Ein kleines Stückchen Seligkeit

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VIER

»Können Sie singen?«, fragte Margaret am nächsten Morgen. »Ein bisschen«, entgegnete Neil. »Ich habe jedenfalls am College im Chor gesungen.«

»Perfekt! Und welche Stimmlage? Bass? Bariton? Doch bestimmt nicht Tenor, oder?«

»Nein«, lächelte Neil. »Am ehesten wohl Bass.«

»Können Sie vom Blatt singen?«

»Einigermaßen, wenn ich jemanden neben mir habe, der darin sicher ist.«

»Na, das reicht völlig. Unser Chor wird begeistert sein. Wenn der Chor im Gottesdienst singt, können Sie natürlich nicht bei den anderen Sängern stehen, aber wenn Sie in der Lage sind, Ihre Stimme zu halten, wo auch immer in der Kirche Sie sich gerade befinden, dann sind Sie ein Riesengewinn – besonders, weil ich selbst überhaupt nicht singen kann. Ich bin irgendwann gebeten worden, so zu tun, als befände ich mich in stiller Andacht, wenn die Gemeinde singt, aber bitte, bitte den Mund zu halten. Wenn wir es so handhaben, klingt es offenbar besser, als wenn ich tatsächlich meine Stimme mit ins Spiel bringe!«

Neil gluckste leise vor sich hin. »Es würde mir wirklich Spaß machen, im Chor mitzusingen, und es ist auch eine gute Möglichkeit, Leute kennenzulernen. Wann finden denn die Chorproben statt?«

»Also wenn Sie tatsächlich vorhaben mitzumachen, heute Abend um halb sieben in der Kirche. Außerdem wäre es auch gut, wenn sie die gesungene Liturgie lernen, die wir hier in St. Stephen's einsetzen. Es ist nämlich nicht die allgemein übliche, sondern unser Organist Brian Lambert hat sie selbst entwickelt. Es ist eine wirklich sehr schöne Liturgie, was wahrscheinlich daran liegt, dass er ein sehr guter Musiker ist – genau wie seine Frau Sylvia, die Chorleiterin. Sie sind ein beeindruckendes Paar. Oder vielleicht sollte ich eher sagen ein talentiertes Trio, denn Wendy, die Tochter der beiden, unterrichtet Musik an der Grundschule von Dunbridge. Sie hat eine unglaubliche Stimme und spielt außerdem noch Keyboard und Querflöte – und ehrlich gesagt würde unsere Gemeinde-Band ohne sie knirschend zum Stillstand kommen.

Sie hat die Band überhaupt ins Leben gerufen, indem sie ein paar Freunde mitgebracht hat, die Gitarre und Schlagzeug spielen – und hin und wieder sogar Saxophon, wenn Gordon es schafft, am Sonntagmorgen rechtzeitig aus dem Bett zu kommen.«

»Also halb sieben heute Abend in der Kirche«, sagte Neil und suchte nach seinem Terminkalender.

»Der Chor braucht ganz dringend noch Männerstimmen. Sie werden sich also auf jeden Fall freuen, wenn Sie kommen. Vielleicht können Sie ja etwas Besonderes für Ihren Einführungsgottesdienst am Sonntag einüben. Die Leute werden Sie unbedingt kennenlernen wollen, und da wäre es ja vielleicht ganz schön, wenn Sie an der Auswahl der Musik beteiligt wären.«

Während sich Neil noch Notizen machte, stand Margaret ganz plötzlich von ihrem Schreibtisch auf.

»Ach du lieber Himmel, so spät schon? Wir müssen uns auf den Weg zu den Hausbesuchen machen. Ich hatte vier Anrufe mit der Bitte um einen Hausbesuch, sechs Gemeindeglieder möchten gern das Abendmahl einnehmen, alles Leute, die zu alt oder zu krank sind, um in den Gottesdienst zu kommen. Suchen Sie doch bitte schon mal die Sachen zusammen! Das Abendmahlsgeschirr für Hausbesuche steht oben auf dem Schrank. Wasser und Wein stehen schon auf dem Tisch bereit, und vergessen Sie nicht die Oblaten! Ich flitze nur noch schnell nach oben, um meine Unterlagen zu holen. Wir treffen uns dann beim Auto.«

***

An diesem Morgen lernte Neil eine ganz neue Seite von Margaret kennen, als sie mit ihren alten und kranken Gemeindegliedern so freundlich, vertraut und fürsorglich umging, dass er tief berührt war. Genau deshalb hatte er sich auch selbst für den vollzeitlichen Dienst entschieden! Er hoffte, dass er eines Tages auch in der Lage sein würde, durch den christlichen Glauben ebensoviel Tost und Gemeinschaft zu vermitteln, wie er es an diesem Tag bei Margaret sah.

Ihr erster Besuch galt Queenie Draper, einer alten, von Arthritis geplagten Witwe, deren Geist aber immer noch hellwach und messerscharf war. Es war deutlich zu merken, wie viele Gespräche und was für ein reger Gedankenaustausch während der jahrelangen Freundschaft zwischen ihr und Margaret stattgefunden haben musste. Margaret war allem Anschein nach gut informiert und fragte interessiert nach jedem Mitglied von Queenies weit verzweigter Familie, und Queenie interessierte sich im Gegenzug für das Neueste aus der Gemeinde – inklusive Tratsch und Klatsch. Bei einer Tasse Tee, zu deren Zubereitung Neil in die Küche abgestellt worden war, plauderten die alten Freundinnen, lachten viel, und schließlich beteten sie noch zu dritt zusammen. In der Stille von Queenies vollgestelltem Wohnzimmer teilten sie Brot und Wein, nachdem Margaret in einer sehr persönlichen, fast heiligen Atmosphäre die Einsetzungsworte für das Abendmahl gesprochen hatte. Neil stellten sich die Nackenhaare auf, so intensiv empfand er die Gegenwart Gottes, und er hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, als ihm klar wurde, dass dieser stille Moment alles verkörperte, was er sich für seinen eigenen Dienst erhoffte. Er hatte das intensive Gefühl, angekommen zu sein, und die Gewissheit, Erfüllung zu finden in dem, was vor ihm lag.

Ihre nächste Station war das hübsche kleine Häuschen von Mr. und Mrs. Brownlow. Mary Brownlow war schwer dement, und man merkte deutlich, dass sie nicht viel von dem wahrnahm, was in ihrer Umgebung vorging.

Ihr geduldiger Ehemann John nahm die ganze Situation tapfer hin und plauderte unablässig mit ihr, aber es ging einem wirklich nah, mit anzusehen, wie sie so gar nicht mehr darauf reagierte. Margaret konnte den völlig erschöpften Mann dazu überreden, sich ein paar Minuten hinzusetzen, während Neil ihnen eine Tasse Tee kochte (wie sollte seine Blase nur mit all der Flüssigkeit fertig werden, dachte er leicht besorgt). Als er mit dem Tablett mit den dampfenden Bechern wieder zurück ins Wohnzimmer kam, hatte er unglaubliches Mitgefühl mit diesem würdevollen und aufopferungsvollen Ehemann, dem es sichtlich unangenehm war, dass ihm vor Trauer und auch Frust die Tränen kamen. Als Margaret behutsam seine Hand berührte, erzählte John mit einer Stimme, die vor Emotion beinah versagte, wie sich das Wesen der Frau, die er seit über vierzig Jahren liebte, langsam auflöste und verschwand und nichts mehr übrig war als eine Person, die zwar aussah wie seine Frau, aber mit deren Charakter und Persönlichkeit nichts mehr zu tun hatte.

»Es ist, als ob alles Leben aus ihr herausgesaugt wird. Sie erinnern sich doch bestimmt noch an Marys ganz besonderen Humor, nicht wahr, Margaret?«

»Auf jeden Fall«, antwortete sie. »Sie hat immer die Menschen zum Lachen gebracht, und ich glaube, das liegt auch daran, dass sie die Menschen einfach gernhatte. Sie war immer für andere da – hat treu und selbstlos geholfen, wo sie konnte.«

Als John lächelte, erschienen unzählige Fältchen in seinem Gesicht. »Da haben Sie recht. Mary hat wirklich Liebe im Herzen. Sie mag einfach Menschen und kümmert sich um sie.« Er schaute hinüber zu seiner schweigenden Frau, die mit ausdrucksloser Miene dasaß. »Jedenfalls war es einmal so. Schwer zu sagen, was jetzt in ihrem Inneren vor sich geht.«

»Demenz ist wirklich grausam«, bestätigte Margaret. »Sie raubt den Menschen die Fähigkeit, mit ihrem Umfeld in Kontakt zu treten oder mitzuteilen, wie es in ihrem Inneren aussieht. Die Mary, die wir immer lieb gehabt haben, ist ja auch jetzt noch hier bei uns. Sie kann sich nur nicht mehr so ausdrücken und mitteilen wie früher.«

»Schade, dass Sie sie nicht ein paar Jahre früher kennengelernt haben, Neil«, sagte John. Offenbar wollte er dem neuen Vikar unbedingt vermitteln, wie sehr sich seine geliebte Frau verändert hatte. »Sie konnte unglaublich schwer arbeiten und war immer zur Stelle, wenn Hilfe gebraucht wurde. Ihr ganzes Leben lang, vom Tag ihrer Taufe an, hat sie zur Gemeinde gehört und sich eingebracht. Und das gilt auch für mich. Ich habe sie ja hier in Dunbridge in St. Stephen's kennengelernt, das muss jetzt schon fast fünfzig Jahre her sein. In der Gemeinde zu sein, an den Gottesdiensten teilzunehmen, in der Bibel zu lesen und zusammen zu beten – das war seit unserer Heirat unser Leben und hat uns ganz ausgefüllt.«

»Und jetzt kommen die Gottesdienste auf diese Weise zu Ihnen«, sagte Neil.

»Schaffen Sie es denn auch hin und wieder noch, am Gottesdienst in der Kirche teilzunehmen?«

»Also bis vor etwa einem Jahr habe ich Mary noch mitgenommen, aber sie wurde immer unberechenbarer, hat oft laut geredet oder dazwischengerufen, und manchmal wurde sie auch richtig wütend. Ich glaube, weil sie so frustriert war. Das Traurigste war, dass sie alte Freunde und Bekannte aus der Gemeinde nicht mehr wiedererkannt hat, mit denen sie jahre- oder jahrzehntelang zu tun gehabt hatte. Das war ganz schlimm für die Leute – und auch für mich. Und weil ich immer in Sorge war, dass sie weglaufen oder etwas Unangebrachtes sagen könnte, habe ich irgendwann beschlossen, dass es den anderen Gottesdienstbesuchern gegenüber rücksichtsvoller ist, zu Hause zu bleiben.«

»Und das fällt Ihnen sehr schwer, nicht wahr, John?«, fragte Margaret leise. »Mary merkt ja vielleicht die Veränderung im Ablauf des Sonntags gar nicht, aber Ihnen macht es viel aus. Der Sonntagmorgen fühlt sich doch jetzt sicher ganz anders für Sie an als früher, oder?«

»Ja, der Gottesdienst fehlt mir wirklich sehr. Ich bin immer gern hingegangen, auch weil ich dort immer all die Freunde und Nachbarn getroffen habe, mit denen wir schon seit vielen Jahren Gottesdienst gefeiert haben. Mir fehlt das Singen der alten Choräle und auch das Abendmahl vorn am Altar gemeinsam mit den anderen. Besonders schön fand ich es immer, nach dem Abendmahl auf meinen Platz zurückzugehen und dann noch mal still für mich persönlich zu beten, während im Hintergrund ganz leise der Chor sang.«

 

Wieder kamen ihm die Tränen.

»Und Mary vermisst das alles auch sehr«, fuhr er fort. »Einen großen Teil ihrer Persönlichkeit hat ihre Beziehung zu Gott ausgemacht – aber durch diese furchtbare Krankheit hat sie völlig die Verbindung dazu verloren. Sie betet nicht mehr. Ja, sie weiß nicht einmal mehr, was Beten ist. Der Trost, den ihr der Glaube eigentlich geben sollte, erreicht sie gar nicht mehr. Und ehrlich gesagt habe ich an diesem Punkt wirklich meine Fragen an Gott. Ich muss Tag für Tag mit ansehen, wie die Frau, die ich liebe – und die er angeblich auch liebt –, auf dermaßen grausame Weise leidet! Und dabei soll er doch ein liebender Gott sein! Es rüttelt einfach an den Grundfesten dessen, was ich immer geglaubt habe.«

»Haben Sie denn Hilfe bei der Betreuung und Versorgung von Mary?«, fragte Neil. »Kommt tagsüber ein Pflegedienst zu Hilfe?«

»Nein«, sagte John in sehr energischem Ton. »Mary braucht keinen Pflegedienst. Sie hat ja mich. In guten wie in schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit – das habe ich versprochen, und dieses Versprechen werde ich auch halten.«

»Ich weiß, dass Sie das tun werden, John«, sagte Margaret, »aber ich mache mir Gedanken, wer sich um den Kümmerer kümmert. Sie sehen erschöpft aus. Können wir irgendetwas für Sie tun?«

»Nein, ich schaffe das schon«, antwortete John beinah heftig.

»Es würde doch nicht bedeuten, dass Sie Mary weniger lieben, wenn Sie sich ab und zu bei ihrer Betreuung ablösen ließen, um auch einmal eine kleine Pause zu haben, oder?«

»Nein …«, gab John zögerlich zu.

»Na also! Wir wollen doch nicht, dass Sie vor Erschöpfung zusammenklappen, oder? Was sollte denn aus Mary werden, wenn Sie auch noch krank würden?«

Ganz kurz war in Johns Blick Angst zu erkennen, und er sagte:

»Sie kommt auf gar keinen Fall in ein Heim!«

»Nein, natürlich nicht!«, beruhigte ihn Margaret. »Das habe ich doch gar nicht gemeint. Solange Sie es schaffen, bleibt Mary selbstverständlich hier bei Ihnen zu Hause, wo sie hingehört. Aber mir geht der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass Sie sich vielleicht noch besser um sie kümmern könnten, wenn Sie hin und wieder ein bisschen Entlastung hätten – glauben Sie nicht auch?«

»Ich brauche keine Hilfe«, sagte John mit Bestimmtheit und griff nach der Hand seiner Frau. »Wir brauchen keine Hilfe.«

Eine Weile hielt Margaret seinem Blick stand und sagte dann:

»Also gut, aber sobald Sie das Gefühl haben, Sie könnten vielleicht doch ein bisschen Entlastung gebrauchen, sprechen Sie mich bitte an, ja? Versprechen Sie es?«

»Ich verspreche es«, willigte John ein.

»Ich weiß, dass es in der Gemeinde jede Menge Leute gibt, die gern ab und zu mal kurz vorbeischauen und nach Ihnen beiden sehen würden, aber manche fürchten, dass Sie sich dadurch vielleicht bedrängt fühlen könnten.«

»Ich will nicht, dass Leute nur aus Neugier kommen!«

»Das kann ich gut verstehen, John, wer möchte das schon? Aber die Leute, die ich meine, sind alte Freunde von Ihnen, die Sie beide schon seit Jahren kennen. Sie hätten doch sicher nichts dagegen, wenn die vorbeischauen würden, oder? Einige von ihnen haben sogar schon überlegt, vielleicht zu festen Zeiten abwechselnd hin und wieder bei Mary zu sein, damit Sie wieder regelmäßig ein bisschen Ruhe und Zeit für sich haben.«

»Ich komme schon zurecht«, brummelte John daraufhin nur.

»Sie sind immer ganz hervorragend zurechtgekommen, John, das weiß doch jeder – aber Marys Versorgung ist schwere Arbeit. Wäre es nicht schön, wenn Sie ab und zu wieder ein paar Stunden Zeit für sich hätten, ohne sich Sorgen machen zu müssen, ob Mary gut versorgt wird, weil sich Menschen um sie kümmern, die sie gern haben? Sie könnten dann vielleicht wieder regelmäßig in den Garten gehen. Gartenarbeit hat Ihnen doch immer so viel Freude gemacht, oder? Und Ihr Garten war immer eine wahre Pracht. Hätten Sie dafür nicht wieder gern ein bisschen mehr Zeit?«

Angst und Sorge schienen ein bisschen zu weichen, und John schien sogar interessiert. Die Aussicht, wieder in seinem geliebten Garten zu werkeln, war eindeutig verlockend für ihn.

»Ich denke darüber nach!«, sagte er schließlich.

»Gut, dann lassen Sie uns doch jetzt noch zusammen beten«, sagte Margaret abschließend und beendete damit dieses Thema. Und dann beteten sie – außer Mary, deren starrer Blick ohne auch nur ein Zwinkern auf die gemusterte Tapete der gegenüberliegenden Wand gerichtet war.

Auf dem Weg von John und Mary zu ihrem nächsten Besuch waren Neil und Margaret mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. In einer kleinen, aufgeräumten und blitzblanken ebenerdigen Wohnung am Stadtrand lebten die beiden Schwestern Elsie und Lily. Sie waren freundliche Gastgeberinnen und so mitteilsam und lebhaft, dass Neil sie auf höchstens Ende siebzig schätzte. Als er dann erfuhr, dass Elsie schon sechsundneunzig war und ihre Schwester beinah hundert, war er wirklich erstaunt.

Die beiden alten Damen verließen allerdings kaum noch ihre Wohnung, denn sie waren der Meinung, dass sie im Laufe ihres Lebens genügend unterwegs gewesen waren und es verdient hatten, jetzt einmal ein bisschen die Füße hochzulegen. Sie waren beide nie verheiratet gewesen und hatten den größten Teil ihres Lebens als Missionarinnen in Afrika und dem Fernen Osten gearbeitet. Bei einem Stückchen von Elsies selbstgebackenem Madeirakuchen hatte Neil Gelegenheit, ein paar ihrer Fotoalben durchzublättern. Diese waren fast ausschließlich mit Schwarzweißfotos gefüllt, auf denen die Schwestern zusammen mit den Menschen zu sehen waren, mit denen sie ihr Leben verbracht hatten. Neil wurde sehr demütig angesichts eines solchen Glaubens. Die beiden hatten ihr gesamtes Leben in die Arbeit am Reich Gottes investiert.

Als Margaret mit den vertrauten Einsetzungsworten das Abendmahl begann, reichten die Schwestern ihren beiden Gästen die Hände, sodass sie zu viert einen Kreis bildeten, in dessen Mittelpunkt spürbar Gott stand. Neil wusste, dass die Erinnerung an diesen Moment für ihn immer sehr kostbar sein würde.

Als Margaret und er sich schließlich losrissen, um sich auf den Weg zum letzten Hausbesuch an diesem Nachmittag zu machen, bestand Elsie darauf, Neil jede Menge Kuchen einzupacken.

Bert Overington hatte sein Leben lang schwer als Lastwagenfahrer geschuftet, um den Lebensunterhalt für seine Familie – seine Frau und drei Töchter – zu verdienen, die er über alles liebte. Vor fünf Jahren war dann seine Frau gestorben, kurz nachdem die Letzte der drei Töchter geheiratet hatte und aus dem Haus gegangen war. Berts bis dahin ruhiges Leben war bald darauf ein weiteres Mal in den Grundfesten erschüttert worden, als er vor etwas weniger als einem Jahr erfahren musste, dass er Lungenkrebs hatte. Natürlich hatte er geraucht – welcher Lastwagenfahrer tat das schließlich nicht?

Jetzt lebte Bert allein, und es war schwer für ihn, mit den Schmerzen und der Erschöpfung von der anstrengenden Chemo- und Bestrahlungstherapie zurechtzukommen, auch wenn seine jüngste Tochter, die um die Ecke wohnte, ihn regelmäßig besuchte. Er fühlte sich müde und alt, und er vermisste seine Frau. Er war bereit ihr nachzufolgen.

In den vergangenen Monaten, seit er nur noch darauf wartete zu sterben, war ihm sein Glaube immer wichtiger geworden. Bei früheren Besuchen hatte er Margaret bereits erzählt, dass er mit dem Christentum Zeit seines Lebens nicht viel am Hut gehabt habe und selbst jetzt nicht so sicher sei, was er eigentlich genau glaube. Er habe nur das Gefühl, dass es da irgendetwas gebe und dass die Verbindung zu diesem Etwas stärker werde, je näher sein Tod rücke. Deshalb kam Margaret jetzt jede Woche und feierte mit ihm das Abendmahl, und er stimmte mit heiserer, rasselnder Stimme, die aber voller Gefühl war, in die Liturgie ein.

Gerade als Neil und Margaret mit dem Abendmahl beginnen wollten, hörten sie, wie die Haustür aufgeschlossen wurde, und dann betrat die zierliche, aschblonde Frau das Haus, die Neil am Morgen seines ersten Arbeitstages bei der Morganandacht im Gespräch mit dem Gemeindevorsteher Peter beobachtet hatte. Margaret begrüßte sie herzlich und voller Zuneigung.

»Val! Wie schön, Sie zu sehen! Sind Sie dienstlich hier oder zum Vergnügen?«

»Beides«, antwortete Val lächelnd und sah Bert freundlich an. »Bert ist mein Lieblingspatient, und das weiß er auch. Bei ihm verbringe ich beinah doppelt so viel Zeit wie eigentlich vorgesehen ist.«

Berts Miene hellte sich trotz seiner unnatürlich bleichen Gesichtsfarbe merklich auf.

»Ist es in Ordnung, wenn wir noch mit Bert das Abendmahl feiern, Val? Danach sind wir dann auch gleich wieder weg«, sagte Margaret.

Val stellte ihre Tasche ab, zog den Mantel aus und fragte: »Kann ich nicht mitmachen? Heute ist einer von diesen unglaublich hektischen Tagen, und so eine Oase wie die hier ist genau das, was ich jetzt brauche.«

Und dann beteten sie zu viert in Berts Wohnzimmer, wo es bis auf das laute Ticken der großen alten Standuhr ganz still war.

»Wissen Sie, Val ist ein echter Lichtblick«, sagte Margaret eine Viertelstunde später, als Neil und sie zurück zum Wagen gingen. »Sie ist unglaublich gut in der Versorgung von Schwerstkranken wie Bert. Sie ist ausgebildete Palliativschwester und arbeitet mit dem Hospiz vor Ort zusammen.«

»Und sie versorgt die Schwerkranken ambulant?«, fragte Neil.

»Na ja, so langsam bekommt man in der medizinischen Versorgung ja mit, dass Schwerstkranke gern so lange wie möglich zu Hause bleiben möchten. Viele Patienten entscheiden sich sogar dafür, im Kreis ihrer Familie zu sterben.«

»Möchte Bert das auch?«

»Ja, er möchte am Ende auf jeden Fall gern seine Töchter um sich haben. Aber er will ihnen nicht zur Last fallen, denn sie haben alle eine eigene Familie mit kleinen Kindern. Solange Val und die anderen Pfleger es schaffen und er damit zurechtkommt, bleibt er zu Hause.«

»Wahrscheinlich bedeutet Vals Job doch, dass sie immer bereit sein muss, wenn sie gebraucht wird, Tag und Nacht, oder?«, fragte Neil. »Das muss doch ziemlich schwierig sein für ihre eigene Familie. Akzeptiert die das denn einfach so?«

»Vals Sohn und die Tochter sind erwachsen und schon aus dem Haus. Ihre Tochter arbeitet ebenfalls in der Krankenpflege – sie ist Kinderkrankenschwester in London. Der Sohn ist Anwalt, glaube ich. Vals Mann ist an Krebs gestorben, als die Kinder noch ganz klein waren, sodass sie wirklich nachempfinden kann, was ihre Patienten und ihre Familien durchmachen. Es war bestimmt eine große Herausforderung, als Witwe zwei Kinder großzuziehen«, erklärte Margaret.

»Und weil sie aus eigener Erfahrung weiß, wie es ist, einen Menschen zu verlieren, ist sie bestimmt eine mitfühlende Hilfe in schweren Zeiten«, fügte Neil nachdenklich hinzu.

»Auf jeden Fall. Ich weiß natürlich, dass Krankenschwestern eigentlich eine professionelle Distanz zu ihren Patienten haben müssen, aber das Schöne bei Val ist, dass sie sich mit der professionellen Distanz recht schwertut. Manchmal begleitet sie Patienten wochen- oder sogar monatelang, und wenn sie dann irgendwann sterben, ist Val total erschüttert. Ich glaube, das ist auch der Grund, weshalb sie gern zu den Andachten und Gottesdiensten in die Kirche kommt.«

»Kommt sie denn oft zur Morgenandacht?«, erkundigte sich Neil.

»Ja – wann immer es sich mit ihrem Schichtdienst vereinbaren lässt, aber normalerweise ein paar Mal in der Woche.« Margaret drehte sich zu Neil um und sah ihn an. »Vielleicht wäre es ja interessant für Sie, sich einmal etwas intensiver mit Val zu unterhalten. Sie ist ein Mensch, bei dem der Glaube in jedem Aspekt ihres Lebens eine Rolle spielt. Er ist die Motivation für alles, was sie tut, und er gibt ihr die Kraft und den Trost, die sie braucht, um ihre Arbeit so hervorragend zu machen.«

Neil hörte einfach nur zu und nickte.

»Val lebt ja praktisch tagtäglich mit Sterbenden und Trauernden«, fuhr Margaret fort, »genau wie wir als Pfarrer es ja auch immer wieder mit Menschen zu tun haben, die mit ihrem eigenen Tod konfrontiert sind, oder mit dem Verlust eines geliebten Menschen fertig werden müssen. Mir helfen Gespräche mit Val jedenfalls sehr – vielleicht geht es Ihnen ja auch so.«

»Das mache ich«, sagte Neil, »das mache ich auf jeden Fall.«

***

Als Neil an diesem Abend um halb acht in die Kirche kam, war er positiv überrascht, wie viele Leute zur Chorprobe gekommen waren. Ein paar der Gesichter erkannte er sofort wieder, zum Beispiel das von Val, die bei einer der Bänke ganz hinten stand und sich gerade den Mantel auszog. Sie bemerkte Neil gar nicht, weil sie zu Peter, dem Vorsitzenden des Kirchenvorstandes schaute, der damit beschäftigt war, einen Stapel Noten und Liederbücher zu sortieren. Als ob er ihren Blick auf sich spürte, sah Peter plötzlich auf und lächelte sie an – aber genau in diesem Moment wurde Neils Sicht verdeckt von Peters furchterregender Frau Glenda, die mit ausgebreiteten Armen direkt auf ihn zugerauscht kam. Neil wappnete sich und war schon im nächsten Moment in einer ihrer überwältigenden Umarmungen in ihrem wogenden Busen praktisch verschwunden.

 

»Neil, Schatz«, sprudelte es aus ihr hervor. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie kommen würden. Wie wundervoll.«

Zwischen ihren unnatürlich langen Wimpern hindurch blickte sie kokett zu ihm auf.

»Ich wette, Sie singen Bass. Ein Mann wie Sie muss eine Bassstimme sein.« Dann zog sie ein ganz klein wenig die Nase kraus, schnaubte kaum hörbar und fügte noch ein klitzekleines bisschen abfällig hinzu: »Peter singt Tenor.«

»Okay, lieber Chor! Es ist halb acht durch! Lassen Sie uns jetzt anfangen!«, rief die Chorleiterin in den Raum.

»Ach du liebe Güte!«, jammerte Glenda, »Ich muss mir unbedingt noch die Nase pudern, bevor es losgeht. Ich komme nämlich direkt von der Arbeit, wissen Sie?«

»Ach, wirklich? Arbeiten Sie hier im Ort?«, erkundigte sich Neil, weil er nicht unhöflich sein wollte.

»Aber nein!«, entgegnete Glenda mit gerümpfter Nase, als nähme sie einen üblen Geruch wahr. »Hier gibt es wirklich nichts Passendes für mich. Dunbridge hat nicht die Möglichkeiten zu bieten, die meinem Niveau und meiner Ausbildung gerecht werden könnten. Nein, ich fahre jeden Morgen nach London. Dort leite ich das Büro eines sehr exklusiven Modehauses in Mayfair.«

»Das klingt ja richtig glamourös!«, sagte Neil staunend.

»Das ist es auch – auf jeden Fall!«

»Dann gehen Sie also auf Modenschauen, buchen Models und solchen Sachen?«

»Ich bin immer dabei, begleite den Geschäftsführer Roland Branson überallhin, wo er gerade zu tun hat! Vielleicht haben Sie ja schon von ihm gehört.«

»Ich muss gestehen, dass ich mich in der Modebranche nicht besonders gut auskenne. Das würden Sie bei einem einzigen Blick in meinen Kleiderschrank wahrscheinlich sofort bestätigen.«

Glenda musterte Neils Outfit einmal von oben bis unten und fand es offensichtlich verbesserungswürdig, denn sie nickte zustimmend. Zu Neils großem Schreck strich sie plötzlich mit ihren Händen an beiden Seiten seines Körpers entlang und befahl dann:

»So, und jetzt drehen Sie sich einmal um, Neil!« Er war zu überrascht, sich zu widersetzen, und tat, was sie gesagt hatte.

»Ich könnte eine Menge für Sie tun. Ihre Figur ist nämlich eigentlich gar nicht so schlecht. Nicht richtig gut, aber es ließe sich durchaus etwas daraus machen. Sie brauchen auf jeden Fall ein paar Lektionen im Einmaleins des guten Kleidungsstils!«

»Vielen Dank auch!«, sagte Neil und trat so weit zurück, dass er sich außerhalb ihrer Reichweite befand, »aber um in meinem Job richtig gekleidet zu sein, muss man sich eigentlich nicht besonders gut mit Mode auskennen. Es gibt da so eine Art Uniform …«

»Sie wären schön dumm, mein Angebot nicht anzunehmen«, entgegnete Glenda darauf. »Ich habe so viel von Roland gelernt. Er ist wirklich inspirierend, das kann ich Ihnen sagen!«, und dann kicherte sie, beugte sich vor, berührte Neil am Arm und sagte: »Und er behauptet, dass er auch von mir viel lernt. Ich arbeite ja schon seit Jahren in der Branche, wissen Sie, und bringe deshalb jede Menge Erfahrung mit – und das erkennt Roland.«

»So, bitte alle Platz nehmen jetzt!«, sagte die Chorleiterin, eine dunkelhaarige Frau mit Brille im Strickblazer, und hielt abrupt inne, als sie Neil bemerkte. Sie legte ihre Noten auf das Pult vor sich und ging mit einem freundlichen Lächeln auf ihn zu.

»Margaret hat gesagt, dass Sie heute Abend vielleicht vorbeischauen würden. Und sie hat auch gesagt, dass sie schon ein bisschen Chorerfahrung haben.«

»Na ja, so viel nun auch wieder nicht«, antwortete Neil verlegen lächelnd. »Ich habe gedacht, ich schaue heute Abend einfach mal vorbei und höre erst einmal zu, wenn das in Ordnung ist.«

»Ach was, nehmen Sie sich die Noten und machen Sie einfach mit!«, entgegnete die Frau. »Und wenn der Chor nicht so Ihr Ding ist, dann bleiben Sie nächste Woche einfach wieder weg. Uns ist klar, dass Sie nicht wirklich bei uns stehen können, wenn wir im Gottesdienst singen, aber einen Geistlichen zu haben, der so viel Begeisterung mitbringt, wird bei unserer Gemeinde auf jeden Fall sehr gut ankommen.«

»Haben wir noch mehr Exemplare von diesen Noten, Sylvia?«, fragte Peter.

»Ich glaube drüben bei Brian an der Orgel sind noch ein paar. Es gibt hier noch ein paar Leute mehr, die auch noch keine haben. Kannst du für sie bitte welche mitbringen, und zwar ein bisschen zügig, wennś geht?«

Dann wandte sie sich wieder an Neil und stellte sich vor. »Ich bin Sylvia Lambert, die Chorleiterin. Mein Mann Brian ist Organist in der Gemeinde. Ich stelle Sie später noch richtig vor, aber fürs Erste freuen wir uns, dass Sie da sind. Die Bassstimmen stehen da drüben – alle beide! Können Sie eine Stimme halten?«

»Mal sehen«, sagte Neil mit einem schiefen Grinsen. »Das werden wir gleich feststellen, oder?«

Und noch bevor er sich auf den Weg zu den Bassstimmen machte, klatschte Sylvia schon in die Hände als Zeichen, dass es jetzt losging.

»So, und jetzt alle zuhören, bitte! Für diejenigen, die ihn noch nicht kennengelernt haben, das hier ist Neil Fisher, unser neuer Vikar.«

Es folgte ein freundliches Begrüßungsgemurmel, und Neil setzte sein schönstes Lächeln auf, obwohl er wusste, dass sein Gesicht vor Verlegenheit ganz rot geworden war.

»Wie Sie ja alle wissen, findet am Sonntag ein spezieller Einführungs- und Begrüßungsgottesdienst für Neil statt – und was könnte schöner sein, als dass er selbst in unseren Gesang einstimmt?«

Ihre Worte wurden mit vereinzeltem Applaus bedacht.

Dann wandte sich Sylvia direkt an Neil.

»Wir haben uns schon ein paar Stücke überlegt, die wir heute Abend üben wollten, Neil – aber vielleicht haben Sie ja einen Lieblingschoral oder ein Lied, das Ihnen zu diesem besonderen Gottesdienst besonders gefallen würde?«

»Hmm, lassen Sie mich kurz überlegen …«

»Mögen Sie lieber die alten Choräle oder moderne Lobpreissongs?«

»Also eigentlich gefällt mir beides«, murmelte Neil, und ihm wurde bewusst, dass er Gegenstand von vielen Spekulationen und großer Neugier war, als er merkte, wie er von zahlreichen Augenpaaren begutachtet wurde. »Besonders gern mag ich Stücke von Stuart Townsend.«

»Eine hervorragende Wahl!«, strahlte Sylvia. »Und welches ist Ihr Lieblingssong?«

Zum Glück konnte Neil diese Frage problemlos beantworten. »›In Christ Alone‹. Ich mag sowohl den Text als auch die Melodie, und es ist einfach zu singen.«

»Perfekt!«, pflichtete Sylvia ihm bei, und auch die anderen Sänger nickten zustimmend.

»Dafür brauchen wir aber mehr als nur die Orgel. Können die Leute von der Gemeinde-Band bitte auf ihre Plätze gehen? Ach, Wendy, könntest du bitte kurz mal hier herüberkommen?«

Das Mädchen, das sich darauf hin in ihre Richtung in Bewegung setzte, war eine jüngere, schlankere Version von Sylvia. Ihr glänzendes dunkelbraunes Haar fiel ihr bis über die Schultern, und sie sah in ihrer schwarzen Hose und einer langen, frischen weißen Bluse, über der sie eine pinkfarbene Weste trug, gleichzeitig adrett und lässig aus.

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