Einsiedlerkrebs

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SONNTAG, 23. FEBRUAR 2020

Mein Laptop streikt. Vermutlich war ihm das, was ich ihm in den letzten Tagen gefüttert habe, ebenso zu viel wie mir. Auf einmal lässt er sich in meinem Zimmer im Krankenhaus nicht mehr einschalten, deshalb kann ich erst heute weiterschreiben. Eine kleine Pause von den Eindrücken und Erlebnissen der letzten Woche hat mir allerdings eh nicht geschadet. Nach einer Reihe von Infusionen durfte ich am Donnerstag das Spital verlassen. Die Ärzte haben mir gleich zwei gute Nachrichten nach Hause mitgegeben. Die Therapie dauert voraussichtlich »nur« bis Ende Mai, also gut zwei Monate kürzer, als ich zuerst gedacht habe. Ich bin mir dabei nicht ganz sicher, ob ich etwas falsch verstanden habe, oder die Ärzte die Therapie geändert haben. Und die noch viel bessere Nachricht: Schon nach den ersten paar Tagen sind die Entzündungswerte in meinem Blut massiv zurückgegangen. Als mir der Ober-Doc diese Nachricht überbringt, spüre ich zum ersten Mal so etwas wie Erleichterung. Wie aus dem Nichts heraus balle ich meine Hand zu einer Siegesfaust und stoße einen leisen Freudenschrei aus.

»Das Blutbild ist wirklich schön. Es ist alles so, wie es sein soll«, sagt der Herr Primar und gibt meiner Freude damit neuerlichen Aufschwung. So, jetzt erst einmal nach Hause. Meine Mutter ist gekommen, um mich abzuholen. Mit meinem kleinen Koffer und allerhand Mitbringsel, die mir Freunde ins Spital gebracht haben, machen wir uns auf den Weg. Kurz wollte ich in den Arztbrief hineinlesen, doch die ersten Worte und medizinischen Fachausdrücke haben mich gleich von der Idee abkommen lassen. Es ist zwar nicht so, dass da irgendetwas Neues drinstehen würde, aber alles nochmal schwarz auf weiß zu lesen dreht mir kurz den Magen um.

Zum Glück nur sprichwörtlich. Denn mein Appetit ist auch nach den Unmengen an Flüssigkeiten, die in den letzten Tagen durch meinen Körper geronnen sind, noch da. In der elterlichen Wohnung bekomme ich Palatschinken mit Marillenmarmelade. Eine herrliche Abwechslung zur Krankenhauskost. Kaum habe ich sie aufgegessen, überfällt mich eine Müdigkeit, die ich in diesem Ausmaß bisher kaum gekannt habe. Wie ein Kartoffelsack liege ich auf der weißen Eckbank und mir fallen die Augen zu. Auch als Alex kommt, um mich abzuholen, werde ich nicht munter und werde es an diesem Tag auch nicht mehr. Das Wochenende, so haben wir beschlossen, verbringen wir im Sommerhaus meiner Eltern in Pitten. Alex hat alles zusammengepackt und wir machen uns mit unserem Auto auf den Weg.

Kaum verlassen wir die Stadtgrenze, macht sich in mir ein Gefühl der Freiheit breit. Irgendwie spüre ich, wie der Druck, die Angst und die Bilder der letzten Tage hinter mir bleiben. Ich mache die Augen zu und lasse mir von der Sonne in meinem Gesicht das Blut durch meine Lider rot aufleuchten. Die einstündige Autofahrt vergeht wie im Flug, das Wochenende leider nicht. So sehr ich mich auf die Entspannung und Erholung gefreut habe, so sehr will und will sie nicht einsetzen. Die Gedanken in meinem Kopf drehen sich im Kreis, ich merke, wie mein sonst sehr fitter und starker Körper durch die Behandlung geschwächt ist. So soll das jetzt die nächsten Wochen weitergehen? Wie soll ich das schaffen?

Ich merke, wie sich Verzweiflung in mir breitmacht, die mir auch niemand in meiner Umgebung nehmen kann. Stundenlang liege ich auf der Couch oder im Bett und fühle mich wie ein überreifer Apfel, der nur noch mit einer Faser seines Stängels am Baum hängt und mit aller Kraft versucht, nicht auf den Boden zu fallen. Bisher gelingt es mir, auch durch das Schreiben dieses Tagesbuches.

DIENSTAG, 25. FEBRUAR 2020

Während der Karneval in Venedig wegen des Coronavirus (da war ja noch etwas, gefühlt allerdings noch ganz weit weg) abgesagt wurde, findet bei mir im Spitalszimmer eine Maskerade der etwas anderen Art statt. Es gibt sozusagen Chemo-Nachschlag in Runde eins. »Ende des ersten Zyklus« nennt sich das in der Medizinersprache. Nachdem mir zeitig in der Früh Blut abgenommen wurde und ich von Blutdruck bis Sauerstoffsättigung durchgecheckt wurde – das passiert von nun an vor jeder Behandlung – klopft es plötzlich an der Tür. Einer der Oberärzte öffnet sie, gefolgt von einer Entourage von Jungärztinnen und -ärzten sowie einer Krankenschwester. Sie alle sind maskiert. Allerdings nicht mit so kunstvollen, handgearbeiteten Masken wie in Venedig, sondern mit hellgrünen Spitals-Schutzmasken. »Wie wir es erwartet haben, ist die Anzahl Ihrer weißen Blutkörperchen durch die Therapie massiv gesunken. Deshalb müssen Sie ab sofort besonders vorsichtig sein. Das heißt, entweder Sie oder alle anderen müssen eine Maske tragen, um eine Ansteckung mit einem Virus oder einem Bakterium zu verhindern. Aber es läuft alles so, wie es sein soll.« Diesen letzten Satz höre ich fast nicht. Vielmehr manifestiert sich in mir der nächste Schock: Isolation. Maske. Immunsystem im Keller. Lauter Dinge, die ich vorher schon wusste, aber wie so oft in diesen Tagen: Wenn sie dann da sind, ist es noch einmal etwas anderes.

An die hellbraune Türe meines Zimmers wird ein folierter Zettel mit der Aufschrift »Schutzisolierung« geklebt, davor ein kleiner Wagen mit allerhand Hygieneartikel geparkt. Denn ab sofort darf das Krankenhauspersonal sowie Besuch nur noch mit Maske und Handschuhen zu mir ins Zimmer kommen. Ich fühle mich wie ein Aussätziger. Doch eine meiner Lieblingskrankenschwestern beruhigt mich gleich: »Das hat nichts damit zu tun, dass du krank bist, sondern ist dafür da, dass du nicht krank wirst.« Aber immerhin: Meine Blutwerte sind gut genug, damit wir mit der nächsten Infusionsrunde starten können. Der Chemo-Nachschlag ist im Gegensatz zur ersten Ladung fast ein »Portiönchen«. Zwei kleine Infusionen à zehn Minuten rinnen in mich hinein, fertig. Unglaublich, wie schnell ich mich an diesen Vorgang gewöhne, obwohl ich mein Leben lang bisher keine einzige Infusion bekommen habe.

Zur Sicherheit bleibe ich noch eine Nacht im Krankenhaus, um zu sehen, wie ich das Ganze vertrage. Zum Glück macht mein Körper ganz gut mit und so verbringe ich den Tag im Krankenhaus mit Herumgehen, Zeitunglesen und Fernschauen. Und egal wo ich hinschaue: Ohne Desinfektionsmittel und Schutzmaske komme ich nicht aus. Denn wie die Ironie des Schicksals es will, fällt meine Krankheit zeitlich genau mit dem Ausbruch des Coronavirus zusammen. Nie in meinem Leben habe ich mich mit Hygienemaßnahmen beschäftigt, jetzt tut es die ganze Welt. Wie geht richtiges Händewaschen? Welches Mittel tötet Bakterien und Viren ab? Soll man draußen eine Schutzmaske tragen? Wie gefährlich ist das neue Virus für Menschen? Auf letztere Frage gibt es immer eine Antwort: Vor allem Leute mit schwachem Immunsystem sollen aufpassen.

Bis vor wenigen Wochen hätte ich nicht zu dieser Gruppe gehört, jetzt ist das anders. Es ist ein komisches Gefühl, plötzlich derjenige zu sein, für den so etwas wirklich gefährlich werden könnte und nicht immer nur über »die anderen« zu sprechen. Nach einer kurzen Nacht im Spital darf ich endlich nach Hause. Die erste Runde ist geschafft und ich darf zum ersten Mal seit zehn Tagen – seitdem der Port-a-Cath in meine Brust operiert wurde – wieder richtig und ausgiebig duschen. Ich glaube, es ist die beste Dusche meines Lebens.

MITTWOCH, 26. FEBRUAR 2020

Zwei gute Nachrichten habe ich vor all der Aufregung fast verschwiegen: Die Entzündungswerte in meinem Blut sind weiter zurückgegangen. Laut meinem sympathischen Ober-Doc kamen die ganz eindeutig vom Hodgkin, was bedeutet, dass der Chemie-Anschlag schon Wirkung zeigt. Und einer der geschwollenen Lymphknoten an meinem Hals ist bereits weg. Ich kann es eigentlich gar nicht glauben, doch sooft ich mit meinen Fingern auch taste und suche, er ist nicht mehr da. Es ist ein richtig gutes Gefühl, zu merken, dass diese körperlich anstrengende Tortur bereits nach einer Woche Wirkung zeigt.

Apropos Wirkung: Die hat die Therapie auch auf meinen Appetit. Während ich mich die letzten Wochen eher zum Essen gezwungen habe und die Frage »Sag, hast du abgenommen?« auch schon gar nicht mehr hören konnte, schmeckt es mir plötzlich so richtig. Ob Schnitzel, Palatschinken, Paprikahendl oder einfach nur Schokolade, ich könnte essen ohne Pause. So oder so ähnlich muss sich das in einer Schwangerschaft anfühlen, denke ich mir oft. Aber nachdem die Ärzte davor gewarnt haben, dass ich keinesfalls Gewicht abnehmen soll und es beim Essen beinahe keine Einschränkungen für mich gibt, lange ich ordentlich zu. Und ich merke, wie mein Körper die Energie, die ich ihm zuführe, braucht. Übel ist mir zum Glück bisher kaum, trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Massen an Kalorien, die ich mir tagtäglich zuführe.

SAMSTAG, 29. FEBRUAR 2020

Es ist der 366. Tag des Jahres. Aber auch in einem Schaltjahr hat ein Tag nur 24 Stunden. Wobei das »nur« sehr relativ ist. Denn während in meinem »normalen Leben« die Zeit nur so verfliegt und ich gar nicht weiß, wie ich alles unterbringen und hineinpacken soll, können sich 24 Stunden zu Hause, in »Heim-Quarantäne«, wie eine Ewigkeit anfühlen. Was mache ich mit einem ganzen Tag ohne richtige Aufgabe? Für das Schreiben dieses Tagebuchs brauche ich maximal 45 Minuten. Bleiben immer noch 23 Stunden und 15 Minuten. Zieht man die Schlafenszeit von rund sieben Stunden ab, bleiben immer noch gute 16 Stunden zu füllen. Das ist viel. Weil ich die ersten Tage nach der Chemotherapie nicht allzu viele Menschen treffen sollte, um eine Ansteckung mit einem Virus – vielleicht sogar mit dem gefürchteten Coronavirus, der mich nach wie vor täglich in allen Medien begleitet – zu vermeiden, entscheide ich mich dafür, vorerst zu Hause zu bleiben und zwar in unserer Wiener Wohnung. Pitten, habe ich beschlossen, soll der Ort sein und bleiben, an dem ich direkt nach der Chemotherapie sein will, wenn ich mich besonders geschwächt fühle.

 

Ich probiere es zunächst mit Fernschauen. Auch wenn ich jetzt gegen mein eigenes Metier schreibe, tagesfüllend ist das leider nicht. Viel zu schnell wird mir langweilig, viel zu oft schweifen meine Gedanken ab und lassen sich nicht auf das, was sich da auf unserem riesigen Flatscreen abspielt, ein. Der nächste Versuch: Malen. Schon als Kind habe ich, neben meinen musikalischen Ausflügen zu Querflöte und Co, immer gerne gezeichnet und meine Eltern mit meinen Meisterwerken zwangsbeglückt. Vor ein paar Jahren hatte ich mir Malutensilien gekauft, die ich nun wieder zum künstlerischen Leben erwecken will. Ein, zwei Stunden mühe ich mich damit ab, einen bunten Kolibri nach einer Vorlage im Internet abzumalen. Das Ergebnis sieht nach dritter Klasse Volksschule aus, oder sagen wir, vielleicht nach vierter. Aber mir wird schnell klar, warum mein Weg mich in den Journalismus und nicht in die Kunstwelt geführt hat. Leben hätte ich davon nicht können. Immerhin knapp zwei Stunden des langen Tages hat mein Malausflug verbraucht.

Es ist Mittag, noch immer ist die Hälfte des Tages da. Sport? Wie wäre es mit Sport? Soll ich unbedingt machen, wenn es die Kraft zulässt, haben mir die Mediziner geraten. Nach einer ausgiebigen Laufrunde ist mir momentan nicht, dazu fehlt mir schlichtweg die Kraft. Aber eine Runde auf unserem neu angeschafften Hometrainer müsste doch drin sein. Vor meiner Krankheit war ich dem Sport fast verfallen. Täglich habe ich zumindest eine Stunde etwas für meine Fitness getan. Laufen, Radeln zu Hause, bis zu drei Mal die Woche habe ich Crossfit gemacht, ja, ich wundere mich auch noch über mich selbst. Doch während ich beim Radeln bis vor ein paar Wochen ein Hochintervall-Training abgespult habe, strengt mich heute allein der Gedanke daran an. Also werden es zwanzig Minuten auf der zweitniedrigsten Stufe sein, ganz gemütlich. Ein Opa-Fitness-Programm, das sich für mich in dieser Situation genau richtig anfühlt. Ich spüre, wie der Schweiß von meiner Stirn und meiner Brust perlt und es ist ein gutes Gefühl, einmal nicht von Medikamenten oder Behandlungen zu schwitzen, sondern von Bewegung.

Nach meinem Mini-Sportprogramm und einer kurzen Dusche ist noch immer relativ viel von diesem 29. Februar übrig. Was mache ich noch gerne? Telefonieren. Ich mache einen Rundruf durch meinen engen Freundes- und Familienkreis. Alle freuen sich, dass ich »so gut klinge« und sprechen mir Mut und Zuversicht zu. Vor allem, wenn wir über andere Dinge, über Alltägliches sprechen, so wie sonst, merke ich, wie gut sich diese »Normalität« anfühlt. Meine Telefonkonferenz ist beendet, der Abend ist noch immer nicht da. Zwischendurch lege ich mich einfach mal ins Bett, um etwas zu dösen, denk ich mir.

Doch ans Schlafen oder »Chillen« ist leider nicht zu denken. Viel zu aufgekratzt bin ich durch das Cortison, das ich täglich schlucken muss und auch durch die neue Situation, die ich zu Hause nach und nach erst so richtig begreife. Meine Gedanken kreisen um all die Worte, Bilder und Eindrücke, die in den letzten Tagen auf mich hereingeprasselt sind, um all die Höhen und Tiefen in dieser kurzen Zeit und um die Frage: Werde ich das überleben? Eine Frage, die ich mir in meinen bisherigen 36 Lebensjahren noch nie so konkret stellen musste, die Krankheit zwingt mich allerdings dazu. Ja, werde ich, das ist mein fester Beschluss. Auch wenn allein durch die Beschäftigung mit dem Tod in mir etwas zerbrochen ist. So fühle ich es zumindest. Die Zeiten der »Unsterblichkeit« sind vorbei und damit auch ein großes Stück Unbeschwertheit. Aber vielleicht ist das auch eine Chance, mehr Gelassenheit im Leben zuzulassen. Ich werde es herausfinden …

MONTAG, 2. MÄRZ 2020

Meine Haare und ich sind ein ganz eigenes Kapitel – nicht nur in diesem Tagebuch. Schon als Zehnjähriger wollte ich im gemeinsamen Italien-Urlaub mit meinen Eltern meinen Kopf oft nicht unter Wasser ins Meer tauchen, weil dadurch meine, zumindest für mich, stets perfekt gestylte Frisur zerstört worden wäre. Meine Familie hat meine mit viel Haargel und Wachs zurechtmodellierte pechschwarze Haarpracht stets »die Krone« genannt, natürlich nicht ohne genügend ironischem Unterton. Diese Krone ist zwar im Laufe der Jahre und Jahrzehnte etwas weniger geworden – Denkerstirn – aber im Gegensatz zu meinen beiden Brüdern darf ich das auf meinem Kopf auch mit Mitte dreißig noch als Frisur bezeichnen, ohne Haarsträhnen über irgendwelche kahlen Flächen frisieren zu müssen.

Auch beim täglichen Schminken fürs Fernsehen haben meine Haare stets eine wichtige Rolle gespielt. Sitzen sie gut und bin ich mit der Frisur zufrieden, war die halbe Miete schon gewonnen und das Selbstbewusstsein für die nächste Sendung da. Alle Maskenbildnerinnen, die mich im Laufe der Jahre geschminkt haben, haben relativ schnell gemerkt: Bei seinen Haaren greifen wir besser nichts an. Egal ob mit Spray, Kamm oder Fingern: Jeder Versuch, in meine Frisur einzugreifen, wurde nach wenigen Sekunden abgewehrt. Einige Kolleginnen haben sich darüber wohl geärgert oder gewundert, aber meine Frisur ist eben meine Frisur, an die nur ich ran darf – oder der beste Friseur der Welt, Mario, den ich die nächsten Monate aber leider nicht brauchen werde. Denn aus der »Krone« sind heute die ersten »Zacken« gefallen.

Kahlgeschoren bin ich ja schon seit kurzem, doch als ich mir heute durch die nachgewachsenen Haare fahre, halte ich plötzlich ein Büschel in der Hand. Zwanzig oder dreißig kurze schwarze Haare, wie von einem vertrockneten Malpinsel, der nach zu vielen Einsätzen seine Borsten lässt. Der Anblick lässt mich kurz erstarren. Binnen Sekunden laufen mir Tränen über die Wangen, obwohl ich die letzten Tage eigentlich ganz gut ohne zu weinen verbracht habe. Jetzt hat der Hodgkin wirklich einen wunden Punkt getroffen. Meine Haare. Etwas verquollen vom Weinen schaue ich in den Spiegel, rupfe an meinen kurzen Stoppeln herum und sehe, wie sich nach und nach weiße Flächen bilden. Da will ich nicht zuschauen.

Im Gegensatz zu uns verfügt meine Mutter als jahrelange Aushilfsfriseurin für meinen Vater über ein professionelles Haarschneidegerät. Nach einem kurzen Anruf steht sie auch schon in meinem Badezimmer und setzt zur Schur an. Aus dem, was noch da ist, wird leider kein wärmender Wollpullover mehr werden. Nach und nach spüre ich, wie meine Haare sich nun endgültig verabschieden. Bevor ich einen Blick in den Spiegel wage, fahre ich mir mit der Handfläche über die Glatze und spüre die kurzen Stoppeln. Es fühlt sich nackt an. Und fremd. Ganz im Gegensatz zu dem, was ich dann sehe, als ich mich schließlich traue, einen Blick in unseren Badezimmerspiegel zu werfen. Ich sehe aus wie mein jüngerer Bruder Daniel. Nachdem ihm mit Mitte zwanzig die ersten Haare ausgefallen sind, trägt er bereits seit langer Zeit Glatze und sie steht ihm ausgesprochen gut. Schon mit Haaren sind wir oft miteinander verwechselt worden. Jetzt wird uns das wohl öfter passieren.

Wieder mache ich ein Foto von mir und schicke es an meine engsten Freunde und Familie. Richtig geschockt scheint niemand zu sein. »Fesch schaust aus. Gefällt mir fast besser als vorher«, so lesen sich einige Reaktionen. So weit würde ich nicht gehen, aber ich muss gestehen, in meiner Vorstellung hat es ohne Haare viel schlimmer ausgesehen. Und ganz ehrlich: Pro Tag spare ich mir nun mindestens 15 Minuten, die das Styling meiner Frisur bisher in Anspruch genommen hat. Und auch der ein oder andere Blick in den Spiegel wird in den nächsten Wochen wohl überflüssig. Zeit, mit der ich wohl nicht nur während dieser Krankheit etwas Besseres anfangen kann.

DIENSTAG, 3. MÄRZ 2020

Für eine Rasierer-Werbung werde ich in nächster Zeit wohl nicht gebucht. Seit heute beginnt auch der Bart zu bröckeln und zu bröseln. Ich brauche keine scharfe Klinge, es reichen meine Finger, um die dunklen, dicken Haare ganz ohne Widerstand auszurupfen. Das tut weh. Nicht körperlich, aber emotional. Seit über 15 Jahren trage ich jetzt schon Bart, jetzt nur noch ein paar Tage. Ihn abzurasieren bringe ich noch nicht übers Herz, noch geht er als etwas lückenhaft und ungepflegt durch.

FREITAG, 6. MÄRZ 2020

Seit ich denken kann, muss ich meinen Nachnamen erklären. Dabei gibt es einen Ablauf, der fast bei jedem Gespräch ident ist und ungefähr so geht:

»Wie spricht man deinen Nachnamen aus. Budgen?«

»Nein, nicht so, wie man es schreibt, sondern ›Badschn‹, wie das Budget auf Englisch nur mit N.«

»Was, wirklich? So wie der Batschen, der Hausschuh?«

»Ja, so ähnlich, nur ist es halt Englisch und nicht Wienerisch.«

»Wieso Englisch? Du schaust so südländisch aus.«

»Ja, ich weiß. Aber mein Vater ist Engländer und der schaut genauso aus.«

»Ah. Das ist ja cool. Das heißt, du kannst bestimmt perfekt Englisch sprechen.«

»Nein, leider nicht. So wie alle anderen Wiener, die hier geboren und aufgewachsen sind.«

»Waaaaaaaas?! Du bist nicht zweisprachig aufgewachsen?!«

»Nein, bin ich nicht. Meine Eltern haben das bei meinem älteren Bruder versucht, es hat nicht so gut funktioniert und deshalb sind mein jüngerer Bruder und ich nur mit Deutsch aufgewachsen.«

»Na geh. Das ist aber schade.«

»Jo eh, ich weiß. Dafür habe ich zwei Pässe«.

Gefühlt tausend Male habe ich dieses Gespräch in meinem Leben geführt und mich genauso oft darüber geärgert. Und zwar über mehrere Dinge. Einerseits ist es wirklich erstaunlich, wie schnell man – auch von intelligenten und belesenen Menschen – in eine Schublade gesteckt wird. Dunkle Haare, braune Haut, Bart – der muss Südländer sein. Ich bin mir auch sicher, dass mir oft nicht geglaubt wird, dass mein Vater Engländer ist. Einmal bin ich sogar gefragt worden, warum ich denn so gut Deutsch könne und auch einer Schlägerei bin ich entgangen, weil ich ja »einer von uns« bin.

Andererseits bin ich auch verärgert darüber, dass ich nicht zweisprachig aufgewachsen bin. Wenn mich mein Vater schon mit einem Namen beschenkt hat, der nach so vielen Erklärungen verlangt, wäre es ganz cool, wenn man diesen fließend in seiner Vatersprache erklären könnte. What a pity. Ich schummle mich so wie viele andere in unserem Land mit meinem Schulenglisch durch die wenigen Gespräche und Mails, die ich in meinem Job und Privatleben nicht auf Deutsch verfassen oder führen muss. Als Telefonjoker dienen mir dabei stets meine Eltern, die mir bereits unzählige Male Interviewfragen oder Mails übersetzt haben. Natürlich nicht, ohne sich dabei jedes Mal meinen Vorwurf anzuhören, warum sie denn bei mir nicht mehr den Nerv dazu hatten, mir Englisch und Deutsch beizubringen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, auch mit 36.

Nachdem ich nach wie vor auf der Suche bin, meine Tage mit Sinnvollem zu füllen, habe ich beschlossen, mein Englisch aufzupolieren. Mein Vater, der jahrzehntelang als Banker gutes Geld verdient hat, hat sich in seiner Pension als Englischlehrer selbstständig gemacht. »The English Solution« heißt seine kleine Firma, mit der er vorwiegend Geschäftsleute aus der Immobilien- oder Bankerbranche schult. Jetzt bin ich dran. Nachdem wir uns kurzerhand auf zwei Einheiten pro Woche geeinigt haben, legen wir auch schon los. Mein Daddy ist dabei perfekt vorbereitet. Es gibt Listen mit Aufgaben, Arbeitsblätter und Hausübungen. Gesprochen wird in den neunzig Minuten ausschließlich auf Englisch. Anfangs ist es ein recht komisches Gefühl. Natürlich habe ich meinen Vater schon öfter Englisch sprechen gehört, aber nachdem er Deutsch perfekt beherrscht, haben wir es nie miteinander geübt.

Auch vom eigenen Vater »unterrichtet« zu werden fühlt sich irgendwie eigenartig an. Doch je länger die Einheit dauert, desto mehr lasse ich mich darauf ein und blamiere mich mit meinem gefährlichen Halbwissen zu Past Perfect Tense und Co. Unglaublich, wie viele Fehler man beim Englischsprechen macht, ohne es zu merken. Jetzt merke ich es, denn mein Vater macht mich schonungslos auf jedes falsche -ing oder has aufmerksam. Fehler, die für mich auch ein Ansporn sind. Ich kann und will die Zeit, in der mich der Hodgkin zur Quarantäne zwingt, nützen, um am Ende besser Englisch zu sprechen. Zwei Mal pro Woche werde ich ab jetzt daran feilen, auch wenn das zum ersten Mal nach der Studienzeit wieder Hausübungen bedeutet …

PS: Der Bart ist mittlerweile ab.

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