Hand in Hand

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Vielleicht dauert es eine Weile, bis sich Ihr Kind ausgetobt hat. Wahrscheinlich werden Sie die ersten Male, bei denen Sie Ihre üblichen Disziplinierungsmethoden durch das Zuhören ersetzen, sogar denken: „Wird mein Kind jemals zur Ruhe kommen? Das kann doch nicht gut tun!“ Wir sind solch leidenschaftliche Zurschaustellung von Emotionen nicht gewohnt! Aber halten Sie durch. Das alles geschieht nicht ohne Ziel. Denn zum Vorschein kommen genau jene Emotionen, die das Verhalten Ihres Kindes beeinträchtigt haben! Zwar offenbart Ihr Kind damit, wie schlecht es sich fühlt, aber es wird mit dem Wüten trotzdem nicht aufhören, denn tiefer im Inneren spürt es Erleichterung, diese zerstörerische Spannung losgeworden zu sein. Sobald Ihr Kind seinen inneren Aufruhr herausgelassen hat, wird es Ihre Fürsorge wieder wahrnehmen. Es wird seine Welt besser verstehen, verhält sich flexibler und sein Vertrauen wird wachsen.

Noch ist nicht ganz geklärt, wie Weinen, Wutanfälle, Zittern, Schwitzen und Lachen die emotionale Spannung in der Psyche eines Kindes abbauen. Die Erkenntnis, dass diese Aktivitäten normal sind und zu einem angeborenen Heilungsprozess gehören, ist recht neu. Zwar wissen wir nicht, wie er funktioniert, aber dass er funktioniert. Was auch währenddessen im Gehirn in den Neuronen geschieht, ein weinendes Kind wird jedenfalls seine Denkfähigkeit wiedergewinnen, wenn ihm dabei jemand liebevoll zuhört. Und allmählich bewältigt es seine schwierigen Situationen immer besser. Indem Sie Ihrem Kind zuhören, werden Sie an ihm Veränderung und Wachstum erleben. Sein Verhalten wird seltener entgleisen. Auch wird es ihm immer besser gelingen, Ihnen seine Bedürfnisse rechtzeitig mitzuteilen.

Ganz allein kann sich Ihr Kind allerdings nicht von seinen Verletzungen erholen. Schließlich ist es vor allem ein soziales Wesen und Sie sind sein Fels, sein Anker, sein sicherer Hafen. Es braucht Ihre Hilfe, um die Folgen der Verletzung loszuwerden. Also lassen Sie die Bereitschaft zur Verbindung in Ihr Kind hereinströmen, während es die Gefühle herausströmen lässt, die seine Problemlösefähigkeit und Lebensfreude beeinträchtigen.

Die folgende Geschichte zeigt, was geschehen kann, wenn Sie Ihrem Kind während seines Gefühlsausbruchs liebevoll zuhören, anstatt es einfach zu beruhigen.


Mein vierjähriger Enkel Reggie bekam Besuch von einem Kind aus seinem Kindergarten. Der Junge wollte das gar nicht und Reggie selbst passte der Besuch ebenso wenig, aber der Vater des Kindes brauchte eine Kinderbetreuung und die Eltern hatten es so vereinbart. Ich hielt mich unauffällig bei den Jungs auf. Sie hatten überhaupt keine Lust, miteinander zu spielen. Vergeblich versuchte ich, sie hin und wieder aufeinander zu zubewegen. Jeder spielte allein vor sich hin; sie redeten noch nicht einmal miteinander und das ging über eine Stunde lang.

Dann stieß der Freund zufällig an eine von Reggie und seinem Vater aufwendig konstruierte Murmelbahn und sie krachte zusammen. Da brach Reggie in verzweifeltes Weinen aus. Ich nahm ihn auf den Schoß. Er heulte: „Nie, nie mehr kann ich das wieder aufbauen! Sie war so gut. Jetzt ist sie für immer hin!“ Ich sagte: „Ja, mein Schatz, da hast du wohl Recht“, worauf er erst recht losheulte. Ich wollte ihm jedoch Gelegenheit geben, sein Werk vollständig zu betrauern. Der Freund spielte leise in der Nähe, hörte aber genau zu, ohne etwas zu antworten. Ich sagte: „Ethan hat deine Bahn nicht absichtlich angestoßen. Das war ein Unfall. Er wollte sie nicht umwerfen.“

Reggie heulte etwa zwanzig Minuten lang. Als er sich ausgeweint hatte, bot ich den beiden einen Imbiss an. Da griffen Sie gerne zu. Dann hatte Reggie die Idee, Verstecken zu spielen. Kichernd und jauchzend rannten die zwei durchs Haus, weil es mir ja „so schwer fiel“, sie aufzuspüren. Nun waren die beiden doch noch vereint. Erst klemmten sie sich eng nebeneinander in einen kleinen Schrank, dann quetschten sie sich hinter eine Tür. Wir spielten das eine ganze Weile. Als schließlich Ethan abgeholt wurde, bat er seinen Vater: „Darf ich noch bleiben? Ich mag nicht nach Hause!“ Auch Reggie wollte ihn noch dabehalten.


Weinen und Wutanfälle sind keine nutzlosen Verhaltensweisen! Ihr Kind tut das Allerklügste, wenn es einen Trotzanfall zulässt. Im Bemühen, wieder klar zu denken, schüttelt es so seine emotionale Spannung ab. Und während Ihr Kind weint, haben Sie direkten Zugang zu seinem wehen Herzen. Jetzt sind Sie am Zug! Was Sie für ein aufgebrachtes Kind tun, zeigt Ihre Liebe zehnmal stärker als zärtliches Knuddeln und Streicheln an guten Tagen. Ihr Kind sehnt sich sogar trotz ablehnender Worte nach Ihrer Hilfe: „Geh weg! Ich mag dich nicht.“ Wenn Sie seinen Gefühlen zuhören können und liebevolle Zuwendung anbieten, wird es nach seinem Wutanfall ein anderer Mensch sein.

Auch alte Verletzungen können ihr Kind aus der Fassung bringen

Was aber, wenn Ihr Kind plötzlich grundlos verrücktspielt? Nach einem vergnüglichen Tag sperrt es sich beispielsweise bockig gegen das Baden. Oder es spielt vollkommen zufrieden vor sich hin, bis Sie mit Ihrer Frau ein Gespräch beginnen. Dann springt es auf und geht lauthals dazwischen. Verhält es sich nicht einfach unreif oder vielleicht sogar manipulativ?

Nein, sogar sehr junge Kinder können beim Baden kooperieren oder ihre Eltern ungestört reden lassen, wenn sie sich sicher und verbunden fühlen. In solchen Fällen wird Ihr Kind wahrscheinlich von einer früheren Verletzung gequält.

Als Säugling und Kleinkind kann ein Kind seine verletzten Gefühle nicht vollständig abladen. Ungelöstes speichert es als emotionale Erinnerung. Die dort gespeicherten Verletzungen versucht es zu ignorieren und die meiste Zeit bleiben sie weggepackt. Doch können diese Gefühle auch unerwartet an die Oberfläche steigen. Sobald das Kind eine Situation erlebt, die dem früheren verletzenden Moment in irgendeiner Weise ähnelt, tauchen sie auf! Bilder, Geräusche und das Gefühl von damals überfluten die Psyche des Kindes erneut. Dann regieren die Emotionen. Ihr Kind kann eine Weile nicht denken und nimmt Ihre Hilfe nicht bewusst wahr.

Zum Beispiel entschloss sich eine mir bekannte alleinerziehende Mutter dazu, ihrer sechsjährigen Tochter dabei zu helfen, die Angst vor dem Schlafen im eigenen Bett zu überwinden. Dieses stand nur wenige Meter vom Bett der Mutter entfernt. Schon immer hatte sich die Tochter davor gefürchtet, in getrennten Betten zu schlafen. Nach ihrer Ankündigung saß die Mama nah bei ihrem Kind und hörte lange zu, während die Tochter schluchzte und sich an sie klammerte. Nachdem sich das Kind eine Stunde später noch immer nicht beruhigt hatte, schliefen die beiden wie gehabt in einem Bett. In der zweiten Nacht wurde aus dem Weinen Zappeln und Zittern. Irgendwann schrie das Mädchen: „Es tut weh! Es tut weh!“ Als die Mutter nachfragte, antwortete sie: „Der Bienenstich!“ In jenem Sommer war sie von einer Biene ins Bein gestochen worden, also schaute sich die Mutter diese Stelle an, aber ihre Tochter schlug angstvoll um sich und sagte: „Nicht da! Hier!“, und deutete aufgeregt auf ihren rechten Handrücken. Genau an dieser Stelle wurde sie wenige Stunden nach der Geburt sieben Mal von einer unerfahrenen Klinikassistentin gestochen, bis endlich erfolgreich eine verordnete Infusion gelegt war. Der Vorschlag, im eigenen Bett zu schlafen, hatte riesige Angst ausgelöst, die vielleicht von diesem traumatischen ersten Tag ihres Lebens herrührte. Die Mutter hörte weiter zu, hielt ihre Tochter beruhigend fest, bis sich der Schrecken gelegt hatte. Nach diesem Ausweinen und dem zuversichtlichen Zuhören der Mutter schlief das Mädchen schnell im eigenen Bett ein. Später gab es mit diesem Thema keine Probleme mehr.

Wenn Ihr Kind gerade nicht denken kann, müssen Sie zum Glück nicht genau wissen, wodurch ihr Kind getriggert wurde und aus welchem Grund. Sie müssen es nur wahrnehmen, ihrem Kind nah sein, falls nötig Grenzen setzen und zuhören. Wie das geht, werden Sie auf den folgenden Seiten lernen.

Verbinden Sie sich mit ihrem Kind

Sie können Ihrem Kind besonders wirkungsvoll Ihre Liebe zeigen, wenn es seine Gefühle ausdrückt. Tatsächlich sind emotionale Ausbrüche eine gute Gelegenheit, sich mit Ihrem Kind zu verbinden. Dabei gibt es für jeden eine Aufgabe.

Ihre Aufgabe beginnt, sobald Sie bemerken, dass das Verhalten ihres Kindes entgleist. Gehen Sie zu ihm, um schädigendes Verhalten zu unterbinden, und hören Sie zu. Wenn Ihnen die Schwierigkeiten Ihres Kindes früh genug auffallen und Sie sich sofort einschalten, teilt ihm das mit: „Ich sehe dich“, und hält es von noch drastischeren Verhaltensweisen ab.

Ihr Kind hat die Aufgabe, seine emotionale Erregung abzuladen, und es wird dies tun, sobald es Ihren fürsorglichen Blick bemerkt.

Sie haben die Aufgabe, Ihr Kind zu beschützen und sich mit ihm zu verbinden, während die Gefühle heftiger werden. Vielleicht müssen Sie es davon abhalten, sich selbst oder Ihnen wehzutun, falls es um sich schlagen oder treten muss, um sich von aufgestauter Spannung zu befreien.

Ihr Kind hat die Aufgabe, Ihnen all seinen Schmerz zu zeigen. Indessen nimmt es Ihr Angebot der heilenden Verbindung in sich auf.

Sie müssen Ihr Kind nicht kontrollieren, ihm nichts beibringen und auch keine Konsequenzen für sein Verhalten festlegen. Ihr Kind muss einfach diese bestimmte Emotion abladen können, damit es wieder klar denken kann. Bei der Verarbeitung hilft ihm Ihre unterstützende Nähe. Es benötigt Ihr Zuhören, damit es heilen und sich wieder erholen kann. Nachdem die in einem Gefühlswirrwarr eingeschlossene Emotion herausgeströmt ist, wird das Kind die Welt buchstäblich anders wahrnehmen. Es wird fähig, sich mit Ihnen zu verbinden, und kann wieder logisch denken. Und künftig wird es nicht mehr ganz so leicht getriggert werden.

 

Die Verwundung Ihres Kindes war heftig, und das wird es Ihnen zeigen!

Ihr Kind schleppt vermutlich schon einen ganzen Ballast an unverarbeitetem seelischem Verdruss mit sich herum. Wenn Sie ihm dann Ihre liebevolle Unterstützung schenken, sieht es vielleicht zuerst so aus, als ginge der Schuss nach hinten los. Denn Ihr Kind schlägt womöglich um sich, krümmt sich und schreit im Griff der Gefühle, die es aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Ihr Zuhören bringt jedoch Heilung. Bleiben Sie einfach unterstützend und beschützend bei ihm. Nachdem Sie Ihr Kind durch seinen Gefühlsausbruch begleitet haben, entspannt es sich vielleicht für ein letztes Aufschluchzen in Ihren Armen oder nimmt ein paar zittrige Atemzüge und wird einfach still. Es wird sich erleichtert fühlen. Falls es nicht einschläft, wird Ihr Kind vielleicht eine Weile über Sie und seine Umgebung nachsinnen. Wenn es gähnt, zu kichern anfängt oder um ein Glas Saft bittet, als hätten Sie die letzte halbe Stunde locker miteinander geplaudert, dann haben Sie beide Ihre Aufgaben erfüllt. Der Tag kann nur besser werden.

Zuhören ist einfach, aber nicht leicht

Inzwischen denken Sie vielleicht: „Vergiss es! Ich will bei einem solchen Anfall meines Kindes keinesfalls in der Nähe sein!“ Natürlich erfordert es eine große Portion Mut, Ihrem aufgebrachten Kind zum ersten Mal auf diese Weise zuzuhören. Ich würde hart arbeitenden Eltern nie etwas so Herausforderndes vorschlagen, wäre ich nicht von seiner Wirkung überzeugt. Wir haben gesehen, wie es bei zahlreichen Kindern aus allen Familientypen und unterschiedlichen Kulturkreisen funktioniert. Was den „Hand in Hand“-Ansatz so besonders macht, ist eine Strategie des Zuhörens für Sie ganz persönlich. Sie können sich mit anderen Eltern als Partner über Gegenseitiges einfühlsames Zuhören Unterstützung verschaffen. Auf diese Weise schaffen Sie einen Ort, an dem Ihre eigenen Gefühle gehört und respektiert werden. Dann werden Sie für das Gefühlsleben Ihres Kindes echtes Gespür entwickeln. Und es wird Ihnen helfen, Ihr Kind schließlich sogar gerne durch seine besonderen Gefühlsmomente hindurch zu geleiten.

Sobald Sie den Gefühlen Ihres Kindes wirklich zuhören, dürfen Sie die folgenden problematischen Methoden vergessen: Schimpfen, Strafpredigt, Forderungen, Bestrafung, Bestechung, die Stimme erheben, Drohungen, Konsequenzen, Sternchenlisten oder andere Belohnungen für erwünschtes Verhalten. Sie müssen Ihr Kind nicht einschüchtern. Sie werden nicht das Bedürfnis haben, all sein Treiben zu kontrollieren. Sie werden Grenzen setzen, ohne sich dabei wie ein Spielverderber zu erleben. Sie werden merken, wie segensreich sich sinnvolle Grenzen auf Ihr Kind auswirken, wenn es aus der Fassung geraten ist.

Wenn Sie sich mit Ihrem Kind über die Zuhörstrategien verbinden, dann wird in Ihre Familie Folgendes vermehrt einziehen: Lachen, Spaß, Kooperation, Vertrauen, Liebe, Kreativität und Herzlichkeit. Sie werden erleben, wie Ihr Kind seinem guten inneren Kern stärker vertrauen wird und auch Sie selbst mehr Vertrauen in Ihren eigenen gewinnen. Wir sind dafür geschaffen, miteinander verbunden in behaglicher Nähe zu leben.

Wie Sie die Hilferufe Ihres Kindes verstehen

Eltern, die gerade viel zu tun haben, erleben den Versuch ihres Kindes, Verbindung aufzunehmen, womöglich als bewusste Provokation. Aber solange es dem Kind nicht gelingt, mit einem fürsorglichen Erwachsenen Verbindung aufzunehmen, wird es sich weiterhin bemerkbar machen. Ein sich isoliert fühlendes Kind kann sich aufführen wie das dickköpfigste, pingeligste, weinerlichste, undankbarste, aggressivste und zappeligste Kind der Welt. Leider sieht ein einzelner Elternteil nicht, dass Kinder überall auf der Erde ihren erschöpften Eltern genau die gleichen Signale senden. Ihre Botschaft lautet: „Seelischer Notstand! Ich fühle mich von dir abgetrennt!“ Diese Ansage kleidet sich eben in Verhalten statt Worte. Bevorzugen Sie jedoch eine schriftliche Nachricht, dann würde die Botschaft Ihres angriffslustigen und widerspenstigen Kindes in feinsäuberlichen Druckbuchstaben wahrscheinlich folgendermaßen lauten:

Liebe Mama oder lieber Papa!

Danke, dass du meine Nachricht liest. Ich strenge mich so an, deine Liebe zu spüren, aber es klappt nicht. Mich so weit weg von dir zu fühlen, ängstigt mich. Würdest du dich bitte baldmöglichst zu mir setzen und mich zu dir einladen? Können wir zusammen ein wenig Spaß machen, oder könntest du wenigstens den Arm um mich legen, damit ich deine Liebe spüren kann? Bitte halte mich freundlich auf, damit ich keinen Blödsinn mache. Ich will wirklich keine Schwierigkeiten machen. Mit deiner Hilfe wird bestimmt alles viel besser.

Ich liebe dich unendlich.

Dein (momentan) weit entferntes Kind.

Die echte Nachricht einer Erstklässlerin an ihre Eltern lautete so:

„Ich liebe euch, wenn ich verrückt, traurig, ärgerlich, enttäuscht, glücklich, stolz und all die anderen Gefühle bin. Ich liebe euch sogar noch mehr, als ich will. Ich liebe euch, wenn ich sage, ich hasse euch. Und das meine ich ernst. Ich liebe euch.“

Zwar steht nicht gerade ein Übersetzer bereit, sobald Sie das Verhalten Ihres Kindes auf die Palme bringt, aber vielleicht finden Sie die folgende Liste praktisch. Mit diesen Notsignalen rufen nämlich alle Kinder um Hilfe:

Der „zerbrochene Keks“1

Manchmal genügt eine Kleinigkeit wie die abgebrochene Ecke eines Kekses und der Legostein im Heizungsgitter, um bei Ihrem Kind Tränen oder einen Wutanfall auszulösen. Wahrscheinlich ist das sogar der häufigste Ruf nach Hilfe und Aufmerksamkeit. Dieses Signal bedeutet: „In mir haben sich so viele Gefühle angestaut, dass ich nicht mehr kann. Jede Kleinigkeit macht mich unglücklich. Ich brauche dich in meiner Nähe, bis ich diesen Aufruhr in mir losgeworden bin. Er verdirbt mir alles.“ Ein riesiger Gefühlsausbruch als Folge eines winzigen Auslösers wurzelt vermutlich größtenteils in einer problematischen Erfahrung aus der Vergangenheit. Der zerbrochene Keks oder verlorene Legostein erinnert Ihr Kind bloß an diese frühere, schwierigere Zeit. Der scheinbare Lärm um nichts ist für Ihr Kind aber eine wertvolle Gelegenheit zur Hilfe für seine Heilung. Sie können sein Gefühl für Verbundenheit mit Ihnen wiederherstellen und in ihm die Tendenz zu künftigem ausufernden Verhalten abbauen, indem Sie Verbindung und Zuhören anbieten. Seien Sie in diesem Gefühlssturm die Zuflucht Ihres Kindes und es wird seine Gelassenheit wiederfinden.

Der „verdorbene Ausflug“

Dieses Signal zeigt sich, wenn Sie Ihrem Kind extra Zeit und Aufmerksamkeit widmen, oder sich mit Freunden oder Verwandten treffen. Irgendwann während dieses besonderen Ereignisses wird sich Ihr Kind über eine Kleinigkeit aufregen. Das bedeutet: „Bei diesem gemeinsamen Spaß krieg ich ganz viel Hoffnung. Wir sind uns jetzt so nah, da mag ich dir von dem scheußlichen Gefühl erzählen, das ich manchmal spüre. Bitte hilf mir damit!“ Fast wirkt es so, als würden durch die Geborgenheit und Freude des Augenblicks abgestandene Gefühle mit der Wucht eines Löschwasserstrahls nach draußen gespült. Natürlich geschieht das gerade dann, wenn Sie darauf hoffen, dass Ihr Kind kooperiert.

Der „verdorbene Ausflug“ ist ein so häufiges Phänomen, dass Sie direkt darauf warten können. Geburtstagsfeiern, Familientreffen, Festtage und Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten lösen in fast jedem Kind solche Ausbrüche aus. Deswegen ist es jedoch nicht undankbar. Ihr Kind spürt einfach das Wohlwollen um sich herum, und sein Instinkt meldet, dass damit ein guter Zeitpunkt für seinen inneren Hausputz gekommen ist!

„Hilf mir aufzuhören!“

Noch so ein Klassiker. Angenommen, Sie sind mit tausend Dingen beschäftigt, besorgt, in Eile oder haben Besuch und verlieren Ihr Kind immer weiter aus den Augen. Vielleicht hat es Sie schon ein paar Mal um Aufmerksamkeit gebeten und Sie haben es abgewimmelt in der Hoffnung, sein Problem löse sich von selbst. Vermutlich hatten Sie aber einfach alle Hände voll zu tun und konnten nicht auf Ihr Kind eingehen.

Im verzweifelten Wunsch nach Verbundenheit schaut Ihnen Ihr Kind direkt in die Augen und tut etwas, das Sie ihm schon x-mal verboten haben. Es rupft von der Topfpflanze im Wohnzimmer Blätter ab oder wirft einen Holzklotz nach seiner Schwester. Dieses Signal bedeutet: „Ich fühle mich verloren – ich dreh durch, wenn ich dich direkt neben mir sehe und mich trotzdem so allein fühle. Hilf mir!“

Bricht ein Kind bewusst unsere Regeln, glauben wir Eltern oft an Wut oder einen Manipulationsversuch als Ursache. Aber Ihr Kind will Sie nicht ärgern. In seinem unerfüllten Bedürfnis nach Verbundenheit verzweifelt es so sehr, dass ihm lieber ist, Sie wenden sich ihm verärgert zu, als dass es noch länger in seiner Isolation ausharrt. Seine Psyche benötigt die Verbindung zu Ihnen, pronto! Also sucht es einen todsicheren Weg, um Sie in seine Nähe zu beordern.

Rückzug

Manchmal kapituliert ein Kind. Dann wendet es sich nach innen und probiert das schmerzliche Gefühl der Isolation oder Angst mit einem kleinen Ritual zu betäuben: Daumenlutschen, an einer Haarsträhne drehen oder verzweifelt eine Schmusedecke oder Spielfigur an sich klammern. Dieses Signal bedeutet: „Was soll ich bloß machen? Mir geht’s nicht gut. Ich schalte in den Leerlauf, solange mir keiner hilft.“ Dieses Signal fällt nicht weiter auf. Aber Ihr Kind verliert währenddessen wertvolle Zeit zum Forschen und Lernen. Es riskiert damit noch keinen aktiven Aufruhr, fühlt sich aber doch so isoliert, dass es nicht den vollen Zugang zu seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten hat. Mit dem Schnuller im Mund kann es nicht reden, beim Umklammern der Puppe hat es nur eine Hand frei. Wenn es eine Haarsträhne dreht, kann es nicht rennen, lachen oder etwas erforschen. Es bittet solange schweigend um Hilfe, bis Sie kommen und mit ihm Verbindung aufnehmen.

Aggressionen

Wenn Ihr Kind mit seinem Verhalten andere oder sich selbst verletzt, bedeutet dies: „Verbundenheit: gleich null! Denken: Fehlanzeige! Ich hab’ keine Ahnung, wieso ich um mich schlage, kann aber nicht aufhören!“ Ein in aggressivem Verhalten gefangenes Kind hat Angst und braucht eine liebevolle, aber klare Grenze, von einem freundlichen Erwachsenen, der sich an den guten Kern des Kindes erinnert. Das Gefühl für Verbundenheit ist einfach versiegt. In Kapitel 11, Ängste auflösen, und Kapitel 12, Aggressionen überwinden, werden Sie erfahren, wie Sie bestimmte Zuhörstrategien anwenden, um Ihr Kind weg von angstgesteuertem Verhalten und hin zu echter Verbundenheit und Kooperation bewegen können.

Ablenkungsspiel

Ein Kind wirkt manchmal wie elektrisch aufgeladen, wenn in ihm schwache Angstgefühle rumoren. Den äußeren Schein kann es nur wahren, indem es von einer Tätigkeit zur nächsten springt und diesem Tun nur oberflächliche Aufmerksamkeit schenkt. Im Spiel kann es zu anderen keine Verbindung aufnehmen und ein Geben und Nehmen findet nicht statt. Schon bei der kleinsten Herausforderung sucht sich das Kind eine neue Beschäftigung. Diese Sprunghaftigkeit stört beim Lernen. Auch sind die Beziehungen des Kindes nicht zufriedenstellend. Leicht reagiert es pingelig, rechthaberisch oder impulsiv. Seine Botschaft lautet: „Ich fühle mich unruhig und nichts, was ich tue, ändert etwas dran. Ich muss mich die ganze Zeit bewegen, denn ich finde keinen Zufluchtsort. Bitte hilf mir.“

Ihr Kind ist für keine dieser Verhaltensweisen zu tadeln. Diese entstehen, wenn es verletzt ist und nicht denken kann. Einige Kinder senden immer wieder dasselbe Signal, andere wechseln in ihrem Bemühen um Aufmerksamkeit vom einem zum nächsten. Der Umgang mit diesen Signalen fällt uns Eltern schwer. Wir wollen unsere Kinder anleiten, ertappen uns aber immer wieder bei den üblichen Reaktionen: Wir brüllen, schlagen, schimpfen und beschämen unsere Kinder oder zeigen ihnen die kalte Schulter, obwohl dies einem sich verloren und einsam fühlenden Kind in keiner Weise hilft.

Stattdessen können Sie nun mit tauglichen Strategien und dem Verständnis für die Bedeutsamkeit von Verbundenheit in Ihrer Familie die Tür zu mehr Herzlichkeit, Spaß, Lachen und angenehmeren Zeiten öffnen. Arbeit macht es schon, aber es ist keine Hexerei. Jeden Tag lernen Sie dazu. Dabei ist Verbundenheit der Schlüssel. Verbundenheit und Ihr starker Wille zur Liebe.

 

1 “Das zerbrochene Keksphänomen“, in: „Spielen schafft Nähe – Nähe löst Konflikte“ von Aletha J. Solter; Kösel Verlag 2015; Original: Attachment Play: How to solve children’s behavior problems with laughter and connection, Shining Star Press.