Der gefesselte Dionysos

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Als Orthos am darauffolgenden Sonntag erwachte, war er, was bei ihm eine Seltenheit war, glänzender Laune. Er hatte gestern 200 Drachmen an den Automaten gewonnen und für die nächsten Wochen sollte er keine Geldsorgen haben.

Bis zum Mittagessen konsumierte er seine üblichen Mengen an Kaffee und Tabak, beschwerte sich danach bei seiner Schwester über das verkochte Gemüse und gab dem Hofhund für seinen Ungehorsam ein paar Tritte in die Rippen mit. Es schien ein perfekter Tag zu werden …

Auch der übliche Spaziergang gestaltete sich äußerst unterhaltsam: Eine alte Frau wäre beinahe in einen Laternenpfahl gefahren nachdem er sie durch das Autofenster hindurch wegen Falschparkens angepöbelt hatte. Es konnte ja nicht angehen, dass die Leute ihre Autos überall abstellten wo es ihnen passte! Zwei Mal fiel ihm ein rothaariger Junge in den Gärten auf, der ihn von weitem zu beobachten schien. Doch sobald er sich zu nähern begann, verschwand das Kind.

So musste es sein, dachte er sich. Die Jugend sollte endlich wieder Ehrfurcht vor den Erwachsenen, insbesondere vor ihm, bekommen. Bald würde er auch das Baumhaus dieser drei ungezogenen Bengel auseinander nehmen die es gewagt hatten sich mit ihm anzulegen …

Wieder zu Hause angekommen änderte sich Orthos’ Laune jedoch schlagartig. Es war kein Bier mehr im Haus. Hatte er gestern Abend nicht noch einen halbvollen Kasten in der Küche stehen gehabt? Zuerst begann er an seiner eigenen Erinnerung zu zweifeln, die ihn in solchen Fällen des Öfteren im Stich ließ. Doch dann …

„GALATEIA!!“

Seine Schwester kam einen Augenblick später durch die Verbindungstüre des Hauses in seine Küche. Sie hatte dasselbe unförmige, grobe Gesicht wie ihr Bruder, war aber um einiges liebenswerter. Sie und ihr Mann hatten nie Kinder bekommen, so dass Orthos inzwischen diese Rolle in ihrer Familie eingenommen hatte.

„Was ist denn? Schrei doch nicht gleich so!“

„Ich schrei’ so viel ich will! Was habt ihr mit meinem Bier gemacht?“

„Was für Bier? Niemand war bei dir.“

„Es ist alles weg!!“

„Du hast bestimmt wieder alles selbst ausgetrun …“

„WAS? Der Kasten ist weg! Ich hatte einen Kasten und er ist weg. War bestimmt der andere! Sag’s! Gib’s zu!“ Mit dem anderen meinte Orthos für gewöhnlich seinen Schwager Minos, dessen Namen er nur ungern in den Mund nahm.

„Minos ist gestern Abend früh schlafen gegangen und seit heute morgen um sechs Uhr auf dem Feld. Er hat dir bestimmt nichts weggenommen.“

„Und wer soll’s sonst gewesen sein?“

„Du weißt doch, dass er kein Bier trinkt.“

„Klar, das ist immer eure Ausrede. Vielleicht will er’s mir nur wegnehmen; er gönnt’s mir nicht!“

Plötzlich dämmerte ihm eine neue Tatsache. „Und ich kann heute nicht mal neues kaufen. Sonntag!! Alle Geschäfte geschlossen. Scheiße!!“ Er ging langsam auf seine Schwester zu. „Ihr habt doch noch irgendwo Bier, oder? Ihr habt noch welches!“ Galateia wich langsam zurück. Sie spürte, dass ihr Bruder kurz vor einem Wutausbruch stand.

„Orthos, wir haben kein Bier … wirklich nicht … aber warte! Ja! Eine Flasche Birnenschnaps ist noch da von letztem Weihnachten.“ Orthos’ Gesicht entspannte sich etwas, aber er ging immer noch weiter auf Galateia zu.

„Und wo?“, fragte er drohend.

„Ich hol ihn dir gleich. Im Keller. Einen Moment.“ Sie war froh, ihren Bruder wieder beruhigt zu haben. Die Schnapsflasche ließ sie jedoch beinahe auf die Kellertreppe fallen als Orthos von Neuem zu schreien begann.

„AUCH ALLE ZIGARETTEN WEG!!!!! Wollt ihr mich verarschen? Komm sofort her!! KOMM HER!“

Galateia musste all ihr Können aufwenden um Orthos zu beruhigen. Sie war immer noch davon überzeugt, dass ihr Bruder das ganze Bier selbst ausgetrunken und alle Zigaretten geraucht hatte. Wahrscheinlich wollte er nur nicht wieder um Geld betteln. Unter keinen Umständen hätte sie sich jedoch getraut ihm ihre Vermutung ins Gesicht zu sagen.

Eine geschlagene halbe Stunde brüllte er durch das ganze Haus, schmiss den Küchentisch um und zerstörte die einzige Topfpflanze seiner Wohnung. Galateia brachte ihm in weiser Voraussicht das Abendessen in seine Wohnung, so dass ihr Bruder nicht auf die Idee kam mit Minos Streit anzufangen.

Gegen neun Uhr Abends schlief Orthos völlig benebelt in seinem verranzten Ledersessel ein. Er hatte drei Viertel der Schnapsflasche geleert nachdem er vergeblich das ganze Haus nach Zigaretten abgesucht und sogar noch in Oinos’ Bar darum gebettelt hatte. Nur um ihn wieder los zu werden drückte ihm der Wirt eine halbvolle Schachtel in die Hand und jagte ihn dann wieder auf die Straße.

Um halb drei Uhr Nachts wachte er mit höllischen Kopfschmerzen in seinem eigenen Erbrochenem auf. Kaum fähig sich auf den Beinen zu halten, wechselte er die Kleidung und musste sich erneut übergeben.

XI

Im Bewusstsein nun gewiss einen der schlimmsten Tage seines Lebens hinter sich zu haben, stolperte Orthos am nächsten Morgen komplett verkatert, nach Alkohol stinkend in den kleinen Getränkemarkt von Delphi und deckte sich mit drei Kästen Bier und einer Stange Zigaretten ein. Was ihn am meisten wurmte, war die Tatsache, dass er sich immer noch keinen Reim darauf machen konnte, was mit seinen Rauschutensilien geschehen war. Ein gewöhnlicher Dieb hätte doch mit Sicherheit andere Dinge mitgenommen! Und so fiel sein Verdacht immer noch auf seine Schwester und Minos.

Heute aß Orthos zusammen mit ihnen zu Mittag. Die Atmosphäre am Esstisch war bis zum Äußersten gespannt und keiner wagte als erster einen Ton von sich zu geben. Der schon wieder sehr beschwipste Orthos hatte sich bereits mehrfach an seinem neuen Biervorrat vergriffen und wartete nur auf eine Gelegenheit seine aufgestaute Wut abzubauen. Galateia setzte ihm zum Nachtisch einen „extra für ihn gebackenen“ Schokokuchen vor, doch ihre gute Absicht wurde als Bestätigung des erwähnten Verdachts aufgefasst.

„SOLL DAS DIE ENTSCHULDIGUNG DAFÜR SEIN, DASS IHR MIR MEIN ZEUG WEGNEHMT?“, brüllte er mit vollem Mund in die Stille hinein und besprühte dabei das Gesicht seiner Schwester mit ein paar Schokostückchen.

Und schon war der Streit in vollem Gange. Alle sprangen von ihren Stühlen auf und Minos zog seine Frau schützend hinter sich. Nachdem man sich ein paar Minuten aufs übelste beschimpfte, Minos seinem Schwager versicherte er würde ihn, Verwandter hin oder her, beim nächsten Aussetzer vor die Tür werfen und Galateia daraufhin in hemmungsloses Schluchzen ausbrach, schmiss Orthos den Rest des Kuchens an die Wand, spuckte auf den Fußboden und schlug die Verbindungstür mit solcher Gewalt zu, dass das kleine Fenster darin hinaussprang und am Boden zerschellte. Verwirrt ging er im Hof auf und ab und wartete trinkend auf etwas, von dem er nicht wusste was es sein sollte. Heute war ihm nicht nach Spazierengehen zumute.

Schweigend und mit bösen Blicken fuhren kurze Zeit später Galateia und Minos auf dem Weg zum Feld mit ihrem Traktor an ihm vorbei. Brauchte seine Familie nur einen Vorwand um ihn endlich hinauswerfen zu können? Nahmen sie ihm sein Bier und die Zigaretten weg um ihn zu provozieren? Erneut mit zwei Flaschen ausgerüstet, ließ er sich im Garten auf der anderen Seite des Hauses nieder und versuchte seine verwirrten Gedanken zu ordnen.

Als Orthos eine knappe Stunde später wieder Wohnung betrat, entfuhr ihm ein Schrei.

Wieder war alles wie vom Erdboden verschluckt: Die Bierkästen und die ganze Stange Zigaretten. Ihm schwindelte. Was geschah hier? Er hatte doch den Alkohol gerade eben noch neben dem Kühlschrank und die Zigaretten auf dem Küchentisch mit eigenen Augen gesehen. Aber Galateia und Minos waren weg und wer sollte es sonst gewesen sein? War einer der beiden zurück gefahren nur um ihn zu beklauen? Nein, das konnte – selbst er – sich nicht vorstellen. Orthos spürte Angst in sich aufsteigen.

Es scheint mir eine Unmöglichkeit die Gefühle und Gedanken adäquat wiederzugeben, die in diesen Moment um Orthos kreisten. Jedenfalls verlor er spätestens ab dem Zeitpunkt komplett die Kontrolle über sich, als er bemerkte, dass sein Fernseher nicht mehr funktionierte. Wild schlug er auf dem armen Gerät herum bis es schließlich vom Regal fiel.

Anschließend ging er, inzwischen vollständig betrunken, erneut zum Getränkemarkt und gab 90 seiner 130 Drachmen für die nächste Fuhre Alkohol und Rauchwaren aus.

Zu Hause schloss er sich völlig paranoid in der Wohnung ein. Die Einkäufe lagerte er in einem schmalen Durchgang zwischen seinem eigenen Keller und dem der Scheune, der von beiden Seiten gut geschützt war. Diesen schmalen Schacht, der circa einen Meter hoch und 70 cm breit war, hatte er oft als Kind benutzt um unbemerkt von zu Hause zu entkommen. Orthos war sich sicher, dass er der einzige war, der diesen Gang kannte. Sein Großvater Kerberos hatte ihn ihm einst im Flüsterton gezeigt.

Wehmütig dachte Orthos an Kerberos. Was war er nicht für ein Mann gewesen? Von kräftiger Statur, stolz und herrisch. Jeder respektierte ihn, ja hatte sogar Ehrfurcht vor ihm. Niemals hätte es jemand in der Familie gewagt sein Wort anzuzweifeln. Alle taten was immer er sagte; und was er sagte war stets das Richtige.

Den Rest des Tages bis zum Nachmittags lief er in der Küche auf und ab, spähte ständig aus dem Fenster und erschrak jedes Mal, wenn der Hund im Hof einen Laut von sich gab. Am Abend hielt er es schließlich nicht mehr aus. Das Haus schien ihn wahnsinnig zu machen und er ging in Oinos Bar, natürlich erst nachdem er sich doppelt und dreifach versichert hatte, dass auch alle Türen abgeschlossen waren. Er ließ sogar seinen eigenen Schlüssel von innen im Schloss stecken und verstopfte die Verbindungstüre zur Wohnung seiner Schwester. Mit Mühe und Not quetschte er sich durch den schmalen Durchgang im Keller und kam verdreckt und schnaubend hinter der Scheune hervor.

 

Der dunkle Abend war unheimlich. Wäre Orthos nicht so betrunken gewesen, hätte er sich vermutlich überhaupt nicht vor die Türe gewagt. Überall um ihn herum schienen im Schatten versteckte Dämonen zu lauern die sich scheinbar darauf verschworen hatten ihm sein Leben schwer zu machen. Er spürte grausame, kalt berechnende Augen auf sich, die nur darauf warteten, dass er stehen blieb während die langen, noch fast kahlen Fangarme der Bäume die sich im Mondlicht emporhoben, ihn jeden Moment packen und mit sich reißen würden.

Bei Oinos lachte man ihn aus als er verwirrt, dreckig, stinkend und betrunken an den Tresen torkelte. In einer halben Stunde verspielte er seine letzten 40 Drachmen und johlte danach durch die Bar er müsse unbedingt nach Hause gefahren werden, sonst würden ihn die Bäume schnappen und zerreißen.

„Habt ihr nich ihre Fangarme gesehen?? Nich gesehen? Oh, ihr armen Teufel!!“

Oinos musste schließlich ein Taxi rufen und vorerst selbst bezahlen, da sich keiner der anderen Gäste als Fahrer zur Verfügung stellte. Natürlich fanden auch diese paar Drachmen den Weg in sein kleines, schwarzes, penibel geführtes Buch.

Zu Hause angekommen, zogen Minos und Galateia den schweren Orthos aus dem Taxi.

„Ham die Fangarme euch noch nich gekriegt ihr glücklichen? … Galateia hol mir ein Bier; hol mir sofort n Bier! Dann können sie mich nich kriegen …“

„Gar nichts hol ich dir. Du musst dich jetzt ausschlafen und ausnüchtern. Und morgen früh musst du dich als erstes waschen. Wie du stinkst …“

„Schlafen? Ich kann nich schlafen, Galate … die Fangarme … und HOL MIR ENDLICH …!“

Orthos schaffte es nicht mehr seinen Befehl auszusprechen. Er hustete und erbrach über sich selbst, seine Schwester und den Fußboden. Galateia ließ ihren Bruder vor Schreck und Ekel los. Minos allein schaffte es jedoch nicht ihn zu halten und der schwere 120 Kilo-Mann schlug bewusstlos auf dem Boden auf.

Zwanzig Minuten später hatten es die beiden schließlich geschafft Orthos zumindest die voll gebrochene grüne Latzhose auszuziehen und ihn in sein Bett zu hieven. Galateia konnte in dieser Nacht kein Auge zu machen. Ständig lief sie hinüber in die Wohnung ihres großen Bruders und sah nach ob er noch atmete und nicht schon an seinem Erbrochenem erstickt war, wie es so oft bei Menschen seines Schlags passierte.

XII

Doch am nächsten Morgen um sieben Uhr war Orthos noch am Leben. Galateia brachte ihm ein kräftiges Frühstück, bestehend aus Eiern, Toast, Obst, Kaffee und Orangensaft und war überrascht ihn wach vorzufinden. Heute würde sie nicht mit aufs Feld gehen. Zum einen weil sie immer noch Angst hatte ihrem Bruder könne etwas zustoßen und sie zum anderen mit ihm zum Arzt wollte. Waren sein Körper und Geist doch in einem mehr als besorgniserregenden Zustand.

Nur einige einzelne Laute von sich gebend nahm er leer geradeaus starrend seine Mahlzeit ein. Allein an seiner Essgeschwindigkeit, die sonst um das vielfache höher war, spürte Galateia, dass mit ihm etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Doch für einen kurzen Augenblick war Orthos von einem seltsamen Gefühl ergriffen. Er freute sich als er seine Schwester sah, freute sich, dass sie ihm Frühstück brachte und ihm beim essen zusah. Ein seltenes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab als er in Galateia’s helle, gütige Augen sah.

„Du musst dich nachher gleich waschen und umziehen. Dann gehen wir zum Arzt.“

Diese Worte reichten aber bereits aus um das schöne Gefühl zu verscheuchen. Sein Blick versteifte sich wieder und er musste unwillkürlich an den schmalen Gang im Keller denken und was darin lag; oder vielleicht nicht darin lag.

So folgte Orthos weder ihrer Bitte sich doch endlich umzuziehen und zu waschen, noch hatte er die kleinste Lust zum Arzt zu gehen. Das einzige was ihn gerade interessierte war der Keller. Sobald er wieder aufrecht stehen konnte jagte er als erstes Galateia aus der Wohnung und stieg dann, so schnell es sein Zustand erlaubte, die alten, knarzenden Holzstufen hinunter. Jetzt musste er nur noch das Weinregal beiseite rollen. Ein Schauer überlief ihn – Der Gang war leer.

Orthos Finger verkrampften sich im Holz des Regals und vor seinen Augen begann es zu flimmern.

Ein weißer Zettel lag an der Stelle an der eigentlich seine Vorräte stehen sollten. Mit zitternden Händen hob er ihn auf. Es stand nur ein Satz darauf, doch es erforderte all seine Konzentration ihn richtig lesen zu können:

Am Baumhaus warten wir auf dich!

Die Worte prallten auf ihn ein wie eine Sturmflut kalten Wassers. Wie konnte jemand außer ihm von dem Gang wissen? All seine Angst und Verwirrtheit verwandelte sich auf der Stelle in grenzenlose Wut. Endlich hatte er eine Erklärung; endlich wusste er, dass er nicht völlig den Verstand verloren hatte; und endlich konnte er sich an jemandem rächen. Und wie er sich an diesen unverschämten, kleinen Bastarden rächen würde.

Orthos spürte wie die Kraft langsam in seine Glieder zurückkehrte. Als hätte er noch nie etwas anderes vorgehabt, ging er die Treppe nach oben und zog sich an.

„Was tust du? Wo gehst du hin?“ Galateia war wieder in der Wohnung.

„Lass mich in Ruhe. Ich muss meine Sachen zurück holen.“

„Was für Sachen? Orthos, du brauchst Ruhe und musst dringend zum Arzt. Du bist krank …“

„Mein Bier. Meine Kippen. Das was sie mir geklaut haben. Denen werd’ ich’s zeigen!“

„Was redest du da?“ Sie trat an ihn heran. „Bitte … hör auf zu trinken, du …“

„LASS MICH IN RUHE HAB ICH GESAGT“, schrie er und schlug seiner Schwester mit voller Wucht die flache Hand ins Gesicht. Galateia schlug auf dem Boden auf während Orthos schon draußen auf dem Hof war und zielstrebig Richtung Wald lief.

Jetzt galt es seine Ehre und seinen Stolz wiederherzustellen. Nur dieser Gedanke beherrschte ihn und keine Sekunde dachte er daran, was ihn wohl im Wald erwarten würde.

Nach ein paar Minuten musste er dennoch kurz anhalten und nach Luft schnappen. Sein Körper war immer noch geschwächt.

„Was is denn los Orthos? Wohin biste denn so zielstrebig unterwegs?“ Er erschrak. Diogenes stand auf der anderen Straßenseite und sah ihn interessiert, ja sogar leicht amüsiert an.

Orthos starrte ihm feindselig in die Augen, würdigte ihn aber keiner Antwort und ging weiter.

Er war auf dem Feldweg auf dem sich einige Tage zuvor Dionysos und Apollon vor ihm versteckt hatten, als er erneut stehen blieb. Dieses mal nicht vor Müdigkeit – er hatte ein seltsames Rascheln im Gebüsch gehört. Orthos drehte sich um; doch er war zu langsam … das letzte was er sah bevor er einen Schlag auf dem Kopf verspürte war ein Paar eindringlicher, tiefblauer Augen.

XIII

Mit stechenden Schmerzen im Kopf kam Orthos langsam wieder zu Bewusstsein. Instinktiv wollte er sich an die pochende Stelle greifen doch er konnte sich nicht rühren. Auch sehen konnte er nichts. Irgendetwas war auf seinen Augen. Laub knisterte unter seinem Gewicht und mit seinen gefesselten Händen konnte er den Baum fühlen an den man ihn gebunden hatte. Auch der Geruch kam ihm bekannt vor. Er musste im Wald sein.

„HEEEEE! HALLO!?“, schrie er in die Stille hinein doch es kam keine Antwort. Nur das leise Rascheln der Bäume im Wind war zu hören. Er bekam Angst. Was ging hier vor? Wer hatte ihn hierher verschleppt. Waren es vielleicht gar nicht die Kinder die ihn aufs Kreuz gelegt hatten, sondern jemand anderes der ihm etwas schlimmes antun würde?

„HALLO???“, rief er erneut mit verzweifelt krächzender Stimme. Eine gute halbe Stunde lag er so da; gefesselt an einen Baum, allein im Wald. Seine Rufe wurden immer lauter. Er wandte sich in alle Richtungen; bäumte sich auf, doch die Seile waren zu stark.

Plötzlich vernahm er Schritte auf dem Waldboden; langsame Schritte von vielen Füßen.

Panik kroch seinen Rücken hinauf und ließ ihn zittern.

„Wer ist da? WER IST DA? Lasst mich frei … Was wollt ihr?“ Er wimmerte beinahe schon. Alle Ereignisse der letzten Tage kamen ihm wieder wie ein harter Schlag ins Gedächtnis. Auch die grausamen Fangarme der Dämonen und ihre finsteren, rot glühenden Pupillen erschienen vor seinem geistigen Auge.

„Hört auf! Bitte hört auf!“, schrie er.

Es trat wieder Stille ein. Doch auf einmal war jemand ganz nah bei ihm. „Hör auf!! LASS MICH IN RUHE! BITTE! HÖR AUF!“

Orthos spürte Hände auf seinem Gesicht. „LASS MICH LOS!“

Man nahm ihm Augenbinde ab und vor ihm eröffnete sich ein Bild wie er es Zeit seines Lebens nie mehr vergessen würde: zehn bis zwölf Gestalten standen zwischen den dichten Bäumen, in weiten, schwarzen Kutten, die Kapuzen weit ins Gesicht gezogen und alle mit lodernden Fackeln in den Händen. Es war ziemlich dunkel obwohl es erst Mittag war. Man musste ihn tief in den Wald geschleift haben. Um ihn herum war ein hoher Haufen aus Ästen und Heu gelegt worden. Seine Augen weiteten sich erneut vor Schreck.

„Was habt ihr vor? Bitte lasst mich frei! Lasst mich frei!“ Tränen der Angst liefen an seinen Wangen herab. Er sah zu der Gestalt neben ihm, die ihm die Binde abgenommen hatte und sein Herz blieb beinahe stehen: Das Gesicht unter der Kapuze war pechschwarz, doch das war noch nicht das Schlimmste. Es waren die Augen: schwarze, ausdruckslose Löcher.

Orthos schrie. Hatten sich seine Albträume bewahrheitet? Würden ihn die Dämonen heute kriegen?

„RUHE!“, rief plötzlich eine der Gestalten. Orthos erkannte nun, dass auch die anderen alle schwarze Gesichter hatten. Als die Stimme fortfuhr zu sprechen, wimmerte er nur noch leise vor sich hin.

„Der hier anwesende Orthos wird folgender Verbrechen für schuldig befunden: Er hat ohne ersichtlichen Grund, nur aus Lust an der Grausamkeit die Kinder von Delphi geschlagen, getreten, ihnen Angst gemacht, sie angebrüllt, eingeschüchtert und gedemütigt. Dazu kommt noch, dass er seine Familie, insbesondere seine Schwester wie den letzten Dreck behandelt und auch gegen sie die Hand erhoben hat. Das Gericht von Delphi hat entschieden, dass es auf der ganzen Welt keine erbärmlichere, schlimmere und bösere Kreatur als diese gibt.

Deswegen verurteilen wir ihn zum Tode durch den Scheiterhaufen. Möge Gott seiner armen Seele gnädig sein. VOLLSTRECKEN!“

Fünf der in den Kutten Vermummten traten hervor. Langsam gingen sie im Gleichschritt auf Orthos zu der wie am Spieß zu schreien begann.

„NEIN! HÖRT AUF! HÖRT AUF!“ Als die Fünf sich im Kreis um ihn verteilt hatten bewegten sich ihre Fackeln auf den Holzhaufen zu.

„ICH MACH NIE MEHR WAS!“, schrie er weiter. „ICH LASS DIE KINDER IN RUH’! AUCH MEINE SCHWESTER. HÖRT AUF! NIE MEHR TU ICH JEMANDEM WAS!“

An einigen Stellen flammte das Heu auf und Rauchschwaden stiegen nach oben. Orthos fühlte bereits die Hitze des Feuers. Immer lauter und flehender wurden seine Schreie doch die fünf Gestalten schürten weiter das Feuer bis beinahe der komplette Kreis um ihn herum in Flammen stand.

„ICH SCHWÖRS! NIE MEHR! ICH SCHWÖRS!“ Orthos schloss die Augen und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Sie schienen es tatsächlich ernst zu meinen … die Dämonen hatten ihn erwischt.

„GENUG!“, rief wieder die Stimme von vorhin.

Als nächstes hörte er Zisch- und Dampfgeräusche. Das Feuer wurde gelöscht und die fünf die es angezündet hatten wichen vor ihm zurück. Es herrschte wieder Stille.

Orthos war von oben bis unten durchgeschwitzt und wäre beinahe wieder ohnmächtig geworden.

Die bekannte Stimme meldete sich wieder: „Das nächste Mal nehmen wir kein Wasser mit.“

Wieder ging einer der Vermummten auf Orthos zu, doch dieses Mal wurden seine Fesseln an den Händen durchgeschnitten. Er war nur noch mit dem Bauch an den Baum gebunden. Man warf ihm ein Messer vor die Füße und danach rannten die Gestalten in den Kapuzen in die Tiefen des Waldes hinein.

Es war schon später Nachmittag als Orthos wieder die Kraft hatte seine Fesseln durchzuschneiden. Lange hatte er dagelegen und nachgedacht. Beim Aufstehen versagten jedoch seine Beine ihren Dienst und er fiel wieder auf den Waldboden. Seine schweißnassen Klamotten ließen ihn inzwischen frieren und immer noch pochte sein Schädel unbarmherzig vor Schmerzen.

 

Er brauchte eine gefühlte Ewigkeit bis er wieder das heimische Grundstück erreichte und war glücklich auf dem Weg niemanden begegnet zu sein. Doch ihm graute davor durch die Haustür zu schreiten. Er wusste was er darin vorfinden würde und was er zu tun hatte: Seine Schwester um Verzeihung bitten! Die Garage war noch leer, also musste Minos immer noch auf dem Feld sein und somit hatte er vielleicht die Chance Galateia zu besänftigen, so dass ihr Mann nie etwas von seiner Ohrfeige erfahren würde. Denn dann hätte er mit Sicherheit alle Karten verspielt und müsste in einem Obdachlosenheim oder auf der Straße leben.

Er fand seine Schwester mit verquollenem Gesicht im Wohnzimmer sitzen, das dunkelblonde Haar komplett zerzaust. Erwartungsvoll und leicht ängstlich sah sie ihn an. Orthos öffnete den Mund, doch – nichts. Er schaffte es nicht seiner Stimme einen Laut zu entlocken. Wieder fingen seine Beine an zu zittern und plötzlich schossen ihm Tränen in die Augen. Er senkte seinen Blick. Orthos konnte es nicht zulassen, dass man seine Tränen sah. Und er konnte auch nichts sagen; nur mit verkrampften Händen vor ihr stehen und auf den Boden schauen, unfähig einen Weg zu finden seiner Schwester das Vorgefallene zu vermitteln. Auf einmal kam ihm seine Idee sich zu entschuldigen endlos dumm vor. Er wusste, dass es seine endgültige Niederlage sein würde, wenn er jetzt hier vor ihr auf den Boden stürzte, in Tränen ausbrach und sie um Verzeihung bat. Hätte sein Großvater Kerberos jemals so etwas getan? Allein die Vorstellung war lächerlich. Ja, vielleicht hatten ihn die Kinder besiegt aber nicht auch noch seine Schwester; alle nur nicht sie. Lieber würde er auf der Straße leben als seine Würde auch noch vor ihr zu verlieren.

Ihr Schweigen irritierte ihn. Normalerweise hätte sie ihn schon mit Fragen bombardiert: Wo er denn gewesen war, wieso er so dreckig sei, woher er die Wunde am Kopf hatte usw., usf. – Doch die Fragen blieben aus. Sie saß immer noch da und sah ihn an; inzwischen nicht mehr ängstlich, sondern enttäuscht und – zum ersten Mal überhaupt – mit einem Hauch von Verachtung.

Orthos sagte nichts weiter. Er senkte den Blick und verließ das Wohnzimmer.

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