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Doch ist die Inkongruenz nur scheinbar. Alle Menschen sind genial, und kein Mensch ist genial. Genialität ist eine Idee, welcher dieser näher kommt, während jener in großer Ferne von ihr bleibt, welcher der eine rasch sich naht, der andere vielleicht erst am Ende seines Lebens.

Der Mensch, dem wir bereits den Besitz der Genialität zuschreiben, ist nur der, welcher bereits angefangen hat zu sehen, und den anderen die Augen öffnet. Daß sie sodann mit seinem Auge sehen können, beweist, wie sie nur vor dem Tore standen. Auch der mittelmäßige Mensch kann, selbst als solcher, mittelbar zu allem in Beziehung treten; seine Idee des Ganzen ist aber nur ahnungsvoll, es gelingt ihm nicht, sich mit ihr zu identifizieren. Aber er ist darum nicht ohne Möglichkeit, diese Identifikation anderen nachzuleben und so ein Gesamtbild zu gewinnen. Durch Weltanschauung kann er dem Universum, durch Bildung allem einzelnsten sich verbinden; nichts ist ihm gänzlich fremd, und an alle Dinge der Welt knüpft auch ihn ein Band der Sympathie. Nicht so das Tier oder die Pflanze. Sie sind begrenzt, sie kennen nicht alle, sondern nur ein Element, sie bevölkern nicht die ganze Erde, und wo sie eine allgemeine Verbreitung gefunden haben, ist es im Dienste des Menschen, der ihnen eine überall gleichmäßige Funktion angewiesen hat. Sie mögen eine Beziehung zur Sonne oder zum Monde haben, aber sicherlich fehlt ihnen »der gestirnte Himmel« und »das moralische Gesetz«. Dieses aber stammt von der Seele des Menschen her, in der alle Totalität geborgen ist, die alles betrachten kann, weil sie selbst alles ist: der gestirnte Himmel und das moralische Gesetz, auch sie sind im Grunde eines und dasselbe. Der Universalismus des kategorischen Imperatives ist der Universalismus des Universums, die Unendlichkeit des Weltalls nur das Sinnbild der Unendlichkeit des sittlichen Wollens.

So hat dies, den Mikrokosmus im Menschen, schon Empedokles, der gewaltige Magus von Agrigent, gelehrt:

 
Γαιη μεν γαρ γαιαν οπωπαμεν, ὑδατι δ'ὑδωρ,
Αιθερι δ'αιθερα διον, αταρ πυρι πυρ αιδηλον,
Στοργη δε στοργην, νεικος δε τε νεικει λυγρω.
 

Und Plotinus: Ου γαρ αν πωποτε ειδεν οφθαλμος ἡλιον ἡλιοειδης μη γεγενημενος, dem es Goethe in den berühmten Versen nachgedichtet hat:

 
»Wär' nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt' es nie erblicken;
Läg' nicht in uns des Gottes eig'ne Kraft,
Wie könnt' uns Göttliches entzücken?«
 

Der Mensch ist das einzige Wesen, er ist dasjenige Wesen in der Natur, das zu allen Dingen in derselben ein Verhältnis hat.

In wem dieses Verhältnis nicht bloß zu einzelnen, vielen oder wenigen, sondern zu allen Dingen Klarheit und intensivste Bewußtheit erlangt, wer über alles selbständig gedacht hat, den nennt man ein Genie; in wem es nur der Möglichkeit nach vorhanden, in wem wohl für alles irgend ein Interesse wachzurufen ist, aber nur zu wenigem ein lebhafteres von selbst besteht, den nennt man einfach einen Menschen. Leibnizens wohl selten recht verstandene Lehre, daß auch die niedere Monade ein Spiegel der Welt sei, ohne aber sich dieser ihrer Tätigkeit bewußt zu werden, drückt nur dieselbe Tatsache aus. Der geniale Mensch lebt im Zustande allgemeiner Bewußtheit, die Bewußtheit des Allgemeinen ist; auch im gewöhnlichen Menschen ist das Weltganze, aber nicht bis zu schöpferischem Bewußtsein gebracht. Der eine lebt in bewußtem tätigen, der andere in unbewußtem virtuellen Zusammenhang mit dem All; der geniale Mensch ist der aktuelle, der ungeniale der potentielle Mikrokosmus. Erst der geniale Mensch ist ganz Mensch; was als Mensch-Sein, als Menschheit (im Kantischen Sinne) in jedem Menschen, δυνάμει, der Möglichkeit nach ist, das lebt im genialen Menschen, ενεργεια, in voller Entfaltung.

Der Mensch ist das All und darum nicht, wie ein bloßer Teil desselben, abhängig vom anderen Teile, nicht an einer bestimmten Stelle eingeschaltet in die Naturgesetzlichkeit, sondern selbst der Inbegriff aller Gesetze, und eben darum frei, wie das Weltganze als das All selbst nicht noch bedingt, sondern unabhängig ist. Der bedeutende Mensch nun, der nichts vergißt, weil er sich nicht vergißt, weil Vergessen funktionelle Beeinflussung durch die Zeit, daher unfrei und unethisch ist; der nicht von einer geschichtlichen Bewegung, als ihr Kind, emporgeworfen, nicht von der nächsten wieder verschlungen wird, weil alles, alle Vergangenheit und alle Zukunft, in der Ewigkeit seines geistigen Blickes bereits sich birgt; dessen Unsterblichkeitsbewußtsein am stärksten ist, weil ihn auch der Gedanke an den Tod nicht feige macht; der in das leidenschaftlichste Verhältnis zu den Symbolen oder Werten tritt, indem er nicht nur alles in sich, sondern auch alles außer sich einschätzt und damit deutet: er ist zugleich der freieste und der weiseste, er ist der sittlichste Mensch; und nur darum leidet gerade er am schwersten unter allem, was auch in ihm noch unbewußt, noch Chaos, noch Fatum ist. —

Wie steht es nun mit der Sittlichkeit großer Menschen den anderen Menschen gegenüber? Ist dies doch die einzige Form, in welcher, nach der populären Meinung, die Unsittlichkeit nicht anders als in Verbindung mit dem Strafgesetzbuch zu denken weiß, Moralität sich offenbaren kann! Und haben nicht gerade hier die berühmten Männer die bedenklichsten Charaktereigenschaften verraten? Mußten sie nicht oft schnöden Undanks, grausamer Härte, schlimmer Verführertücken sich zeihen lassen?

Weil Künstler und Denker, je größer sie sind, desto rücksichtsloser sich selbst die Treue wahren und hiebei die Erwartungen manch eines täuschen, mit dem sie vorübergehende Gemeinschaft geistiger Interessen verknüpfte, und die, ihrem höheren Fluge zu folgen später nicht mehr imstande, den Adler selbst an die Erde binden wollen (Lavater und Goethe) – darum hat man sie als unmoralisch verschrieen. Das Schicksal der Friederike aus Sesenheim ist Goethe, obwohl ihn das keineswegs entschuldigt, sicherlich viel näher gegangen als dieser, und wenn er auch glücklicherweise so unendlich viel verschwiegen hat, daß die Modernen, die ihn als den leichtlebigen Olympier ganz zu besitzen glauben, tatsächlich nur jene Flocken von ihm in den Händen halten, die Faustens unsterbliches Teil umgeben – man darf gewiß sein, daß er selbst am genauesten prüfte, wieviel Schuld ihn traf, und diese in ihrem ganzen Ausmaß bereut hat. Und wenn scheelsüchtige Nörgler, die Schopenhauers Erlösungslehre und den Sinn des Nirwâna nie erfaßt haben, es diesem Philosophen zum Vorwurf machen, daß er auf seinem Rechte auf sein Eigentum, bis zum Äußersten, bestanden hat, so verdient dies, als ein hündisches Gekläffe, gar keine Antwort.

Daß der bedeutende Mensch gegen sich selbst am sittlichsten ist, steht also wohl fest: er wird nicht eine fremde Anschauung sich aufzwingen lassen und hiedurch sein Ich unterdrücken; er wird die Meinung des anderen – das fremde Ich und dessen Ansicht bleiben für ihn etwas vom Eigenen gänzlich Unterschiedenes – nicht passiv acceptieren, und ist er einmal rezeptiv gewesen, so wird ihm der Gedanke hieran schmerzvoll und fürchterlich sein. Eine bewußte Lüge, die er einmal getan hat, wird er sein ganzes Leben lang mitschleppen, und nicht in »dionysischer« Weise leichthin abschütteln können. Am stärksten aber werden geniale Menschen leiden, wenn sie sich selbst erst hinterdrein auf eine Lüge kommen, um die sie gar nicht wußten, als sie sie anderen gegenüber sprachen, oder mit der sie sich selbst belogen haben. Die anderen Menschen, die nicht dieses Bedürfnis nach Wahrheit haben wie er, bleiben eben darum immer viel tiefer in Lüge und Irrtum verstrickt, und dies ist der Grund, warum sie die eigentliche Meinung und die Heftigkeit des Kampfes großer Persönlichkeiten gegen die »Lebenslüge« so wenig verstehen.

Der hochstehende Mensch, das ist jener, in dem das zeitlose Ich die Macht gewonnen hat, sucht seinen Wert vor seinem intelligiblen Ich, vor seinem moralischen und intellektuellen Gewissen zu steigern. Auch seine Eitelkeit ist zunächst die vor sich selbst: es entsteht in ihm das Bedürfnis, sich selbst zu imponieren (mit seinem Denken, Handeln und Schaffen). Diese Eitelkeit ist die eigentliche Eitelkeit des Genies, das seinen Wert und seinen Lohn in sich selbst hat, und dem es nicht auf die Meinung anderer von ihm darum ankommt, damit es selbst auf diesem Umweg von sich eine höhere gewinne. Sie ist jedoch keineswegs etwas löbliches, und asketisch angelegte Naturen (Pascal) werden auch unter dieser Eitelkeit schwer leiden können, ohne doch je über sie hinauszukommen. Zur inneren Eitelkeit wird sich Eitelkeit vor anderen stets gesellen; aber die beiden liegen miteinander im Kampfe.

Wird nun nicht durch diese starke Betonung der Pflicht gegen sich selbst die Pflichterfüllung den anderen Menschen gegenüber beeinträchtigt? Stehen die beiden nicht in einem solchen Wechselverhältnis, daß, wer sich selbst die Treue wahrt, sie notwendig anderen brechen muß?

Keineswegs. Wie die Wahrheit nur eine ist, so gibt es auch nur ein Bedürfnis nach Wahrheit – Carlyles »Sincerity« – das man sowohl sich selbst als auch der Welt gegenüber hat oder nicht hat, aber nie getrennt, nie eines von beiden, nicht Weltbeobachtung ohne Selbstbeobachtung, und nicht Selbstbeobachtung ohne Weltbeobachtung: so gibt es überhaupt nur eine einzige Pflicht, nur einerlei Sittlichkeit. Man handelt moralisch oder unmoralisch überhaupt, und wer sich selbst gegenüber sittlich ist, der ist es auch den anderen gegenüber.

Über nichts sind indessen falsche Vorstellungen so verbreitet wie darüber, was sittliche Pflicht gegen den Nebenmenschen ist, und wodurch ihr erst genügt wird.

Wenn ich von jenen theoretischen Systemen der Ethik einstweilen absehe, welche Förderung der menschlichen Gesellschaft als das Prinzip betrachten, das allem Handeln zu Grunde zu legen sei, und die immerhin weniger auf die konkreten Gefühle während der Handlung und auf das empirische im Impulse, als auf das Walten eines generellen sittlichen Gesichtspunktes gehen und insofern doch hoch über aller Sympathiemoral stehen: so bleibt nur die populäre Meinung übrig, welche die Sittlichkeit eines Menschen größtenteils nach dem Grade seiner Mitleidigkeit, seiner »Güte« bestimmt. Von philosophischer Seite haben im Mitgefühle Hutcheson, Hume und Smith das Wesen und die Quelle alles ethischen Verhaltens erblickt; eine außerordentliche Vertiefung hat dann diese Lehre in Schopenhauers Mitleidsmoral erhalten. Die Schopenhauersche »Preisschrift über die Grundlage der Moral« verrät indes gleich in ihrem Motto »Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer« den Grundfehler aller Sympathieethik: als welche sie nämlich stets verkennt, daß die Ethik keine sachlich-beschreibende, sondern eine das Handeln normierende Wissenschaft ist. Wer sich über die Versuche lustig macht, genau zu erhorchen, was die innere Stimme im Menschen wirklich spricht, mit Sicherheit zu ergründen, was der Mensch soll, der verzichtet auf jede Ethik, die ihrem Begriffe nach eben eine Lehre von den Forderungen ist, welche der Mensch an sich und an alle anderen stellt; und nicht von dem erzählt, was er, diesen Forderungen Raum gebend oder sie übertönend, tatsächlich vollbringt. Nicht was geschieht, sondern was geschehen soll, ist Objekt der Moralwissenschaft, alles andere gehört in die Psychologie.

 

Alle Versuche, die Ethik in Psychologie aufzulösen, übersehen, daß jede psychische Regung im Menschen vom Menschen selbst gewertet wird, und das Maß zur Bewertung irgend welchen Geschehens nicht selbst Geschehnis sein kann. Dieser Maßstab kann nur eine Idee oder ein Wert sein, der nie völlig verwirklicht und aus keiner Erfahrung abzuleiten ist, weil er bestehen bleibt, wenn auch alle Erfahrung ihm zuwiderliefe. Sittliches Handeln kann also nur Handeln nach einer Idee sein. Es ist hienach nur zwischen solchen Morallehren zu wählen, welche Ideen, Maximen des Handelns aufstellen, und da kommt immer nur zweierlei in Betracht: der ethische Sozialismus oder die »Sozialethik«, die von Bentham und den Mill begründet, und später von eifrigen Importeuren auch auf den Kontinent und sogar nach Deutschland und Norwegen gebracht wurde, und der ethische Individualismus, wie ihn das Christentum und der deutsche Idealismus lehren.

Der zweite Fehler aller Ethik des Mitgefühls ist eben der, daß sie Moral begründen, ableiten will, Moral, die ihrem Begriffe nach den letzten Grund des menschlichen Handelns bilden soll, und darum nicht selbst noch erklärbar, deduzierbar sein darf, die Zweck an sich selbst ist und nicht mit irgend etwas außer ihr, wie Mittel und Zweck, in Verbindung gebracht werden darf. Soferne aber dieser Anspruch der Sympathiemoral mit dem Prinzipe jeder bloß deskriptiven und danach notwendig relativistischen Ethik übereinkommt, sind beide Fehler im Grunde eins, und muß diesem Unterfangen immer entgegengehalten werden, daß niemand, liefe er auch das ganze Gebiet aller Ursachen und Wirkungen ab, irgendwo den Gedanken eines höchsten Zweckes in ihm entdecken würde, der allein für alle moralischen Handlungen wesentlich ist. Der Zweckgedanke kann nicht aus Grund und Folge erklärt werden, das Verhältnis von Grund und Folge schließt ihn vielmehr aus. Der Zweck tritt auf mit dem Anspruch, das Handeln zu schaffen, an ihm wird der Erfolg und Ausgang aller Tat gemessen, und auch dann noch immer ungenügend gefunden, wenn selbst alle Faktoren, die sie bestimmten, wohl bekannt sind und noch so schwer ihr Gewicht im Bewußtsein geltend machen. Neben dem Reich der Ursachen gibt es ein Reich der Zwecke, und dieses Reich ist das Reich des Menschen. Vollendete Wissenschaft vom Sein ist eine Gesamtheit der Ursachen, die bis zur obersten Ursache aufsteigen will, vollendete Wissenschaft vom Sollen ein Ganzes der Zwecke, das in einem letzten höchsten Zwecke kulminiert.

Wer also das Mitleid ethisch positiv wertet, hat etwas, das gar nicht Handlung war, sondern nur Gefühl, nicht eine Tat, sondern nur ein Affekt (der seiner Natur nach nicht unter den Zweck-Gesichtspunkt fällt), moralisch beurteilt. Das Mitleid mag ein ethisches Phänomen, eine Äußerungsweise von etwas Ethischem sein, es ist aber so wenig ein ethischer Akt wie das Schamgefühl oder der Stolz; man hat zwischen ethischem Akt und ethischem Phänomen wohl zu unterscheiden. Unter dem ersteren darf nichts verstanden werden als bewußte Bejahung der Idee durch die Handlung: ethische Phänomene sind unbeabsichtigte, unwillkürliche Anzeichen einer andauernden Richtung des Gemütes auf die Idee. Nur in den Motivenkampf greift die Idee immer wieder ein und sucht ihn zu beeinflussen und zu entscheiden; in den empirischen Mischungen ethischer mit unethischen Gefühlen, des Mitleids mit der Schadenfreude, des Selbstgefühles mit dem Übermut, liegt noch nichts von einem Entschlusse. Das Mitleid ist vielleicht der sicherste Anzeiger der Gesinnung, aber kein Zweck irgend eines Handelns. Nur Wissen des Zweckes, Bewußtsein des Wertes gegenüber allem Unwerte konstituiert die Sittlichkeit; hierin hat Sokrates gegenüber allen Philosophen, die nach ihm gekommen sind (nur Plato und Kant haben ihm sich angeschlossen), recht. Ein alogisches Gefühl, wie das Mitleid immer ist, hat keinen Anspruch auf Achtung, sondern erweckt höchstens Sympathie.

Die Frage ist demnach erst zu beantworten, inwiefern ein Mensch sich sittlich verhalten könne gegen andere Menschen.

Nicht durch unerbetene Hilfe, die in die fremde Einsamkeit dringt und die Grenzen durchbricht, welche der Nebenmensch um sich zieht, sondern durch die Ehrerbietung, mit der man diese Grenzen wahrt; nicht durch Mitleid, nur durch Achtung. Achtung, dies hat Kant zuerst ausgesprochen, bringen wir keinem Wesen auf der Welt entgegen als dem Menschen. Es ist seine ungeheuere Entdeckung, daß kein Mensch sich selbst, sein intelligibles Ich, die Menschheit (das ist nicht die menschliche Gesellschaft von 1500 Millionen, sondern die Idee der Menschenseele) in seiner Person oder in der Person des anderen als Mittel zum Zweck gebrauchen kann. »In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst.«

Womit aber erweise ich einem Menschen Verachtung, und wie bezeige ich ihm meine Achtung? Das erste, indem ich ihn ignoriere, das zweite, indem ich mich mit ihm beschäftige. Wie benütze ich ihn als Mittel zum Zweck, und wie ehre ich in ihm etwas, das Selbstzweck ist? Das eine, indem ich ihn nur als Glied in der Kette der Umstände betrachte, mit denen meine Handlungen zu rechnen haben, das andere, indem ich ihn zu erkennen suche. Erst so, indem man sich für ihn, ohne es ihm gerade zu zeigen, interessiert, an ihn denkt, sein Handeln zu begreifen, sein Schicksal mitzufühlen, ihn selbst zu verstehen sucht, erst dadurch, nur dadurch kann man seinen Mitmenschen ehren. Nur wer, durchs eigene Ungemach nicht selbstsüchtig geworden, allen kleinlichen Hader mit dem Mitmenschen vergessend, den Zorn gegen ihn unterdrückend, ihn zu verstehen trachtet, der ist wahrhaft uneigennützig gegen seinen Nächsten; und er handelt sittlich, denn er siegt gerade dann über den stärksten Feind, der das Verständnis des Nebenmenschen am längsten erschwert: über die Eigenliebe.

Wie verhält sich nun in dieser Hinsicht der hervorragende Mensch?

Er, der die meisten Menschen versteht, weil er am universellsten veranlagt ist, der zum Weltganzen in der innigsten Beziehung lebt, es am leidenschaftlichsten objektiv zu erkennen trachtet, er wird auch wie kein zweiter an seinem Nebenmenschen sittlich handeln. In der Tat, niemand denkt so viel und so intensiv wie er über die anderen Menschen (ja über viele auch, wenn er sie nur ein einziges Mal flüchtig erblickt hat), und niemand sucht so lebhaft wie er zur Klarheit über sie zu kommen, wenn er sie noch nicht mit genügender Deutlichkeit und Intensität in sich hat. Wie er selbst eine kontinuierlich von seinem Ich erfüllte Vergangenheit hinter sich hat, so wird er auch darüber sich Gedanken machen, welches das Schicksal der anderen in der Zeit gewesen ist, ehe da er sie noch kennen lernte. Er folgt dem stärksten Zuge des inneren Wesens, wenn er über sie denkt, denn er sucht ja in ihnen nur über sich zur Klarheit, zur Wahrheit zu gelangen. Hier zeigt sich eben, daß die Menschen alle Glieder einer intelligiblen Welt sind, in der es keinen beschränkten Egoismus oder Altruismus gibt. Nur so ist es zu erklären, daß große Männer, wie zu den Menschen neben ihnen, so auch zu allen Persönlichkeiten der Geschichte, die zeitlich vor ihnen gelebt haben, in ein lebendigeres, verständnisvolleres Verhältnis treten, nur dies der Grund, warum der große Künstler auch die geschichtliche Individualität so viel besser und intensiver erfaßt als der bloß wissenschaftliche Historiker. Es gibt keinen großen Mann, der nicht zu Napoleon, zu Plato, zu Mohammed in einem persönlichen Verhältnisse stünde. So nämlich erweist er auch denen seine Achtung und wahre Pietät, die vor ihm gelebt haben. Und wenn so mancher, der mit Künstlern verkehrt hat, sich peinlich berührt fühlte, als er sich später in einer ihrer Schöpfungen wiedererkannte; wenn deshalb so oft über den Dichter die Beschwerde laut wird, daß ihm alles zum Modell werde, so ist das unangenehme Gefühl in solcher Situation nur zu begreiflich; aber der Künstler, der mit der Kleinlichkeit der Menschen nicht rechnet, hat darum kein Verbrechen begangen: er hat, in seiner Weise der unreflektierten Darstellung und Neuerzeugung der Welt, den schöpferischen Akt des Verständnisses vollzogen; und es gibt kein Verhältnis zwischen Menschen, das reiner wäre als dieses.

Damit dürfte denn auch das sehr wahre, schon einmal erwähnte Wort Pascals an Verständlichkeit gewonnen haben: »A mesure qu'on a plus d'esprit, on trouve qu'il y a plus d'hommes originaux. Les gens du commun ne trouvent pas de différence entre les hommes.« – Es hängt mit all dem ferner zusammen, daß ein Mensch, je höher er stehen, desto größere Anforderungen bezüglich des Verstehens fremder Äußerungen an sich stellen wird; während der Unbegabte bald etwas zu verstehen glaubt, oft gar nicht einmal fühlt, daß hier etwas ist, das er nicht versteht, den fremden Geist kaum empfindet, der aus einem Kunstwerk, aus einer Philosophie zu ihm spricht; und so höchstens ein Verhältnis zu den Sachen gewinnt, aber nicht zum Nachdenken über den Schöpfer selbst sich aufschwingt. Der bedeutende Mensch, der die höchste Stufe der Bewußtheit erklimmt, identifiziert nicht leicht etwas, das er liest; mit sich und seiner Meinung, während bei geringerer Helligkeit des Geistes sehr verschiedene Dinge ineinander verschwimmen und sich gleich ausnehmen können.

Der geniale Mensch ist derjenige, dem sein Ich zum Bewußtsein gelangt ist. Darum kommt ihm auch das Anderssein der anderen am ehesten zur Abhebung, darum empfindet er im anderen Menschen auch dann dessen Ich, wenn dieses noch gar nicht stark genug war, um jenem selbst zum Bewußtsein zu kommen. Aber nur wer fühlt, daß der andere Mensch auch ein Ich, eine Monade, ein eigenes Zentrum der Welt ist, mit besonderer Gefühlsweise und Denkart, und besonderer Vergangenheit, der wird von selbst davor gefeit sein, den Mitmenschen bloß als Mittel zum Zweck zu benützen, er wird der Kantischen Ethik gemäß auch im Mitmenschen die Persönlichkeit (als Teil der intelligiblen Welt) spüren, ahnen und darum ehren, und nicht bloß an ihm sich ärgern. Psychologische Grundbedingung alles praktischen Altruismus ist daher theoretischer Individualismus.

Hier liegt also die Brücke, welche vom moralischen Verhalten sich selbst gegenüber zum moralischen Verhalten dem anderen gegenüber führt, jene Vermittlung, deren Mangel in der Kantischen Philosophie von Schopenhauer mit Unrecht als ein Fehler derselben angesehen, und ihr wie ein notwendiges, in ihren wesentlichen Prinzipien begründetes Unvermögen ausgelegt wurde.

Die Probe darauf ist leicht zu machen. Nur der vertierte Verbrecher und der Irrsinnige interessieren sich gar nicht auch nur für irgend einen unter ihren Nebenmenschen, sie leben, als ob sie allein auf der Welt wären, sie fühlen die Anwesenheit des Fremden gar nicht. Es gibt also keinen praktischen Solipsismus: in wem ein Selbst ist, für den gibt es auch ein Selbst im Nebenmenschen; und nur wenn ein Mensch seinen (logischen und ethischen) Wesenskern eingebüßt hat, reagiert er auch auf den zweiten Menschen nicht mehr so, als ob dieser ein Mensch, ein Wesen mit durchaus eigener Persönlichkeit wäre. Ich und Du sind eben Wechselbegriffe.

Am stärksten gelangt der Mensch zum Bewußtsein seiner selbst, wenn er mit anderen Menschen beisammen ist. Darum ist der Mensch in Gegenwart anderer Menschen stolzer, als wenn er allein ist, und bleibt es den Stunden seiner Einsamkeit aufgespart, seinen Übermut zu dämpfen.

 

Endlich: wer sich tötet, der tötet gleichzeitig die ganze Welt; und wer den anderen mordet, begeht eben darum das schwerste Verbrechen, weil er in ihm sich gemordet hat. So ist denn jener Solipsismus im Praktischen ein Unding, und sollte lieber Nihilismus genannt werden; wenn kein Du da ist, dann ist auch sicherlich nie ein Ich vorhanden, es bleibt hernach überhaupt – nichts.

Auf die psychologische Verfassung kommt es an, welche es unmöglich macht, den anderen Menschen als Mittel zum Zweck zu gebrauchen. Und da fand sich: wer seine Persönlichkeit fühlt, der fühlt sie auch in anderen. Für ihn ist das Tat-tvam-asi keine schöne Hypothese, sondern Wirklichkeit. Der höchste Individualismus ist der höchste Universalismus.

Schwer irrt also der Leugner des Subjektes, Ernst Mach, wenn er glaubt, nach dem Verzicht auf das eigene Ich sei erst ein ethisches Verhalten, »welches Mißachtung des fremden Ich und Überschätzung des eigenen ausschließt,« zu erwarten. Es hat sich eben gezeigt, wohin der Mangel eines eigenen Ich im Verhalten zum Nebenmenschen führt. Das Ich ist Grundbedingung auch aller sozialen Moral. Gegen eine bloße Verknotungsstelle von »Elementen« werde ich mich, rein psychologisch, nie ethisch verhalten können. Als Ideal kann man das aussprechen; es ist aber dem praktischen Verhalten ganz entrückt, kann ihm nie als Norm dienen, weil es die psychologische Bedingung aller Verwirklichung der sittlichen Idee eliminiert, während die moralische Forderung eben psychologisch da ist.

Gerade umgekehrt handelt es sich darum, jedem Menschen bewußt zu machen, daß er ein höheres Selbst, eine Seele besitzt, und daß auch die anderen Menschen eine Seele besitzen. (Dazu wird der größte Teil der Menschheit aber immer einen Seelenhirten benötigen.) Erst hiemit ist ein ethisches Verhältnis zum Nebenmenschen da, wirklich da.

Dieses Verhältnis aber ist im genialen Menschen in einzigster Weise verwirklicht. Niemand wird mit den Menschen, und darum an den Menschen, mit denen er lebt, so leiden wie er. Denn in bestimmtem Sinne wird sicherlich der Mensch nur »durch Mitleid wissend«. Ist Mitleid auch nicht selbst klares, abstrakt-begriffliches oder anschaulich-symbolisches Wissen, so ist es doch der stärkste Impuls, um zu allem Wissen zu gelangen. Nur durch Leiden unter den Dingen begreift sie der Genius, nur durch Leiden mit den Menschen versteht er diese. Und der Genius leidet am meisten, weil er mit allem und in allem leidet; aber am stärksten leidet er an seinem Mitleiden.

Wurde in einem früheren Kapitel das Geniale zu erweisen gesucht als jener Faktor, der den Menschen erst eigentlich über das Tier erhebt, und zugleich damit die Tatsache in Verbindung gebracht, daß nur der Mensch eine Geschichte hat (diese erkläre sich aus der allen Menschen innewohnenden und nur graduell verschiedenen Genialität), so muß hierauf nun noch einmal zurückgegriffen werden. Genialität fällt zusammen mit lebendiger Tätigkeit des intelligiblen Subjektes. Und Geschichte offenbart sich nur im Sozialen, im »objektiven Geiste«, die Individuen an sich bleiben sich ewig gleich und schreiten nicht vor wie dieser (sie sind das Ahistorische). So sehen wir hier, wie unsere Fäden zusammenlaufen, um ein überraschendes Resultat zu erzeugen. Ist nämlich – hierin glaube ich nicht zu irren – die zeitlose menschliche Persönlichkeit auch Bedingung jedes wahrhaft ethischen Verhaltens auch gegen den Nebenmenschen, Individualität Voraussetzung einer sozialen Gesinnung, so wird damit auch klar, warum das »animal metaphysicum« und das »ζῷον πολιτικόν«, das geniale Geschöpf und der Träger einer Geschichte eines sind, ein und dasselbe Wesen, nämlich der Mensch. Und so ist auch die alte Streitfrage erledigt, was früher da sei, Individuum oder Gemeinschaft: beide nämlich sind zugleich und miteinander da.

Hiemit betrachte ich denn in jeder Beziehung den Nachweis als geführt, daß Genialität höhere Sittlichkeit überhaupt ist. Der bedeutende Mensch ist nicht nur der sich selbst treueste, der nichts von sich vergessende, der, dem Irrtum und Lüge am verhaßtesten, am unerträglichsten sind; er ist auch der sozialste, der einsamste zugleich der zweisamste Mensch. Das Genie ist eine höhere Daseinsform überhaupt, nicht nur intellektuell, sondern auch moralisch. Der Genius offenbart ganz eigentlich die Idee des Menschen. Er kündet, was der Mensch ist: das Subjekt, dessen Objekt das ganze Universum, und stellt das fest für ewige Zeiten.

Man lasse sich nicht irre machen. Bewußtsein, und nur Bewußtsein, ist an und für sich moralisch, alles Unbewußte unmoralisch, und alles Unmoralische unbewußt. Das »unmoralische Genie«, der »große böse Mensch« ist deshalb ein Fabeltier; von großen Menschen in bestimmten Augenblicken ihres Lebens als eine Möglichkeit ersonnen, um dann, sehr gegen den Willen der Schöpfer, für furchtsame und schwächliche Naturen einen Wauwau abzugeben, mit dem sie sich und andere Kinder schrecken. Es gibt keinen Verbrecher, der seiner Tat gewachsen wäre, der da dächte und spräche wie der Hagen der »Götterdämmerung« an Siegfrieds Leichnam: »Ja denn, ich hab ihn erschlagen, ich, Hagen, schlug ihn zu tot!« Napoleon und Baco von Verulam, die man als Gegeninstanzen anführt, werden intellektuell bei weitem überschätzt oder falsch gedeutet. Und zu Nietzsche darf man in diesen Dingen – wenn er von den Borgias zu reden anfängt – am wenigsten Vertrauen hegen. Die Konzeption des Diabolischen, des Antichrist, des Ahriman, des »Radikal-Bösen in der menschlichen Natur« ist überaus gewaltig. Mit dem Genie aber hat sie nur insoferne zu schaffen, als sie gerade sein Gegenteil ist. Sie ist eine Fiktion, geboren in den Stunden, da große Menschen gegen den Verbrecher in sich den entscheidenden Kampf gekämpft haben.

Universelle Apperzeption, Allgemeinbewußtsein, vollkommene Zeitlosigkeit ist ein Ideal, auch für die »genialen« Menschen; Genialität ist ein innerer Imperativ, nie bei einem Menschen je gänzlich vollzogene Tatsache. Darum wird zu allerletzt ein »genialer« Mensch, er am allerwenigsten, von sich so einfach zu sagen imstande sein: »Ich bin ein Genie.« Denn Genialität ist, ihrem Begriffe nach, nichts als gänzliche Erfüllung der Idee des Menschen, und darum genial etwas, das jeder Mensch sein sollte und das zu werden prinzipiell jedem Menschen möglich sein muß. Denn Genialität ist höchste Sittlichkeit, und darum Pflicht eines jeden. Zum Genie wird der Mensch durch einen höchsten Willensakt, indem er das ganze Weltall in sich bejaht. Genialität ist etwas, das die »genialen Menschen« auf sich genommen haben: es ist die größte Aufgabe und der größte Stolz, das größte Unglück und das größte Hochgefühl, das einem Menschen möglich ist. So paradox es klingt: genial ist der Mensch, wenn er es sein will.

Nun wird man freilich sagen: sehr viele Menschen möchten sehr gerne »Original-Genies« sein, und es hilft ihnen doch aller Wunsch nicht dazu. Aber wenn diese Menschen, die »es sehr gerne möchten«, eine lebhaftere Ahnung davon hätten, was das, wonach ihr Wunsch verlangt, eigentlich bedeutet, wenn ihnen aufgegangen wäre, daß Genialität identisch ist mit universeller Verantwortlichkeit – und bevor einem etwas ganz klar ist, kann er es ja nur wünschen, nicht wollen – so ist wahrscheinlich, daß die weitaus größte Zahl der Menschen, genial zu werden, ablehnen würde.