano Guardini dargelegt hat: ‚Der Maßstab, an welchem eine Zeit allein gerecht gemessen werden kann, ist die Frage, wie weit in ihr, nach ihrer Eigenart und Möglichkeit, die Fülle der menschlichen Existenz sich entfaltet und zu echter Sinngebung gelangt‘.46

Das Leistungsspektrum pastoralen Handelns in der Kirche kann niemals mit einer betriebswirtschaftlichen Brille beurteilt werden. Es geht um die Entwicklung und die Entfaltung menschlicher Existenz hin zur Sinnfülle des Lebens (Joh 10,10). Das Modell menschlicher Entfaltung und glaubhafter Sinngebung ist nicht das Modell eines Theologen, es ist das göttliche Modell für den Menschen schlechthin. Bei seiner ersten Begegnung mit dem Menschen geht es Jesus zuallererst nicht darum, sein Leben zu verändern, sondern ihm in seiner ganz individuellen Situation mit all ihren Stärken und Schwächen die Tiefe der Liebe Gottes spüren zu lassen. Gott ergreift die Initiative lang bevor der Mensch sich zu ihm aufmacht.

Um dem Leben eines an Leib oder Seele verwundeten Menschen, dem Jesus begegnet, wieder Sinn zu geben, setzt er sich nicht hin und belehrt diesen über die Wahrheit oder die Fülle des christlichen Lebens, sondern er umarmt ihn mit seinen mitfühlenden Worten oder berührt ihn in Liebe, die die Liebe Gottes ist. Danach heilt Jesus das, was der Fülle des Lebens hinderlich ist, den Frieden und die Zufriedenheit stört und es oft auch unmöglich gestaltet, nach dem Evangelium zu leben. Erst dann mahnt Jesus vom Verwundeten eine Leistung ein. Er fordert den seit 38 Jahren Verkrüppelten am Rand des Teiches Betesda auf umzukehren: „Jetzt bist du gesund; sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt“ (Joh 5,15). Zur ertappten Ehebrecherin sagt er: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Joh 8,11).

Vertrauen – Gott vertrauen und dem Menschen trauen

Der Autor des Hebräerbriefes wendet sich an die zweite oder dritte Generation der frühen Christengemeinde (Hebr 2,3), „denen der Elan der Anfangszeit abhandengekommen ist“.47 Diese Worte gelten nicht nur einer bestimmten Gemeinde, sondern sind einer ganzen Generation der Heilsgeschichte in ihrer pastoraltheologischen Wanderschaft zugesprochen (Hebr 10,32-35):

Erinnert euch an die früheren Tage, als ihr nach eurer Erleuchtung manchen harten Leidenskampf bestanden habt: Ihr seid vor aller Welt beschimpft und gequält worden, oder ihr seid mitbetroffen gewesen vom Geschick derer, denen es so erging; denn ihr habt mit den Gefangenen gelitten und auch den Raub eures Vermögens freudig hingenommen, da ihr wusstet, dass ihr einen besseren Besitz habt, der euch bleibt. Werft also eure Zuversicht nicht weg, die großen Lohn mit sich bringt.

Den Weg des gemeinsam wandernden Gottesvolkes hatten auch die Konzilsväter im Sinn, als sie in der Kirchenkonstitution darauf hinweisen, dass Gott beschlossen hat, diejenigen, die Christus vertrauen, in der Gemeinschaft der Kirche zusammenzurufen (LG2). Der oft lange Weg verlangt von den Anhängern des „neuen Weges“ vor allem Ausdauer (Hebr 10,36; 12,1-2) und den beharrlichen Willen zur Neuorientierung (Hebr 2,1; 3,10). Die Schwierigkeiten in der Gemeinde kommen nicht von außen, sondern sind in der Organisation selbst zu orten, „es sind schlicht und einfach die Mühen der Ebene, die Probleme bereiten“.48 Thomas Söding spricht davon, dass der christliche Glaube alltäglich wird und es der Gemeinde zunehmend schwer fällt, „sich auf das Hören des Evangeliums zu konzentrieren und das Überzeugende, Aufbauende, Wegweisende, Ermunternde, Tröstende, Anspornende der christlichen Botschaft zu erkennen“49 (Hebr 5,11-14).

 

Die Erkundung des Beginns eines neuen Weges der Gemeinde sieht Söding im „Hinschauen zu Jesus – Hinhören auf Gottes Wort“, in der „Wahrnehmung der Wirklichkeit“ und dem Sehen des Unsichtbaren – Hören des Unerhörten“50, drei Vorausbedingungen für das Vertrauen auf Gott, die eine notwendige Neuorientierung initiieren können. Wenn der Gemeinde das Vertrauen auf die Nähe Gottes abhandenkommt, dann mündet dies in einer aufkeimenden Inflexibilität, die sie früher oder später lähmt.

Der vertrauende Gottesglaube, der seine Standfestigkeit aus der Hoffnung empfängt, umschließt und nährt auch das Vertrauen in den Menschen, der Weggefährte des pilgernden Gottesvolkes ist. Schließlich und endlich ist es nicht der Taufspender, der den Täufling mit dem heiligen Chrisam zum Priester, König und Propheten oder zur Priesterin, Königin und Prophetin salbt, sondern der Herr selbst. Die Glaubwürdigkeit dieser Handlung wird zum Prüfstein des Zusammenlebens und des gemeinsamen Handelns in der Kirche. Es ist Jesus selbst, der mit dem Getauften auf seinem Lebensweg unterwegs ist. Die einzige gültige Antwort auf das Vertrauen Gottes in sein Geschöpf Mensch, den er ja nur ein wenig geringer gemacht hat, als er selbst ist, und den er ja mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt hat (Ps 8), kann nur ein bejahendes Vertrauen sein.

Dem Autor des Hebräerbriefes geht es nicht um einen ekklesiologischen Traktat, aber sehr wohl um eine alltägliche praktisch-theologische Reflexion einer Spiritualität der Communio im Großen und im Kleinen, d.h. er ruft die verlorengegangene Spiritualität der Gemeinden, der Pfarren, der Ortskirchen und damit der universalen Kirche ins Gedächtnis des pilgernden Volkes Gottes.

Die Liturgiereform des Zweiten Vatikanums hat mit dem Friedensgruß in der Eucharistiefeier wieder eine symbolische Geste der urchristlichen Gemeinden in Erinnerung gerufen, die uns mehrfach aus den Paulusbriefen (Röm 16,16; 1Kor 16,20; 2Kor 13,12) überliefert ist: „Grüßt einander mit dem heiligen Kuss“ oder auch mit dem „Kuss der Liebe“ (1 Petr 5,14). Wie können Leiter oder Mitglieder einer Gemeinde bei dem Friedensgruß dem Gegenüber in die Augen blicken, wenn sie einander in ihrer tagtäglichen Arbeit in und für die Kirche nicht über den Weg trauen?

Wachstum – Das Reich Gottes schlägt Wurzeln

Eine missionarische, kooperative und konstruktive Kirche51, wie sie Thomas Söding in der Tätigkeit des Apostels Paulus vor Augen hat, verkündet primär das Reich Gottes vor allem dadurch, dass sie mehr Salz der Erde und Licht der Welt (Mt 5, 13-16) ist und in ihrer Sendung nicht unbedingt vieler Worte bedarf. Zweitens treibt die Kirche als Communio stets die ihr von Jesus aufgetragene Sammlung des Gottesvolks voran – auch wenn diese Worte selbst nicht aus Jesu Mund kommen, so sind sie in seinem Reden und Tun impliziert, denn ein Reich kann im damaligen Sprachgebrauch nicht ohne Volk existieren.52 Das dritte Merkmal der Kirche Christi demonstriert uns Paulus als Gemeindegründer und Gemeindeleiter: In diesem Kontext geht es ihm nicht nur um das innovative und kreative Handanlegen am Bau des Hauses Gottes, sondern er hat den ganzen Menschen als den Tempel des Heiligen Geistes (1Kor 3,16) im Sinn.

Damit umfasst das Reich Gottes alle Dimensionen des menschlichen Lebens, von der Existenz der einzelnen Person über die Geburt einer kleinen christlichen Gemeinschaft und den Aufbau einer Gemeinde über das Erblühen einer Ortskirche hin bis zur wirklich universalen Kirche. Bei der Begegnung des Hauptmanns von Kafarnaum ist Jesus über dessen tiefen Glauben erstaunt und spricht über eine große Völkerwallfahrt: „Viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen“ (Mt 8,11). Was Jesus im kleinen Kreis begonnen hat, setzen seine Jüngerinnen und Jünger nach seinem Tod und seiner Auferstehung fort. Am Pfingsttag (Apg 2,1-13) und mit den Gemeindegründungen von Paulus und seinen Gefährten wird diese „Völkerwanderung“ zur Realität.

Für die Entwicklung und das Wachsen des Reiches Gottes hat Jesus seinen Aposteln keine dezidierten oder fixen Strukturen vorgeschrieben, er hat ihnen allerdings mit seinem eigenen Leben das „Wie“ vorgegeben. Die institutionellen Formen des Reiches Gottes sind bisweilen im offenen Disput, beispielsweise beim Apostelkonzil (Apg 15,1-35), oder aber auch in aller Stille in den Gemeinden des Römischen Reiches gewachsen.

Paulus verliert in seiner Missionsarbeit das eschatologische Ziel – in der Organisationswissenschaft würde heute von der strategischen Zielsetzung gesprochen werden – niemals aus dem Blick. In seinem ersten Brief an die Gemeinde in Thessaloniki, dem ersten, den er jemals an eine Gemeinde adressiert hatte, ermahnt er sie (1Tess 5,12-13):

Euch aber lasse der Herr wachsen und reich werden in der Liebe zueinander und zu allen, wie auch wir euch lieben, damit euer Herz gefestigt wird und ihr ohne Tadel seid, geheiligt vor Gott, unserem Vater, wenn Jesus, unser Herr, mit allen seinen Heiligen kommt.

Mit diesem Maßstab des persönlichen Wachsens in Liebe zu Gott und zu einander, das ihm zum Fundament jeder Gemeindeentwicklung wird, geht Paulus an seine pastorale Arbeit heran. Er bringt das Samenkorn in seinem Reisegepäck und pflanzt es in die Erde der jungen Gemeinde, überlässt jedoch das Wachstum – wohlgemerkt unter seinem wachsamen Auge – jenen, denen er das Wort vom Reich Gottes anvertraut hat.

In der Wirtschaft durchläuft jedes Unternehmen verschiedene Phasen, vom Wachstum über die Blüte bis hin zum Scheitern oder zur Übernahme durch ein anderes Unternehmen, das näher am Kunden geblieben ist als es selbst. Im Gegensatz zur Welt kann jedoch die Kirche Jesu Christi von den Mächten dieser Welt – heute könnte man auch sagen: von den Mächten ihrer materiellen und immateriellen Märkte – nicht überwältigt werden (Mt 16,18). Dieses Versprechen Jesu ist einerseits eine vom Vertrauen getragene Sicherheitsklausel, kann das Schiff der Kirche aber auch nahe an gefährliche Klippen herantragen, wenn ihre Mann- oder „Frauschaft“ gegen den Geist Gottes segelt. Dann hilft nur mehr sein Steuermann, der einzig und alleine Jesus ist.

Identität – ein Grundanliegen der frühen Christengemeinden

Der konstruktive Wille der frühen Christengemeinden, Communio mit Christus und Communio mit den Menschen in ihrem Leben zu begründen, ist in der Spiritualität des letzten Beisammenseins Jesu mit seinen Jüngern begründet (vgl. Joh 13, 1-20). Während die Synoptiker ausführlich über das Mahl berichten (Mt 26,20-29; Mk 14,17-25; Lk 22,14-23), erwähnt das Johannes-Evangelium dieses nur sozusagen vorübergehend mit den Worten: „Es fand ein Mahl statt [… und er] stand vom Mahl auf …“ (Joh 13,2.4), fügt aber das Sondergut der Fußwaschung ein (Joh 13,1-20). Glaubhaft können die Hinwendung zu Gott und die Vereinigung mit ihm in der Liturgie nicht ohne Hinwendung zum Mitmenschen und ohne Verneigung vor ihm erfolgen. Die Spiritualität der Kirchen des Ostens spricht von einer „Liturgie nach der Liturgie“53 mit der Hoffnung, aus dem irdischen Szenario mit Hilfe der fürbittenden Heiligen, die im byzantinischen Ritus auf der Ikonostase dargestellt sind, einmal zum Festmahl im himmlischen Jerusalem gelangen zu können.

Die Urkirche lebt diese Spiritualität des Gottes- und Menschendienstes aufgrund des authentischen Zeugnisses der Aposteln, vor allem des Paulus, von dessen Denken und Tun für die Kirche heute dank seiner Briefe und der Apostelgeschichte mehr tradiert ist als von allen anderen Aposteln, die zum engsten Freundeskreis Jesu gehörten. Nach seiner Jesus-Begegnung vor den Toren von Damaskus (Apg 9,3-8) und seiner „Aus-Zeit“ in der Wüste (Gal 1,17) war Paulus ständig „ohne abgehobene Kirchentheorie“ und „ausgeklügelten Pastoralplan“54 unterwegs, um neue Gemeinden zu gründen. Um diese Aufgabe des erfolgreichen Gemeindeaufbaus von Paulus verstehen zu können, sind Grundwerte und Verhaltens- und Handlungsmuster, also seine „missionarische oder evangelisierende Kultur“ zu hinterfragen. Im 1. Korintherbrief fasst der Apostel seine Erkenntnis für eine gedeihliche Zusammenarbeit in der Gemeinde zusammen: „Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld, Gottes Bau“ (1Kor 3,9). Er schließt niemanden von der Mitarbeit am Aufbau des Reiches Gottes aus und vergleicht die christliche Gemeinschaft (1) mit einem Acker, auf dem nicht nur Korn wächst, sondern auch andere Pflanzen, und (2) mit einem aus Steinen zusammengefügten Bau. Ein paar Zeilen später erinnert Paulus seine Gemeinde daran, dass diesem Bau etwas Heiliges anhaftet, denn er sei Tempel Gottes, in dem der Geist Gottes wohnt (1Kor 3,16).