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Wahrheit, Reinheit, Treue, Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber: das ist die einzig denkbare Ethik. Es gibt nur Pflichten gegen sich, Pflichten des empirischen gegen das intelligible Ich, welche in der Form jener zwei Imperative auftreten, an denen aller Psychologismus immer zu Schanden wird: in der Form der logischen und der moralischen Gesetzlichkeit. Die normativen Disziplinen, die psychische Tatsache der inneren Forderung, die viel mehr verlangt, als alle bürgerliche Gesittung je haben will – das ist es, was kein Empirismus je wird ausreichend erklären können. Seinen wahren Gegensatz findet er in einer kritisch-transscendentalen, nicht in einer metaphysisch-transcendenten Methode, da alle Metaphysik nur hypostasierende Psychologie, Transcendentalphilosophie aber Logik der Wertungen ist. Aller Empirismus und Skeptizismus, Positivismus und Relativismus, aller Psychologismus und alle rein immanente Betrachtungsweise fühlen instinktiv sehr wohl, daß aus Ethik und Logik ihnen die Hauptschwierigkeit erwächst. Daher die fortwährend erneuten und immer vergeblichen Versuche einer empirischen und psychologischen Begründung dieser Disziplinen; und fast wird nur noch ein Versuch vermißt, das principium contradictionis experimentell zu prüfen und nachzuweisen.

Logik und Ethik aber sind im Grunde nur eines und dasselbe – Pflicht gegen sich selbst. Sie feiern ihre Vereinigung im höchsten Werte der Wahrheit, dem dort der Irrtum, hier die Lüge gegenübersteht: die Wahrheit selbst aber ist nur eine. Alle Ethik ist nur nach den Gesetzen der Logik möglich, alle Logik ist zugleich ethisches Gesetz. Nicht nur Tugend, sondern auch Einsicht, nicht nur Heiligkeit, sondern auch Weisheit ist Pflicht und Aufgabe des Menschen: erst beide zusammen begründen Vollkommenheit.

Aber freilich ist aus der Ethik, deren Sätze Heischesätze sind, nicht wie aus der Logik ein strenger logischer Beweis für Existenz schon zu führen. Die Ethik ist nicht im selben Sinne logisches wie die Logik ethisches Gebot. Die Logik rückt dem Ich seine völlige Verwirklichung als absolutes Sein vor Augen; die Ethik hingegen gebietet erst diese Verwirklichung. Die Logik wird von der Ethik aufgenommen und zu ihrem eigentlichen Inhalte, zu ihrer Forderung gemacht.

An jener berühmten Stelle der »Kritik der praktischen Vernunft«, da Kant den Menschen als Glied der intelligiblen Welt einführt (»Pflicht! Du erhabener, großer Name ....«), wird man also mit Recht fragen, woher denn Kant wisse, daß das moralische Gesetz von der Persönlichkeit emaniere? Es könne kein anderer, seiner würdiger, Ursprung gefunden werden, ist das einzige, was Kant hierauf zur Antwort gibt. Er begründet es nicht weiter, daß der kategorische Imperativ das vom Noumenon gegebene Gesetz sei, sie gehören ihm offensichtlich von Anfang an zusammen. Das aber liegt in der Natur der Ethik. Diese fordert, daß das intelligible Ich von allen Schlacken des empirischen frei wirke, und so kann durch die Ethik dasselbe Sein erst in seiner Reinheit gänzlich verwirklicht werden, welches die Logik verheißungsvoll in der Form eines doch irgendwie bereits Gegenwärtigen uns verkündet.

Aber was für Kant die Monaden-, die Seelenlehre im Gemüte bedeutete, wie er an ihr als einzigem Gute von je festhielt, und mit seiner Theorie vom »intelligiblen Charakter«, den man so oft als eine neue Entdeckung oder Erfindung, als ein Auskunftsmittel der Kantischen Philosophie mißversteht, nur das an ihr wissenschaftlich Haltbare festlegen wollte: dies ist aus jener Unterlassung deutlich zu entnehmen.

Es gibt Pflicht nur gegen sich selbst; des muß Kant schon in frühester Jugend (vielleicht nachdem er einmal den Impuls zur Lüge verspürt hatte) sicher geworden sein.

Wenn von der Herakles-Sage, von einigen Stellen Nietzsches und eher noch Stirners, aus denen man Kant-Verwandtes herauslesen kann, abgesehen wird, so hat das Prinzip der Kantischen Ethik bloß Ibsen (im »Brand« und »Peer Gynt«) beinahe selbständig gefunden. Gelegentlich sind Äußerungen, wie Hebbels Epigramm »Lüge und Wahrheit«:

 
»Was Du teurer bezahlst, die Lüge oder die Wahrheit?
Jene kostet Dein Ich, diese doch höchstens Dein Glück.«
 

oder Suleikas weltbekannte Worte aus dem »Westöstlichen Diwan«:

 
»Volk und Knecht und Überwinder,
Sie gesteh'n zu jeder Zeit:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.
 
 
Jedes Leben sei zu führen,
Wenn man sich nicht selbst vermißt;
Alles könne man verlieren,
Wenn man bleibe, was man ist.«
 

Sicher ist es wahr, daß die meisten Menschen irgendwie Jehovah brauchen. Die wenigsten – es sind die genialen Menschen – leben gar nicht heteronom. Die anderen rechtfertigen ihr Tun und Lassen, ihr Denken und Sein mindestens in Gedanken auch immer vor jemand anderem, sei es ein persönlicher Judengott, oder ein geliebter, geachteter, gefürchteter Mensch. Nur so handeln sie in formeller äußerer Übereinstimmung mit dem Sittengesetz.

Kant war, wie dies aus seiner ganzen, sich selbst gesetzten, bis ins einzelnste unabhängigen Lebensführung hervorleuchtet, so durchdrungen von seiner Überzeugung, daß der Mensch nur sich selbst verantwortlich ist, daß er diesen Punkt seiner Lehre als den selbstverständlichsten, Anfechtungen am wenigsten ausgesetzten, betrachtete. Und doch hat gerade hier das Schweigen Kantens dazu beigetragen, daß seine Ethik, die einzige gerade introspektiv-psychologisch haltbare, die einzige, welche die harte und strenge innere Stimme des Einen nicht durch den Lärm der Vielen undeutlich zu machen sucht, daß diese Ethik tatsächlich so wenig verstanden worden ist.

Auch für Kant hat es, darauf läßt eine Stelle in seiner »Anthropologie« schließen, in seinem irdischen Leben einen Zustand gegeben, welcher der »Begründung eines Charakters« vorherging. Aber der Augenblick, in dem es ihm zu furchtbar strahlender Klarheit gelangte: ich habe nur mir selbst Rechenschaft abzulegen, muß niemand anderem dienen, kann nicht in Arbeit mich vergessen; ich steh' allein, bin frei, bin mein Herr: dieser Moment bezeichnet die Geburt der Kantischen Ethik, des heroischesten Aktes der Weltgeschichte.

»Zwey Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beides darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuthen; ich sehe sie vor mir, und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich, nicht wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne. Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines thierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punct im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß, nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Thierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen läßt.«

So verstehen wir jetzt, nach diesem Beschlusse, diese »Kritik der praktischen Vernunft«. Der Mensch ist allein im Weltall, in ewiger, ungeheuerer Einsamkeit.

Er hat keinen Zweck außer sich, nichts anderes, wofür er lebt – weit ist er fortgeflogen über Sklave-sein-wollen, Sklave-sein-können, Sklave-sein-müssen: tief unter ihm verschwunden alle menschliche Gesellschaft, versunken die Sozial-Ethik; er ist allein, allein.

Aber er ist nun eben erst einer und alles; und darum hat er auch ein Gesetz in sich, darum ist er selbst alles Gesetz, und keine springende Willkür. Und er verlangt von sich, daß er dieses Gesetz in sich, das Gesetz seines Selbst, befolge, daß er nur Gesetz sei, ohne Rück-Sicht hinter sich, ohne Vor-Sicht vor sich. Das ist das Grauenvoll-Große: es hat weiter keinen Sinn, daß er der Pflicht gehorche. Nichts ist ihm, dem Alleinen, All-Einen übergeordnet. Doch der unerbittlichen, keine Verhandlung mit sich duldenden, das ist kategorischen Forderung in sich muß er nachkommen. Erlösung! ruft er28, Ruhe, nur schon Ruhe vor dem Feind, Frieden, nicht dies endlose Ringen – und erschrickt: selbst im Erlöst-sein-wollen war noch Feigheit, im schmachtenden Schon! noch Desertion, als wäre er zu klein diesem Kampf. Wozu! fragt er, schreit er hinaus ins Weltall – und errötet; denn gerade wollte er wieder das Glück, die Anerkennung des Kampfes, den, der ihn belohne, den anderen. Kantens einsamster Mensch lacht nicht und tanzt nicht, er brüllt nicht und jubelt nicht: er hat es nicht not Lärm zu machen, weil der Weltraum zu tief schweigt. Nicht die Sinnlosigkeit einer Welt »von ohngefähr« ist ihm Pflicht, sondern seine Pflicht ist ihm der Sinn des Weltalls. Ja sagen zu dieser Einsamkeit, das ist das »Dionysische« Kantens; das erst ist Sittlichkeit.

 

VIII. Kapitel.
Ich-Problem und Genialität

»Im Anfang war diese Welt allein der Âtman, in Gestalt eines Menschen. Der blickte um sich: da sah er nichts anderes als sich selbst. Da rief er zu Anfang aus: ‚Das bin ich!’ Daraus entstand der Name Ich. – Daher auch heutzutage, wenn einer angerufen wird, so sagt er zuerst: ‚Das bin ich’ und dann erst nennt er den anderen Namen, welchen er trägt.«

(Bṛihadâraṇyaka-Upanishad.)

Viele Prinzipienstreitigkeiten in der Psychologie beruhen auf den individuellen charakterologischen Differenzen zwischen den Dissentierenden. Der Charakterologie könnte damit, wie bereits erwähnt, eine wichtige Rolle zufallen: während der eine dies, der andere jenes in sich vorzufinden behauptet, hätte sie zu lehren, warum die Selbstbeobachtung des einen anders ausfällt als die des zweiten; oder wenigstens zu zeigen, durch was alles die in Rede stehenden Personen noch sich unterscheiden. In der Tat sehe ich keinen anderen Weg, gerade in den umstrittensten psychologischen Dingen ins Reine zu kommen. Die Psychologie ist eine Erfahrungswissenschaft, und darum geht nicht wie in den überindividuellen Normwissenschaften der Logik und Ethik das Allgemeine dem Besonderen in ihr vorher, sondern es muß umgekehrt vom individuellen Einzelmenschen ausgegangen werden. Es gibt keine empirische Allgemeinpsychologie; und es war ein Fehler, eine solche ohne gleichzeitigen Betrieb differentieller Psychologie in Angriff zu nehmen.

Schuld an dem Jammer ist die Doppelstellung der Psychologie zwischen Philosophie und Empfindungsanalyse. Von welcher der beiden die Psychologen kamen, stets traten sie mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Ergebnisse auf. Aber vielleicht sind nicht einmal so fundamentale Fragen, wie diese, ob es einen tätigen Akt der Wahrnehmung, eine Spontaneität des Bewußtseins schon in der Empfindung gebe oder nicht, ohne charakterologische Unterscheidungen gänzlich ins Reine zu bringen.

Einen kleinen Teil solcher Amphibolien durch Charakterologie aufzulösen ist, in Hinsicht auf die Psychologie der Geschlechter, eine Hauptaufgabe dieser Arbeit. Die verschiedenen Behandlungen des Ich-Problems hingegen resultieren nicht sowohl aus den psychologischen Differenzen der Geschlechter, sondern zunächst, wenn auch nicht ausschließlich29, aus den individuellen Unterschieden in der Begabung.

Gerade die Entscheidung zwischen Hume und Kant ist auch charakterologisch möglich, insoferne etwa, als ich zwischen zwei Menschen entscheiden kann, von denen dem einen die Werke des Makart und Gounod, dem anderen die Rembrandts und Beethovens das Höchste sind. Ich werde solche Menschen nämlich zunächst unterscheiden nach ihrer Begabung. Und so ist es auch in diesem Falle statthaft, ja notwendig, die Urteile über das Ich, wenn sie von zwei sehr verschieden hoch veranlagten Menschen ausgehen, nicht ganz gleich zu werten. Es gibt keinen wahrhaft bedeutenden Menschen, der nicht von der Existenz des Ich überzeugt wäre; ein Mensch, der das Ich leugnet, kann nie ein bedeutender Mensch sein.30

Diese These wird sich im Laufe des nun Folgenden als eine Behauptung von zwingender Notwendigkeit herausstellen, und auch für die in ihr gelegene Höherwertung der Urteile des Genius eine Begründung gesucht und gefunden werden.

Es gibt nämlich keinen bedeutenden Menschen und kann keinen geben, für den nicht im Laufe seines Lebens, im allgemeinen je bedeutender er ist, desto früher (vgl. Kapitel 5), ein Moment käme, in welchem er die völlige Sicherheit gewinnt, ein Ich im höheren Sinne zu besitzen.31 Man vergleiche folgende Äußerungen dreier sehr verschiedener Menschen und überaus genialer Naturen.

Jean Paul erzählt in seiner autobiographischen Skizze »Wahrheit aus meinem Leben«:

»Nie vergess' ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht: ich bin ein Ich! wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb – da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig. Täuschungen des Erinnerns sind hier schwerlich gedenkbar, da kein fremdes Erzählen sich in eine bloß im verhangenen Allerheiligsten des Menschen vorgefallene Begebenheit, deren Neuheit allein so alltäglichen Nebenumständen das Bleiben gegeben, mit Zusätzen mengen konnte.«

Und offenbar meint ganz das nämliche Erlebnis Novalis, der in seinen »Fragmenten vermischten Inhalts« bemerkt:

»Darthun läßt sich dieses Factum nicht, jeder muß es selbst erfahren. Es ist ein Factum höherer Art, das nur der höhere Mensch antreffen wird; die Menschen aber sollen streben, es in sich zu veranlassen. Philosophieren ist eine Selbstbesprechung obiger Art, eine eigentliche Selbstoffenbarung, Erregung des wirklichen Ich durch das idealische Ich. Philosophieren ist der Grund aller anderen Offenbarungen; der Entschluß zu philosophieren ist eine Aufforderung an das wirkliche Ich, daß es sich besinnen, erwachen und Geyst sein solle.«

Schelling bespricht im achten seiner »Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus«, einem wenig bekannten Jugendwerk, dasselbe Phänomen mit folgenden tiefen und schönen Worten: »Uns allen … wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser Innerstes, von allem, was von außenher hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen. Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher alles, alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben. Diese Anschauung zuerst überzeugt uns, daß irgend etwas im eigentlichen Sinne ist, während alles übrige nur erscheint, worauf wir jenes Wort übertragen. Sie unterscheidet sich von jeder sinnlichen Anschauung dadurch, daß sie nur durch Freiheit hervorgebracht und jedem anderen fremd und unbekannt ist, dessen Freiheit, von der hervordringenden Macht der Objekte überwältigt, kaum zur Hervorbringung des Bewußtseins hinreicht. Doch gibt es auch für diejenigen, die diese Freiheit der Selbstanschauung nicht besitzen, wenigstens Annäherung zu ihr, mittelbare Erfahrungen, durch welche sie ihr Dasein ahnen läßt. Es gibt einen gewissen Tiefsinn, dessen man sich selbst nicht bewußt ist, den man vergebens sich zu entwickeln strebt. Jakobi hat ihn beschrieben ..... Diese intellektuale Anschauung tritt dann ein, wo wir für uns selbst aufhören, Objekt zu sein, wo, in sich selbst zurückgezogen, das anschauende Selbst mit dem angeschauten identisch ist. In diesem Moment der Anschauung schwindet für uns Zeit und Dauer dahin: nicht wir sind in der Zeit, sondern die Zeit – oder vielmehr nicht sie, sondern die reine absolute Ewigkeit ist in uns. Nicht wir sind in der Anschauung der objektiven Welt, sondern sie ist in unserer Anschauung verloren.«

Es wird der Immanente, der Positivist, vielleicht nur lächeln über den betrogenen Betrüger, den Philosophen, der solche Erlebnisse zu haben vorgibt. Nun, dagegen läßt sich nicht leicht etwas tun. Ist auch überflüssig. Doch bin ich keineswegs der Meinung, daß jenes »Faktum hoher Art« sich bei allen genialen Menschen in jener mystischen Form eines Eins-Werdens von Subjekt und Objekt, eines einheitlichen Erlebens abspiele, wie Schelling dies beschreibt. Ob es ungeteilte Erlebnisse gibt, in denen der Dualismus schon während des Lebens überwunden wird, wie dies von Plotin und den indischen Mahatmas bezeugt ist, oder ob dies nur höchste Intensifikationen des Erlebens sind, prinzipiell aber gleichartig mit allem anderen – dies soll uns hier nicht beschäftigen, das Zusammenfallen von Subjekt und Objekt, von Zeit und Ewigkeit, das Schauen Gottes durch den lebenden Menschen weder als möglich behauptet noch als unmöglich in Abrede gestellt werden. Erkenntnistheoretisch ist mit einem Erleben des eigenen Ich nichts anzufangen, und noch niemand hat es je für eine systematische Philosophie zu verwerten gesucht. Ich will daher jenes Faktum »höherer Art«, das sich bei einem Menschen so, beim anderen anders vollzieht, nicht Erlebnis des eigenen Ich nennen, sondern nur als das Ich-Ereignis bezeichnen.

Das Ich-Ereignis kennt jeder bedeutende Mensch. Ob er nun in der Liebe zu einem Weibe erst sein Ich finde und sich seines Selbst bewußt werde32 – denn der bedeutende Mensch liebt intensiver als der unbedeutende – oder ob er durch ein Schuldbewußtsein, wieder vermöge eines Kontrastes, zum Gefühle seines höheren echten Wesens gelange, dem er in der bereuten Handlung untreu wurde – denn auch das Schuldbewußtsein ist im bedeutenden Menschen heftiger und differenzierter als im unbedeutenden; ob ihn das Ich-Ereignis zum Eins-Werden mit dem All, zum Schauen aller Dinge in Gott führe, oder ihm vielmehr den furchtbaren Dualismus zwischen Natur und Geist im Weltall offenbare, und in ihm das Erlösungsbedürfnis, das Bedürfnis nach dem inneren Wunder, wachrufe: immer und ewig ist mit dem Ich-Ereignis zugleich der Kern einer Weltanschauung, ganz von selbst, ohne Zutun des denkenden Menschen, bereits gegeben. Weltanschauung ist nicht die große Synthese, die am jüngsten Tage der Wissenschaft von irgend einem besonders fleißigen Mann, der durch alle Fächer der Reihe nach sich hindurchgearbeitet hat, vor dem Schreibtisch inmitten einer großen Bibliothek vollzogen wird, Weltanschauung ist etwas Erlebtes, und sie kann als Ganzes klar und unzweideutig sein, wenn auch im einzelnen noch so vieles vorderhand in Dunkelheit und Widerspruch verharrt. Das Ich-Ereignis aber ist Wurzel aller Weltanschauung, d. h. aller Anschauung der Welt als ganzer, und zwar für den Künstler nicht minder als für den Philosophen. Und so radikal sonst die Weltanschauungen voneinander differieren, eines wohnt ihnen allen, soweit sie den Namen einer Weltanschauung verdienen33, gemeinsam inne; es ist eben das, was durchs Ich-Ereignis vermittelt wird, der Glaube, den jeder bedeutende Mensch besitzt: die Überzeugung von der Existenz eines Ich oder einer Seele, die im Weltall einsam ist, dem ganzen Weltall gegenübersteht, die ganze Welt anschaut.

 

Vom Ich-Ereignis an gerechnet wird der bedeutende Mensch im allgemeinen – Unterbrechungen, vom fürchterlichsten der Gefühle, vom Gefühle des Gestorbenseins, ausgefüllt, mögen wohl häufig vorkommen – mit Seele leben.

Aus diesem Grunde, und nicht allein aus hochgestimmtem Hinblick auf eben Geschaffenes schreibt es, wie ich an dieser Stelle beifügen will, sich her, daß bedeutende Menschen immer, in jedem Sinne, auch das größte Selbstbewußtsein haben werden. Nichts ist so gefehlt, als von der »Bescheidenheit« großer Männer zu reden, die gar nicht gewußt hätten, was in ihnen stecke. Es gibt keinen bedeutenden Menschen, der nicht wüßte, wie sehr er sich von den anderen unterscheidet (mit Ausnahme der Depressionsperioden, welchen gegenüber sogar der in besseren Zeiten gefaßte Vorsatz, von nun ab etwas von sich zu halten, fruchtlos bleiben mag), keinen, der sich nicht für einen bedeutenden Menschen hielte, sobald er einmal etwas geschaffen hat – allerdings auch keinen, dessen Eitelkeit oder Ruhmsucht so gering wäre, daß er sich nicht noch stets überschätzte. Schopenhauer hat sich für viel größer gehalten als Kant. Wenn Nietzsche seinen Zarathustra für das tiefste Buch der Welt erklärt, so spielt außerdem wohl noch die Enttäuschung durch die schweigenden Zeitungsschreiber und das Bedürfnis diese zu reizen mit – allerdings auch keine sehr vornehmen Motive.

Aber eines ist allerdings richtig an der Lehre von der Bescheidenheit bedeutender Menschen: bedeutende Menschen sind nie anmaßend. Anmaßung und Selbstbewußtsein sind wohl die zwei entgegengesetztesten Dinge, die es geben kann, und sollten nicht, wie es meistens geschieht, eins für das andere gesetzt werden. Ein Mensch hat immer so viel Arroganz, als ihm Selbstbewußtsein fehlt. Anmaßung ist sicherlich nur ein Mittel, durch künstliche Erniedrigung des Nebenmenschen das Selbstbewußtsein gewaltsam zu steigern, ja so erst zum Bewußtsein eines Selbst zu kommen. Natürlich gilt das von der unbewußten, sozusagen physiologischen Arroganz; zu beabsichtigter Grobheit verächtlichen Subjekten gegenüber mag wohl auch ein hochstehender Mensch der eigenen Würde halber hie und da sich verhalten müssen.

Die feste, vollkommene, des Beweises für ihre Person nicht eigentlich bedürftige Überzeugung, daß sie eine Seele besitzen, ist also allen genialen Menschen gemeinsam. Man sollte die lächerliche Besorgnis doch endlich ablegen, welche hinter jedem, der von der Seele als einer hyperempirischen Realität redet, gleich den werbenden Theologen wittert. Der Glaube an die Seele ist alles eher denn ein Aberglaube, und kein bloßes Verführungsmittel aller Geistlichkeit. Auch die Künstler sprechen von ihrer Seele, ohne Philosophie und Theologie studiert zu haben, selbst die atheistischesten, wie Shelley, und glauben zu wissen, was sie damit meinen. Oder denkt man, daß »Seele« für sie ein bloßes, leeres, schönes Wort sei, welches sie anderen nachsprechen, ohne zu fühlen? Daß der große Künstler Bezeichnungen anwende, ohne über ein Bezeichnetes, in diesem Falle von denkbar höchster Realität, sich klar zu sein? Der immanente Empirist, der Nur-Physiolog muß aber all das für nichtssagendes Geschwätz halten, oder Lucrez für den einzigen großen Dichter. So viel Mißbrauch sicherlich mit dem Worte getrieben wird: wenn bedeutende Künstler von ihrer Seele zeugen, so wissen sie wohl, was sie tun. Es gibt für sie wie für die großen Philosophen ein gewisses Grenzgefühl der höchsten Wirklichkeit; Hume hat dieses Gefühl sicherlich nicht gekannt.

Der Wissenschaftler nämlich steht, wie schon hervorgehoben wurde, und nun bald bewiesen werden soll, unter dem Philosophen und unter dem Künstler. Diese verdienen das Prädikat des Genies, der bloße Wissenschaftler niemals. Es heißt jedoch dem Genius vor der Wissenschaft noch einen weiteren, bisher noch immer unbegründeten Vorzug einräumen, wenn, wie dies hier geschehen ist, seiner Anschauung über ein bestimmtes Problem, bloß weil es seine Anschauung ist, mehr Gewicht beigelegt wird als der Ansicht des Wissenschaftlers. Besteht zu dieser Bevorzugung ein Recht? Kann der Genius Dinge erkunden, die dem Mann der Wissenschaft als solchem versagt sind, kann er in eine Tiefe blicken, welche jener vielleicht nicht einmal bemerkt?

Genialität schließt, wie sich zeigte, ihrer Idee nach Universalität ein. Für den ganz und gar genialen Menschen, der eine notwendige Fiktion ist, gäbe es gar nichts, wozu er nicht ein gleich lebendiges, unendlich inniges, schicksalsvolles Verhältnis hätte. Genialität war universale Apperzeption, und hiemit vollkommenes Gedächtnis, absolute Zeitlosigkeit. Man muß aber, um etwas apperzipieren zu können, ein ihm Verwandtes bereits in sich haben. Man bemerkt, versteht und ergreift nur das, womit man irgend eine Ähnlichkeit hat (S. 139 f.). Der Genius war zuletzt, aller Kompliziertheit wie zum Trotze, der Mensch mit dem intensivsten, lebendigsten, bewußtesten, kontinuierlichsten, einheitlichsten Ich. Das Ich jedoch ist das punktuelle Zentrum, die Einheit der Apperzeption, die »Synthesis« alles Mannigfaltigen.

Das Ich des Genies muß demnach selbst die universale Apperzeption sein, der Punkt schon den unendlichen Raum in sich schließen: der bedeutende Mensch hat die ganze Welt in sich, der Genius ist der lebendige Mikrokosmus. Er ist nicht eine sehr zusammengesetzte Mosaik, keine aus einer, doch immer endlichen, Vielzahl von Elementen aufgebaute chemische Verbindung, und nicht das war der Sinn der Darlegungen des vierten Kapitels über sein innigeres Verwandtsein mit mehr Menschen und Dingen: sondern er ist alles. Wie im Ich und durch das Ich alle psychischen Erscheinungen zusammenhängen, wie dieser Zusammenhang unmittelbar erlebt und ins Seelenleben nicht mühsam erst hineingetragen wird durch eine Wissenschaft (die bei allen äußeren Dingen freilich hiezu verhalten ist)34, wie hier das Ganze durchaus vor den Teilen besteht; so blickt der Genius, in dem das Ich wie das All, als das All lebt, auch in die Natur und ins Getriebe aller Wesen als ein Ganzes, er schaut hier die Verbindungen und konstruiert nicht einen Bau aus Bruchstücken. Darum kann ein bedeutender Mensch zunächst schon bloßer empirischer Psychologe nicht sein, für den es nur Einzelheiten gibt, die er im Schweiße seines Angesichtes, durch Associationen, Leitungsbahnen u. s. w. zu verkitten trachtet; ebensowenig aber bloßer Physiker, dem die Welt aus Atomen und Molekülen zusammengesetzt ist.

Aus der Idee des Ganzen heraus, in welcher der Genius fortwährend lebt, erkennt er den Sinn der Teile. Er wertet darum alles, alles in sich, alles außerhalb seiner, wertet es nach dieser Idee; und nur darum ist es für ihn nicht Funktion der Zeit, sondern repräsentiert ihm stets einen großen und ewigen Gedanken. So ist der geniale Mensch zugleich der tiefe Mensch, und nur er tief, nur der Tiefe genial. Darum gilt denn auch wirklich seine Meinung mehr als die der anderen. Weil er aus dem Ganzen seines das Universum enthaltenden Ich schafft, während die anderen Menschen nie ganz zum Bewußtsein dieses ihres wahren Selbst kommen, werden ihm die Dinge sinnvoll, bedeuten sie ihm alle etwas, sieht er in ihnen stets Symbole. Für ihn ist der Atem mehr als ein Gasaustausch durch die feinsten Wandungen der Blutkapillaren, das Blau des Himmels mehr als teilweise polarisiertes, an den Trübungen der Atmosphäre diffus reflektiertes Sonnenlicht, die Schlangen mehr als fußlose Reptilien ohne Schultergürtel und Extremitäten. Wenn man selbst alle wissenschaftlichen Entdeckungen, die je gemacht wurden, zusammentäte und von einem einzigen Menschen gefunden sein ließe; wenn alles, was Archimedes und Lagrange, Johannes Müller und Karl Ernst von Baer, Newton und Laplace, Konrad Sprengel und Cuvier, Thukydides und Niebuhr, Friedrich August Wolf und Franz Bopp, was noch so viele andere für die Wissenschaft Hervorragendstes geleistet haben, selbst wenn all dies ein einziger Mensch im Laufe eines kurzen Menschenlebens geleistet hätte, er verdiente darum doch nicht das Prädikat des Genius.

Denn damit ist noch nirgends in Tiefen gedrungen. Der Wissenschaftler nimmt die Erscheinungen wie sie sinnfällig sind, der bedeutende Mensch oder Genius für das, was sie bedeuten. Ihm sind Meer und Gebirge, Licht und Finsternis, Frühling und Herbst, Cypresse und Palme, Taube und Schwan Symbole, er ahnt nicht nur, er erkennt in ihnen ein Tieferes. Nicht auf Luftdruckverschiebungen geht der Walkürenritt, und nicht auf Oxydationsprozesse bezieht sich der Feuerzauber. Und dies alles ist jenem nur möglich, weil die äußere Welt in ihm reich und stark zusammenhängt wie die innere, ja das Außenleben nur wie ein Spezialfall seines Innenlebens sich ausnimmt, Welt und Ich in ihm eins geworden sind, und er nicht Stück für Stück der Erfahrung nach Gesetz und Regel erst aneinanderheften muß. Auch die größte Polyhistorie dagegen addiert nur Fächer zu Fächern und bildet noch keine Gesamtheit. Deshalb also tritt der große Wissenschaftler hinter den großen Künstler oder Philosophen.

Der Unendlichkeit des Weltalls entspricht beim Genius eine wahre Unendlichkeit in der eigenen Brust, er hält Chaos und Kosmos, alle Besonderheit und alle Totalität, alle Vielheit und alle Einheit in seinem Innern. Ist mit diesen Bestimmungen auch mehr über die Genialität als über das Wesen des genialen Schaffens ausgesagt, bleiben der Zustand der künstlerischen Ekstase, der philosophischen Konzeption, der religiösen Erleuchtung gleich rätselhaft wie zuvor, sind also damit gewiß nur die Bedingungen, nicht der Vorgang eines wahrhaft bedeutenden Produzierens klarer geworden, so sei dennoch hier als endgültige Definition des Genies diese gegeben:

Genial ist ein Mensch dann zu nennen, wenn er in bewußtem Zusammenhange mit dem Weltganzen lebt. Erst das Geniale ist somit das eigentlich Göttliche im Menschen.

Die große Idee von der Seele des Menschen als dem Mikrokosmus, die tiefste Schöpfung der Philosophen der Renaissance – wiewohl ihre ersten Spuren schon bei Plato und Aristoteles sich finden – scheint dem neueren Denken seit Leibnizens Tode ganz abhanden gekommen. Sie wurde hier bis jetzt als bloß für das Genie gültig, von jenen Meistern aber vom Menschen überhaupt als das eigentliche Wesen desselben behauptet.

28Ruft Schopenhauer, ruft Wagner.
29Vgl. über sich verstehende und sich nicht verstehende Menschen .
30Womit aber nicht gesagt ist, daß jedermann, der das Ich anerkennt, schon ein Genie sei.
31Wie damit zusammenhängt, daß hervorragende Menschen schon sehr früh (z. B. im Alter von vier Jahren) lieben können, wird später klar werden ( f.).
32Dieser Fall wird später noch einer Untersuchung bedürfen ( ff.).
33Wozu also der Darwinismus und die monistischen Systeme, in deren Zentrum der »Entwicklungsgedanke« steht, nicht gehören. Die Gattungs- und Begattungsherrlichkeit unserer Zeit konnte sich nicht deutlicher offenbaren als dadurch, daß man die Descendenzlehre mit dem Worte Weltanschauung in Verbindung brachte und dem Pessimismus entgegensetzte.
34Darum gibt es innerhalb des Einzelmenschen keinen Begriff des Zufalls, ja es kann der Gedanke an einen solchen gar nicht auftauchen. Daß ein erwärmter Stab durch die Zufuhr thermischer Energie sich ausdehnt und nicht infolge eines gleichzeitig am Himmel sichtbaren Kometen, nehme ich an vermöge langer Erfahrung und Induktion, aber auch nur auf Grund dieser; die richtige Beziehung ist hier nicht sofort in einem Erlebnis schon gelegen. Wenn ich dagegen über mein eigenes Betragen in einer bestimmten Gesellschaft mich ärgere, so weiß ich, gesetzt auch, es geschehe zum ersten Male, und es schöben sich noch so viel andere gleichzeitige psychische Ereignisse dazwischen, unmittelbar den Grund meiner Unzufriedenheit, und bin seiner sofort vollständig sicher, oder kann es wenigstens, wenn ich mich nicht darüber hinwegzutäuschen versuche, schon beim ersten Male werden.