Love of Soul

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Es war sowieso alles peinlich genug, und ich schämte mich total.

„Ich bin ein Nachbar und sehe ab und zu nach dem Rechten, wenn die Hausherrin nicht da ist.“

Nadim holte unsere Klamotten.

„Drehen Sie sich bitte um. Wir müssen uns anziehen.“

Wir zogen uns schnell an. Der Hund, ein Boxer, sah genauso misstrauisch zu uns. Ich liebte zwar Hunde, aber der sah nicht gerade so aus, als könnte man zu ihm hingehen und ihn streicheln. Ich dachte, das sollte ich lieber sein lassen.

„Was macht ihr hier?“, fragte der Typ noch einmal.

„Wir sind Verwandte“, sagte Nadim.

„Davon hat mir Sabine gar nichts erzählt.“

„Hat sie vielleicht vergessen.“

Der Typ blickte misstrauisch zu uns. Er sah sich überall um, weil er uns nicht traute. Nadim nahm im Augenblick der Unaufmerksamkeit des Mannes meine Hand und rannte mit mir hinaus. Wir schwangen uns aufs Rad und fuhren los wie Bonnie und Clyde, die auf der Flucht waren. Der Hund lief uns nach, und der Typ schrie noch hinterher, dass er die Polizei anrufen würde. Nadim gab dem Hund mit seinem Fuß einen Tritt mit, dass er sich fast überschlug. Davor schien er Respekt zu haben, denn er rannte zurück zu seinem Herrchen.

„Gerade noch mal gut gegangen“, meinte Nadim. „Ferry hat gesagt, dass da einer ab und zu nachschaut, wenn die Eltern von Ferrys Freundin keine Zeit haben, aber dass es gerade jetzt kommen musste …“

Vielleicht war es besser so, dachte ich mir, weil ich wahrscheinlich sonst noch schwanger geworden wäre. Ich nahm keine Pille. Vielleicht hatte der Buddha doch auf uns aufgepasst.

Die Abendsonne tränkte die Landschaft in ein kitschig goldenes Licht. Als wir die Stadt erreichten, machten wir eine kurze Pause, weil mir wieder der Hintern wehtat. Die beleuchtete Stadt lag vor und die Natur hinter uns. Die Sonne küsste die Nacht, und Nadim küsste mich.

„Ich liebe dich“, sagte er.

„Ich liebe dich auch.“

Nadim fuhr mich nach Hause. Am liebsten hätte ich ihn mitgenommen, aber dafür war es schon zu spät, weil meine Eltern bestimmt bald kommen würden. Wir verabschiedeten uns wehmütig. Ich wusste nicht, dass ich ihn für lange Zeit nicht mehr sehen würde. Hätte ich es geahnt, hätte ich ihn mitgenommen und noch jeden Augenblick ausgekostet. Am nächsten Tag kam nämlich die Polizei zu uns. In der Eile musste Nadim beim Anziehen der Geldbeutel herausgefallen sein. Der Typ hatte die Tante von Ferrys Freundin angerufen, und die hatte natürlich gesagt, dass sie uns nicht kenne. Die Polizei meinte, dass wir eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch bekommen könnten. Sie meinte, dass wir Glück hatten, dass nichts gestohlen war. Nadims Vater war so sauer, dass er ihm eine Ohrfeige verpasste und er in die nächste Ecke flog, und meine Mutter gab mir zwei Wochen Hausarrest. Ferrys Freundin bekam ebenfalls Schwierigkeiten, weil sie uns den Schlüssel gegeben hatte. Da saßen wir ja alle schön in der Scheiße. Meine Mutter war so sauer, dass sie gar nicht mehr mit mir redete. Alles, was ich ihr sagte, interessierte sie nicht. Meine einzige Rettung war Oma. Ich erzählte ihr alles. Sie war nicht ganz so begeistert, aber sie hatte Verständnis für uns. Mit der Mutter von der Tante war sie befreundet, und die Tante hatte ihr mal ein Bild abgekauft. Oma malte, und genau das wollte ich später auch machen. Sie meinte, dass sie mit ihr reden würde. Wie klein die Welt doch wieder war, und was für ein Glück ich hatte, dass es Oma gab! Wir bekamen keine Anzeige, weil Oma alles hinbog. Die Tante war zum Glück auch sehr verständnisvoll und tolerant für jugendliche Nöte. Nadim und ich fuhren noch einmal hin und entschuldigten uns mit einem großen Blumenstrauß. Oma schenkte ihr ein Bild, und sie meinte, dass wir unsere Strafe schon bekommen hätten. Sie wusste, dass wir uns nicht mehr sehen durften, weil sich Nadims Eltern auch entschuldigt hatten. Nadim kam auch noch auf eine andere Schule. Das war wirklich die größte Strafe für uns. Das Letzte, was mir Nadim sagte, war, dass er für unsere Liebe kämpfen würde.

Die Briefe, die ich schrieb, bekam er nie, weil sie seine Mutter vorher abfing und zerriss. Ich litt wie ein Hund, der ausgesetzt worden war, und war todunglücklich, denn ohne ihn war ich nichts, nur irgendein Mädchen, das vielleicht irgendwann wieder einen Typen finden würde, um nicht alleine zu sein. Das im Innern wusste, dass es nie mehr so empfinden würde. Er war ein Teil von mir, der verloren gegangen war, und ich wusste nicht, ob ich diesen Teil jemals wiederfinden konnte. Der Schmerz war das Einzige, was übrig blieb; er ließ mich spüren, wie tief Nadim in mich eingedrungen war. Er war nicht mehr da, aber der Schmerz ließ mich spüren, dass er existierte. Ich klammerte mich an den Schmerz, weil ich mich dadurch mit ihm verbunden fühlte.

Ich wurde immer unglücklicher. Wenn meine Mutter wieder die ganze Nacht weinte, weil sie sich einsam fühlte, wenn Pa nicht da war, und sie wieder an Nico denken musste, dann war ich unglücklich. Wenn sie wie eine Furie auf mich losging, wenn ich etwas falsch machte, dann war ich unglücklich. Wenn sie meinen Hund Sammy nachts immer in den Keller sperrte, weil er winselte, um in meinem Bett zu schlafen, dann war ich unglücklich. Am liebsten hätte ich mich auch hinuntergelegt. Wenn sie mich vor fremden Leuten zur Sau machte, dann war ich unglücklich. Wenn mein Vater nachts kotzte, weil er wieder blau war, und am Morgen immer noch eine Fahne hatte, dann war ich unglücklich. Wenn wir ab und zu am Wochenende wegfuhren, artete es zu achtzig Prozent in einen Streit aus, und ich betete jedes Mal, bevor wir fuhren, dass es nicht dazu kam. Manchmal wünschte ich mir, dass mich das Auto damals zusammengefahren hätte. Jeder Tag, bis zu den Ferien, um endlich bei Oma zu sein, wurde eine Qual, und manchmal dachte ich, dass ich es nicht schaffen würde. Oma sagte immer, dass ich malen solle, wenn es mir nicht gut ging. Sie meinte, dass das die Traurigkeit vertreiben würde. Es war wirklich das Einzige, was mich ablenkte, und meine Tante sagte immer, dass ich das Talent von Oma geerbt hätte. Meine Noten wurden immer schlechter, und in einem Wahn zerriss meine Mutter meine ganzen Bilder, die ich mühsam gemalt hatte.

„Du taugst nichts“, schrie sie mich an. „Du sollst was lernen und nicht deine Zeit mit Malen vergeuden.“

Sie wollte ausholen und mir eine knallen, aber ich war schneller, denn ich holte aus, und zum ersten Mal, mit fünfzehn, erhob ich meine Hand gegen meine Mutter. Ich wollte nicht wieder ihren Ring am Kopf spüren.

„Ich weiß, dass es dir lieber wäre, wenn ich tot wäre und Nico leben würde“, schrie ich sie an.

Sie sah mich verdutzt an, ging in die Küche und weinte. Seitdem rührte sie mich nie wieder an. Sie tat immer so, als hätte sie gar kein Kind mehr. Sie hatte immer noch mich, aber ich war eben nichts, eine Ausgestoßene, die keine Rechte mehr hatte. Die Liebe meiner Mutter war mit Nico gestorben. Mein Vater war, wenn er nüchtern war, so hilflos. Er wusste überhaupt nicht, wie er mit mir umgehen sollte, und wenn er blau war, dann war er ganz nett, aber ich fand ihn dann immer ekelig. Das Weinen meiner Mutter konnte ich auch nicht mehr hören. Es war alles unerträglich geworden.

Eines Tages war auch Sammy nicht mehr da, als ich nach Hause kam. Sie meinte, dass wir keinen Hund bräuchten. Ich hatte meinen besten Freund verloren. Ich hatte noch Sabi, mit der ich jeden Tag verbrachte. Sie war meine beste Freundin und half mir immer, wenn es mir nicht gut ging. Sie war meine einzige Rettung.

Kapitel 2

Ferry, Nadims Freund, machte eine Geburtstagsparty, und ich war auch eingeladen. Ich traf ihn zufällig im Café Splash mit seiner Freundin wieder. Er wusste von unseren Problemen. Wir sahen uns nicht oft, aber wenn, dann fragte er mich immer: „Na, was ist mit Nadim?“ Darauf wusste ich keine Antwort. Ich sagte ihm immer, dass er ihm schöne Grüße ausrichten solle. „Ich glaube, ich muss mal nachhelfen“, meinte Ferry, als er mich zu seinem achtzehnten Geburtstag einlud. Sie feierten bei einem deutschen Freund, der sturmfreie Bude hatte. Ich konnte Nadim wiedersehen. Vielleicht hatte sich einiges geändert, schließlich war seit dem Ausflug ein Jahr vergangen, und außerdem war ich seit zwei Wochen der glücklichste Mensch, denn ich hatte Kontaktlinsen bekommen. Es war, als hätte ich ein neues Leben angefangen, und ich war gespannt, wie Nadim darauf reagierte. Die Typen in der Schule sahen mich auf einmal ganz anders an, aber die konnten mich mal, denn in meinem Herzen war Nadim. Meine Mutter wollte mich hinfahren. Sie hatte einen Job bekommen und setzte ihre ganzen Energien in ihre Karriere. Für sie war es wahrscheinlich ein Akt der Befreiung, weil mein Vater so geizig war und sie jeden Pfennig umdrehen musste. Ich sah sie fast gar nicht mehr. Ich kochte mir das Essen selber und wusch mir auch die Wäsche, denn wenn es nach meiner Mutter ginge, hätte ich nichts mehr zum Anziehen gehabt. Es war ein gutes Überlebenstraining. Um etwas Geld zu verdienen, weil ich auch ein paar Ansprüche hatte, jobbte ich als Babysitter. Meine Mutter kam viel zu spät, wie immer. Dazu kam auch noch, dass mir übel wurde und ich mich während der Fahrt übergeben musste, aber ich wollte da hin. Alle waren schon da, nur ich nicht. Das war wieder typisch. Als ich endlich ankam, kreideweiß im Gesicht und nach Kotze riechend, wäre ich am liebsten gleich wieder umgedreht, denn die meisten starrten mich blöd an, als wäre ich ein Marsmännchen, das gerade vom Himmel gefallen war. Wo war Nadim? Die Musik war so laut, dass meine Ohren schmerzten.

„He, magst du ein Bier?“, fragte ein Typ, den ich vom Sehen kannte.

Ich nahm die Flasche und trank einen kräftigen Schluck. Mein erstes Bier, aber das Zeug half, dass ich nicht gleich umkippte.

 

„Wo ist Nadim?“, fragte ich den Typen.

„Nadim? Ich weiß nicht, vorher war er noch da.“

Mein Magen war leer und knurrte. Ich nahm mir ein belegtes Brot und einen Krapfen. Damit wurde mein Geschmack auch etwas besser.

„Willst du tanzen?“, fragte der Typ.

„Nein, danke.“

Ich machte mich auf die Suche nach Nadim, fragte ein Mädchen, das ich vom Sehen her kannte, ob sie wüsste, wo Nadim steckte. Sie meinte, dass er vielleicht mit ihrem Freund Getränke holte, weil doch mehr Leute als erwartet kämen. Ich ging in den Garten, um frische Luft zu tanken, weil mir schon wieder schlecht wurde. Wahrscheinlich hatte ich einen Virus erwischt. Scheiße! Ausgerechnet heute, wo ich mich so auf Nadim freute! Ich ging ein paar Schritte, und was sah ich da, im Dunkeln, hinter Sträuchern? Nadim mit einer Tussi, die ein Kopftuch anhatte. Fehlte nur noch, dass er sie fraß, so tief war seine Zunge in ihr drin. Fassungslos stand ich da und war vor Schock wie gelähmt. Konnte keinen Schritt gehen. Die Tussi bemerkte mich zuerst und schaute mich verdutzt an. Als Nadim mich wahrnahm, sah er mich an wie ein Weltwunder.

„Du bist hier?!“, fragte er erstaunt. „Ich dachte, du kommst nicht mehr.“

Falsch gedacht, dachte ich mir. Die Tussi blickte mich total arrogant an, und dann grinste sie blöd.

„Lasst euch nicht stören“, sagte ich und ging völlig enttäuscht wieder hinein.

Da hatte er ja toll um unsere Liebe gekämpft! Jetzt wurde mir noch übler, und ich rannte schnell aufs Klo, wo ich mich wieder übergeben musste. Ich wollte nur noch weg von hier. Mein Nadim knutschte mit einer anderen herum. So ein Kotztag!! Bei meinen Küssen wäre es ihm wahrscheinlich auch vergangen, denn sie schmeckten bestimmt etwas säuerlich. Das Problem war, dass diese Tussi auch noch gut aussah, trotz Kopftuch. Ich wollte nicht nach Hause, aber hier bleiben auch nicht mehr. Ich wollte zu Oma. Ich ging zu den Getränken, wo eine Flasche Wodka stand. Vielleicht sollte ich den mal probieren. Als ich mir ein volles Glas einschenken wollte, hielt mich Marco, der Gastgeber, auf.

„So viel solltest du nicht davon trinken“, meinte er und nahm mir das Glas wieder weg.

Ich schenkte mir noch mal ein Glas ein, aber diesmal weniger. Ich trank es in einem Zuge aus. Mir brannte gleich der Hals, und ich bekam gleich einen Hustenanfall. Was war das denn für ein Teufelszeug?, dachte ich mir.

„Pur ist nicht so gut“, meinte Marco.

Mir wurde auf einmal total komisch. Ich wollte nur noch weg von hier. Es kam mir vor, als würde ich jeden Moment umkippen. Ich setzte mich auf einen Stuhl und kämpfte mit meiner Übelkeit.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte mich Marcos Schwester.

„Nein, nicht besonders. Ich glaube, ich gehe jetzt lieber.“

„Willst du jetzt schon gehen?“, fragte Marco.

„Mich hält hier nichts mehr.“

„Wegen Nadim? Ich kann dich trösten.“

„Danke, aber ich gehe jetzt lieber.“

„Ich fahre dich nach Hause“, meinte Marcos Schwester. „Du siehst ja wirklich nicht gut aus.“

„Wer ist sie eigentlich?“, fragte ich Ferry noch, bevor ich ging.

„Keine Ahnung, wie sie heißt. Sie ist Perserin und zu Besuch bei Nadim.“

Na toll, dachte ich mir. Wahrscheinlich war er ihr versprochen. Oh mein Gott, wie konnte ich nur so dumm sein und denken, dass er mich immer noch liebte? Er hatte mir ja auch schon seit einem halben Jahr keinen Brief mehr geschrieben, und als ich ihn mal zufällig gesehen hatte, war er kurz angebunden gewesen. Seine Eltern hatten ihn voll manipuliert und es auch noch geschafft, mich aus seinem Herzen zu reißen. Ich konnte es nicht glauben, dass dies mein Nadim war, der mich mal hatte heiraten wollen. Da hatte ich mich ja schön getäuscht. War doch bloß ein Märchen gewesen, das ich geträumt hatte.

Als ich gerade gehen wollte, kam Nadim herein.

„Warte“, sagte er. „Ich kann dir alles erklären.“

Er brauchte mir nichts zu erklären. Ich sah es auch so, war ja nicht blind.

„Lass mich in Ruhe“, sagte ich und ging.

Ich wollte ihn nie mehr sehen.

„Ich heiße übrigens Marina“, meinte Marcos Schwester.

„Ist Nadim dein Freund?“, fragte sie, weil sie alles mitbekommen hatte.

„Das dachte ich mir zumindest.“

„Verliebe dich nicht in einen Perser. Ferry hat mich auch schon angemacht, aber ich lass lieber die Finger davon. Der ist mir zu gefährlich.“

„Ja, vielleicht besser so. Außerdem hat er eine Freundin.“

Sie versuchte, mich auf der Fahrt aufzuheitern, aber es gelang ihr nicht. Auch der Satz „Andere Mütter haben auch schöne Söhne“ konnte mich nicht aus meiner Traurigkeit reißen.

Als Oma die Tür öffnete, blickte sie mich gleich sorgenvoll an.

„Du siehst ja fürchterlich aus“, sagte sie.

„Ich fühle mich auch so.“

„Hast du was getrunken? Du hast ja eine Fahne.“

„Ja, ein bisschen. Mir ist schlecht.“

„Schnell ins Bett mit dir. Ich mache dir einen guten Tee.“

Ich verkroch mich in die dicken Federbetten und ließ die blöde Welt hinter mir. In meinem Kopf drehte sich das Karussell des Lebens, und mit ihm schlief ich noch ein, bevor Omas Tee fertig war.

Nadim rief am nächsten Tag bei Oma an, weil er sich Sorgen gemacht hatte. Ich sagte Oma, dass ich ihn nicht sprechen wollte. Er war für mich gestorben. Es gab ihn nicht mehr. Mein Herz hatte ihn ausgelöscht. Schließlich hatte ich auch meinen Stolz.

Zu Hause schmiss ich vor Wut meinen Engel an die Wand. Mit gebrochenen Flügeln legte ich ihn in eine Schachtel, denn wegschmeißen konnte ich ihn nicht.

Ich malte wieder, und meine Bilder wurden immer besser. Die Schule versuchte ich so gut wie möglich zu schaffen, damit ich Kunst studieren konnte, denn das war das Einzige, das mich wirklich interessierte. Ich verbrachte jede freie Minute mit Sabi. Wir waren unzertrennlich bis zu dem Zeitpunkt, wo sie Marcel kennenlernte. Ab da hatte sie fast keine Zeit mehr für mich, weil er ihr wichtiger war.

Kapitel 3

Ich lag mit Anna auf der Terrasse und spielte Kirschkernweitspucken mit ihr. Ich wohnte bei ihr, seit ich meine Beziehung mit Thomas beendet hatte. Anna studierte Journalistik, war halb Spanierin, halb Deutsche, und ich hatte sie in dem Café kennengelernt, in dem ich bediente. Wir unterhielten uns öfter, weil wir uns sympathisch waren. Sie setzte sich auch immer in meinen Servicebereich. Eines Tages fragte sie mich, ob wir mal zusammen weggehen würden. Ab da waren wir dicke Freundinnen. Anna war für mich eine kleine Göttin. Sie war sehr hübsch mit ihrer langen schwarzen Mähne und ihrer kaffeebraunen Haut. Sie fand sich zwar immer zu mollig, aber ich fand sie weiblich. Sie hatte den großen Busen, den ich immer haben wollte. Thomas mochte sie nicht, weil wir uns zu gut verstanden, aber das war mir egal, denn Anna gab ich nicht auf, nicht wegen einem Mann. Anna arbeitete nebenbei bei der Zeitung ihrer Mutter. Der Job im Café war abwechslungsreich, und man lernte viele Leute kennen, genau das, was ich nach Thomas brauchte.

***

Die Zeit mit Thomas war eigentlich nicht erwähnenswert, zumindest nicht im Nachhinein, nur der Anfang und das Ende. Ich war froh, dass ich zu ihm hatte ziehen können, denn zu Hause hatte ich es nicht mehr ausgehalten, weil meine Mutter ständig an mir herummeckerte. Ich lernte ihn im Café kennen. Ich las vertieft in einem Buch. Es war so spannend, dass ich sogar meinen Cappuccino vergaß. Das Café war brechend voll, und ein Typ fragte mich, ob er sich an meinen Tisch setzen könnte. Ich bestellte mir noch mal einen Cappuccino, weil er kalt wirklich nicht schmeckte. Obwohl meine Oma immer sagte, dass kalter Kaffee schön mache. Das Rezept konnte ich ja mal anwenden, wenn ich vierzig war, vielleicht zauberte er dann meine Falten weg. Ich vertiefte mich wieder in mein Buch und vergaß die Welt um mich. Allerdings spürte ich, dass dieser Typ mich die ganze Zeit anstarrte. Vielleicht hatte ich ja was im Gesicht? Ich wischte mir mit der Hand darüber und las weiter, aber er starrte mich immer noch an. Ich konnte mich gar nicht mehr konzentrieren. „Kannst du vielleicht mal woanders hinschauen?“, fragte ich schließlich, weil es mich nervös machte. Er entschuldigte sich, weil er nicht wusste, dass ich es gemerkt hatte, aber sagte dann, dass er meine Mimik so süß fand, während ich das Buch las. Ich las wieder weiter, und dann meinte er, dass mein Cappuccino bestimmt wieder kalt werden würde, und fragte, ob er mir gleich noch einen bestellen solle. Er fragte mich, ob ich vielleicht auch noch ein Buch für ihn hätte, damit ihm nicht so langweilig wäre, oder ob ich mein Buch weglegen könnte, damit wir uns unterhalten könnten. Ich sagte ihm, dass da drüben Zeitungen lägen. Er meinte, dass es doch wesentlich schöner wäre, sich zu unterhalten, als wenn wir beide in ein Buch starren würden. Ich las weiter, dann starrte er mich wieder an. Der machte das absichtlich. Ich blickte ihn etwas genervt an. Wollte der mich ärgern?

„Keine Lust zu reden?“, fragte er dann.

Ich machte mein Buch zu, weil er mich sowieso weiter anstarren würde, damit ich mich nicht mehr konzentrieren konnte. Wir unterhielten uns zwei Stunden und merkten, dass wir viele Gemeinsamkeiten hatten. Wir konnten uns gar nicht trennen. Ich fand ihn sympathisch und er mich auch. Als wir uns verabschiedeten, hoffte ich, dass er mich fragte, ob wir uns wiedersehen sollten, aber er ging erst mal. Ich war etwas enttäuscht, aber als ich ein paar Meter weiterging, kam er noch mal und fragte mich, ob ich mit ihm am Wochenende ins Kino gehen wollte. Natürlich wollte ich. Voll verliebt ging ich nach Hause und sehnte das Wochenende herbei. Genau an dem Tag, an dem wir ins Kino gingen ‒ wir wollten die Spätvorstellung anschauen ‒, da kam Nadim mit Ferry und einer Tussi aus dem Kino. Ferry hatte eine Neue, und Nadim? Unsere Blicke trafen sich, und er lächelte mich an. Es gab mir einen Stich ins Herz, weil ich dieses Lächeln, bei dem ich dahinschmolz, wahrscheinlich nie mehr sehen konnte. Wehmütig sah ich ihm hinterher. Er blickte noch einmal zurück, als ginge es ihm genauso. Am liebsten wäre ich ihm nachgerannt, aber natürlich tat ich es nicht, sondern ging mit Thomas ins Kino, weil ich ihn nicht enttäuschen wollte. Im Kino stellte ich mir die Situation vor, dass Thomas nicht dabei gewesen wäre. Vielleicht war es besser so, wäre bestimmt nur Leidenschaft gewesen. Ich versuchte, Nadim zu vergessen und mich auf Thomas zu konzentrieren. Der Film und Thomas lenkten mich auch ab, weil er die ganze Zeit meinen Arm streichelte. Ab diesem Tag waren wir jeden Tag zusammen. Ich hoffte, durch ihn Nadim vergessen zu können. Ich verzichtete sogar auf mein Kunststudium, weil er meinte, dass ich lieber ein bisschen was dazuverdienen sollte. Ich sagte ihm, dass ich beides machen könnte, aber dann meinte er, dass ich keine Zeit mehr für ihn hätte. Er war selbstständiger Grafikdesigner, und ich half ihm oft, denn zeichnen konnte ich ja.

Mich nervte oft, dass er so konsumorientiert war. Er musste ständig etwas Neues haben und war immer unzufrieden, voll materialistisch eingestellt. Ich brachte ihn von diesem Trip nicht herunter. Ich vertraute ihm, denn wir hatten dieselben Interessen, konnten gut miteinander reden und kuscheln. Im Sex schlich sich schnell Routine ein, und ich fand ihn immer langweiliger; darum hatte ich auch nicht mehr so viel Lust dazu, und es wurde immer weniger. Er war eher der zärtliche Typ und ich der leidenschaftliche. Das passte irgendwie nicht so gut zusammen, aber ich gab mich damit zufrieden, denn er gab mir emotionale Sicherheit, und darum wollte ich mich auch nicht von ihm trennen. Vielleicht waren wir auch beide zu bequem, um etwas zu ändern. Ich hatte mich auf diese Liebe eingestellt und wollte es gar nicht mehr anders. Ich passte mich ihm an. Es plätscherte alles gleichmäßig dahin, keine besonderen Höhen, aber auch keine Tiefen. Wir hatten eine gemütliche Wohnung, einen Hund, zwei Katzen, gute Freunde, einen Volvo vor der Haustüre. Seine Mutter vergötterte mich und wollte gleich ein Haus für uns bauen lassen, weil sie noch ein Grundstück hatte. Thomas lehnte ab, weil er nicht neben seiner Mutter wohnen wollte. Das einzige Problem, das wir hatten: Er wollte ein Kind und ich nicht. Ich fühlte mich einfach noch nicht reif dazu. Ich sagte ihm, dass er noch warten müsste, und er drängte mich auch nicht mehr. Ich dachte mir wirklich, dass er mir nie im Leben fremdgehen würde. Aber da hatte ich mich getäuscht, weil er mich mit Sabi, der ich eigentlich vertraute und die ich ab und zu mit nach Hause brachte ‒ sie hängte sich nach der Trennung von Marcel wieder an mich dran ‒, schamlos betrog. Sie erzählte es mir, als wir zusammen essen gingen. Er hatte ihr gesagt, dass sie nichts sagen sollte, aber sie wurde von so einem schlechten Gewissen geplagt, dass sie es mir sagen musste. Ich stand auf und ging. Für mich war die Freundschaft mit ihr zu Ende. Jegliches Gefühl für ihn starb in Sekundenschnelle in einem Bombardement von Messerstichen. Alles, was übrig blieb, war ein sattes Rachegefühl, denn er sollte dafür büßen, dass er mich betrogen hatte, dass er unsere Liebe so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte. Wir hatten uns drei Jahre alles geteilt, also sollten wir auch das Ende teilen. Das Leid, das ich durch ihn erfahren hatte, sollte er in gleichem Maße durch mich erleben. Er sollte den Tod unserer Liebe genauso spüren, damit wir wussten, dass nichts davon übrig blieb, nicht die kleinste Hoffnung. Ich wollte nicht, dass so ein kleiner Samen übrig blieb und wieder zu wachsen begann, denn die Blume, die daraus entstünde, würde jämmerlich verdursten. Ich erstickte sie gleich im Keim, weil keine Liebe mehr da war. Ich konnte ihn nicht mehr lieben, weil das Vertrauen weg war. Ich nahm also Michael in unsere Wohnung mit. Er war Gitarrist in der Band von Thomas. Wegen Thomas hatte ich all seinen heimlichen Werbungen widerstanden. Das sollte vorbei sein. Er zeigte sehr viel Mitgefühl bei meinem Problem und spielte mein Spiel mit. Die Rache war das Einzige, was mich antörnte, und ich wusste gar nicht, wie lustvoll sie sein konnte, wenn man in ihr badete. Die Vorstellung, dass Thomas gleich zur Tür hereinkam, brachte mich erst recht in Ekstase, und als ich sein entsetztes Gesicht in der Tür erblickte, empfand ich nicht das kleinste Mitgefühl. Es war, als hätte mich ein Fremder angesehen. Als Michael weg war, beschimpfte er mich, eine Hure zu sein. Er schrie wie ein Wahnsinniger herum, schlug mir ins Gesicht und meinte, dass ich alles zerstört hätte. Worauf ich sagte, dass er alles zerstört hätte. Als ich weggehen wollte, hielt er mich am Arm zurück, kniete sich vor mich hin und flehte mich an, dass ich bleiben sollte, doch der Scherbenhaufen war zu groß, als dass man ihn hätte reparieren können. Ich sagte, dass er mich und sich nicht so erniedrigen sollte und dass es kein Zurück mehr gäbe. Als ich ging, weinte ich, aber nicht um Thomas, sondern um mich, weil ich nicht mehr wusste, wohin ich gehörte.

 

Anna fing mich auf. Sie bot mir gleich an, bei ihr zu wohnen, weil ihre Wohnung sowieso zu groß für sie allein wäre. Ich überlegte nicht lange und zog mit Venus, meinem Hund, den ich von Oma zum achtzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, ein. Sie wollte nicht einmal Miete verlangen, weil es die Eigentumswohnung ihrer Mutter war und sie kein Geschäft damit machen wollte. Ich wollte ihr aber trotzdem monatlich etwas geben. Zum ersten Mal seit Langem fühlte ich mich wieder frei und studierte endlich Kunst. Den Job wollte ich nebenbei weitermachen, denn schließlich brauchte ich auch Geld.

***

Ich lag wie ein Stück Blei in der Hängematte. Mein Kopf dröhnte von der letzten Nacht, und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ich da jemals wieder herauskam, außerdem hatte ich Bauchweh von den vielen Kirschen. In drei Stunden musste ich wieder ins Café und auf der Matte stehen. Die Sonne bemühte sich, meinen kalten, übernächtigten Körper zu wärmen. Sie tat so gut nach dieser erfolglosen letzten Nacht, was Männer betraf. Die zwei Spanier, mit denen Anna und ich fast einen Monat wie in Trance verbracht hatten, waren einfach verschwunden, ohne sich zu verabschieden. Wir waren zum Essen verabredet, aber sie kamen einfach nicht. Als Anna anrief, meinte der Bekannte, bei dem sie gewohnt hatten, dass sie schon am frühen Morgen wieder nach Spanien zurückgefahren waren. Ich hasste Abschiedsszenen ja auch, aber das war nun nicht gerade die feine Art. Anna und ich tanzten uns die ganze Nacht den Frust heraus.

„Was guckst du so nachdenklich?“, fragte Anna, während wir zusammen frühstückten.

„Ich koste gerade von meiner Suppe aus Illusionen, gewürzt mit Liebe und Optimismus, und hoffe, dass sie meinen Hunger eines Tages stillen wird.“

„Du wirst daran verhungern, glaube mir. Mein Opa sagte immer, dass einem das Leben schon die Träume aus dem Leib peitscht.“

„Da ist sicher was Wahres dran, aber ohne Träume ist das Leben so sinnlos.“

„Wie sagt man noch: Träume nicht dein Leben, sondern lebe deine Träume.“

„Ja, es wird an der Zeit, dass ich meine Träume lebe, ich weiß nur noch nicht wie.“

Wir schwiegen eine Weile und ließen uns noch ein bisschen von der Sonne verwöhnen.

„Du denkst an Manuel?“, fragte Anna, als mein Blick sehnsuchtsvoll in die Ferne schweifte.

„Nein, tue ich nicht. Er ist ja gar keinen Gedanken wert.“

„Schnuckelig waren sie ja schon.“

„Ja, sehr schnuckelig. Sie kamen mir vor wie zwei Stiere, und wir waren das rote Tuch. Sie hatten wahrscheinlich genug Übung.“

„Stimmt, sie haben uns hereingelegt, und wir sollten es zu den Akten der lehrreichen Erfahrungen legen.“

„Und am besten ein dickes Schloss daranmachen, weil sie langsam immer dicker werden.“

„Hättest du gedacht, dass uns so was passieren könnte? Ich meine, sahen wir so aus, als könnte man das mit uns machen?“

„Wahrscheinlich schon. Oh, ich würde sie am liebsten ans Bett fesseln und Miss Piggy von meiner alten Schule holen. Sie hat mindestens drei Zentner, nicht gerade die Schönste, aber unheimlich nett, und sie hasst Männer, weil sie von ihrem Stiefvater jahrelang sexuell missbraucht worden ist. Sie erzählte es mir während der Abschlussfeier, wo sie schon einiges getrunken hatte. Sie würde die zwei bestimmt fertigmachen, weil sie so viel Wut im Bauch hat, die für beide reicht. Zum Schluss könnten wir noch ein rotes Band um ihre Eier machen und so fest zuziehen, wie es geht. Zur Krönung noch ein Schleifchen, damit es nicht ganz so erbärmlich aussieht.“

„Ja, das ist gut. Sind wir eigentlich gemein?“

„Ach, nicht gemeiner als die.“

Wir hatten noch einige Einfälle, von denen ich aber nicht weiter erzählen will.

Am nächsten Tag sah die Sache schon wieder ganz anders aus. Als ich Anna in der Küche traf, sagte ich ihr, dass es vielleicht nicht die feine Art war, aber vielleicht doch die rettende, denn wer weiß, was sonst für eine Leidenschaft entstanden wäre. Anna gab mir recht und meinte nur: „Abgehakt.“