Das Ministerium für Sprichwörter

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13. Kapitel

Pizarrini starrte Podesta so unablässig ins Gesicht, daß dieser glaubte, er höre ihm aufmerksam zu. Pizarrini jedoch sah und hörte ganz andere Dinge.

„Hieronymus Bitter“, stellte sich der kleine, rotbackige Mann, der Pizarrini eine unheimliche Ähnlichkeit mit Podesta zu haben schien, vor. Aber es war nicht nur die Ähnlichkeit mit Podesta, weshalb ihm Bitter so bekannt vorkam; er hätte schwören können, ihn schon früher einmal gesehen zu haben.

„Pizarrini“, stellte er sich nun seinerseits vor.

Sie verneigten sich kurz voreinander und stießen dabei mit ihren Köpfen zusammen.

Komischerweise spürte Pizarrini nicht das geringste dabei. Er hörte nur, wie es „klack“ machte und eine entferne Stimme irgendwo sagte: „Zuviel Fälschung“. Jeden anderen hätte dies vielleicht irritiert, Pizarrini nicht.

Er sah Bitter forschend an und sagte in dem knappen, gemessenen Ton, den er sich, seit er Oberbuchhalter bei der ISAG geworden war, zur Gewohnheit gemacht hatte: „Sie wünschen?“

„Sie werden mich wahrscheinlich nicht mehr kennen“, antwortete Bitter und sah ihn fragend an. Pizarrini schüttelte verneinend seinen Kopf.

„Es handelt sich“, fuhr Bitter fort, „um eine zwar einfache, aber doch längere Zeit in Anspruch nehmende Geschichte.“

„Wenn es sich um eine längere Sache handelt, wollen wir uns dann nicht lieber setzen?“

Pizarrini wies einladend auf zwei bequeme Grabsteine in der Nähe und streifte ihre Schneehauben herab. „Nach Ihnen“, sagte Bitter und wartete, bis sich Pizarrini niedergesetzt hatte, dann setzte er sich ebenfalls.

„Also, bitte, fangen Sie an“, forderte Pizarrini Bitter auf.

„Ich bin“, begann Bitter, „der Vorsitzende des Landesgremiums der Leichenbestatter und habe Ihnen über Auftrag des teuren Verstorbenen Aufklärung darüber zu geben, warum er es in Übereinstimmung mit alter Überlieferung ablehnte, zahlungssäumigen Leichenbestattern Verzugszinsen zu berechnen.“

Pizarrini errötete.

Hieronymus Bitter übersah das geflissentlich und fuhr fort: „Die ersten Leichenbestatter – mein Unternehmen gehört übrigens zu den ältesten und, wie ich in aller Bescheidenheit sagen darf, solidesten Leichenbestattungsunternehmen im ganzen Land – die ersten Leichenbestatter also versahen ihre verantwortungsvolle und mühsame Arbeit umsonst, ehrenamtlich und nicht hauptamtlich, wenn ich so sagen darf. Sie genossen dafür lediglich gewisse Privilegien und darunter auch dieses, daß ihnen keine Verzugszinsen berechnet werden durften. In einer der ältesten, leider nur mehr in Bruchstücken erhaltenen Friedhofsordnung unseres Landes, in der nach ihrem besterhaltenen Fragment benannten ‚De Sepulcris‘ können wir das heute noch nachlesen. Die Entstehungsgeschichte dieses speziellen Privilegiums der Befreiung von Verzugszinsen dürfte bis in vorgeschichtliche Zeiten zurückgehen und wird wohl nie genau erforscht werden.“

„Weiter, weiter“, drängte Pizarrini ungeduldig.

„Als im Laufe der Zeit im Zuge der Industrialisierung und Technisierung des Lebens die Begräbniskosten immer mehr stiegen, die Begräbnisse selbst immer mehr Zeit in Anspruch nahmen und differenzierter wurden, konnte der Modus der ehrenamtlichen Funktion der Leichenbestatter nicht mehr aufrechterhalten werden. Die ordentliche Erfüllung der übernommenen Pflichten erforderte nunmehr den ganzen Mann. Die Entwicklung vom unentgeltlich ausgeübten Ehrenamt zum auf wirtschaftlich-kommerzielle Basis gestellten Unternehmen war nicht mehr aufzuhalten. Erhalten aber hat sich aus jener glücklicheren Zeit unserer Ehrenamtlichkeit der schöne Brauch, zahlungssäumigen Leichenbestattern keine Verzugszinsen zu berechnen. Ein altehrwürdiger Brauch ist das, Herr Pizarrini, ein Brauch, dessen tiefer Symbolgehalt dartut, daß Versäumtes nicht immer durch Verzugszinsen wettgemacht werden kann, ein Brauch zugleich, der der p.t. Kundschaft immer wieder vor Augen führen soll, daß wir Leichenbestatter wohl mit kommerziellen Mitteln und Methoden arbeiten, arbeiten müssen, in Wirklichkeit jedoch höheren Zielen zustreben als der Erreichung eines in schnödem Mammon ausdrückbaren Gewinnes.“

Pizarrini hatte Hieronymus Bitter mit unbewegter Miene zugehört. Nun jedoch wollte er auffahren und diesem biederen Burschen, der viel von frommen Bräuchen und nichts von der ordnungserhaltenden Funktion der Verzugszinsen zu verstehen schien, einmal ordentlich seine Meinung über diesen und ähnliche, nichts als Verwirrung und Unordnung stiftende Bräuche sagen. Da geschah etwas, das ihn still sein hieß.

Die Getreuen des Männergesangsvereins stellten sich am offenen Grab auf und stimmten nun, nachdem sich die übrigen Trauergäste bereits zerstreut hatten, noch einmal das Lieblingslied ihres teuren, langjährigen, verstorbenen Vereinsmitgliedes an. Gerade in dem Augenblick, in dem Pizarrini sich anschickte, Hieronymus Bitter kurz und angemessen seine Meinung zu sagen, klang es vom offenen Grab des verunglückten Chefs herüber: „Der Jäger aus Kurpfalz, der reitet durch den grünen Wald …“

Erschüttert schwieg Pizarrini. Er schloß seine Augen und sah voll einer unheimlichen Wirklichkeit den jetzt dort unten ruhenden Chef an der Kasse sitzen, Geld kassieren und die frische Melodie des munteren Jagdliedes leise vor sich hin pfeifen.

Er konnte nicht sagen wie, aber plötzlich begriff er die Berechtigung jenes alten Brauches, den er eben noch in Grund und Boden verdammen wollte.

Hieronymus Bitter mußte irgendwie ahnen, was in Pizarrini vorging, denn er drückte nun teilnahmslos Pizarrinis Hand, steckte ihm gleichzeitig mit unendlicher Behutsamkeit und Diskretion ein Prospekt seines Unternehmens in die Manteltasche und ging leise weg.

Pizarrini sah ihm lange nach. Dann nahm er das Prospekt aus der Manteltasche und betrachtete es. „Hieronymus Bitter, Leichenbestattungsunternehmen und Sargtischlerei“ stand in schlichter Goldschrift auf einem schwarzen Umschlag. Pizarrini steckte das Prospekt wieder ein und verließ, während die Getreuen des Männergesangsvereines eben die vierte Strophe anstimmten, langsamen Schrittes den verschneiten Friedhof.

Podestas Erzählung
10

Die wenigen Tage bis zum Achtundzwanzigsten verbrachte Schmidbruch in einer sich ständig steigernden Unruhe. Je näher der Tag der Probevorführung rückte, um so mehr wuchs seine Ungeduld. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem bisherigen Leben einem Ereignis mit ähnlicher Erwartung entgegengefiebert zu haben. Er kannte sich selbst nicht mehr. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er sich bei einer größeren geschäftlichen Aktion seiner selbst nicht mehr sicher war. Freilich, seine Umgebung merkte nichts von seiner Unruhe und Unsicherheit. Er hatte es seit jeher verstanden, sich so zu beherrschen, daß kein Mensch merken konnte, was in ihm vorging. Auch seine bekannten Zornesausbrüche schienen nur einer unbeherrschten Natur zu entspringen, in Wirklichkeit waren sie wohlberechnet und genauestens dosiert. Es kam öfters vor, daß er jetzt mitten in der Nacht aufwachte, weil er geträumt hatte, mit der Probevorführung habe irgend etwas nicht gestimmt. Oder aber er fiel in das andere Extrem und stellte wilde Spekulationen darüber an, wie er nach gelungener Probevorführung mit Hilfe der Freßrobots das Publikum zu ungeahnten Konsumationen animieren werde.

Er träumte davon, als Retter der ISAG zu ihrem Ehrenpräsidenten ernannt zu werden. Die Hotellerie der ganzen Welt wird seinen Einfall preisen und anwenden, der Staatsminister in Ansehung seiner Verdienste ihn für den höchsten Orden des Landes vorschlagen. Dann bekam er es wieder jäh mit der Angst zu tun, weil er sich mit Podesta eingelassen hatte. Der Mensch wird mich hoffnungslos kompromittieren, dachte er, wie konnte ich so einem Menschen nur Vertrauen schenken, wäre ich doch wenigstens anonym geblieben.

Er saß in seinem Büro und dachte darüber nach, was er am besten unternehmen könne, um seiner Unruhe Herr zu werden.

Ich muß etwas tun, dachte er sich, um nicht mehr an diesen verfluchten Achtundzwanzigsten denken zu müssen.

Da erinnerte er sich des Yoga-Unterrichtes, den er im ersten Jahr seiner Präsidentschaft auf Anraten seines Gönners von Stechenkamp genommen hatte. Er stand auf, ging an die hell getönte Wand seines Büros und machte einen Kopfstand. Es tat ihm unsagbar wohl. Als er jedoch wieder an seinem Schreibtisch saß und gedankenverloren auf die Wand hinblickte, an der er eben einen Kopfstand gemacht hatte, bemerkte er voll Schrecken, daß er während dieses Kopfstandes mit seinen Füßen unbewußt groß und ungefüge „28“ auf die Wand gezeichnet hatte.

Er schlug beide Hände vor sein Gesicht und floh, von ungläubigem Entsetzen gepeinigt, aus seinem Büro. Er wollte in die Stadt fahren und irgend etwas trinken. Aber er traute sich dann nicht in seinem Zustand, in ein Auto zu steigen, und ging zu Fuß. Die Stadt stand damals gerade vor den Bürgermeisterwahlen. Von den Plakatwänden schrien die Plakate der wahlwerbenden Parteien.

Schmidbruch entsann sich, daß ihm vor Jahren von einer politischen Partei der Vorschlag gemacht wurde, ein Parlamentsmandat zu übernehmen. Er hatte damals abgelehnt. Keine Zeit für Politik, hatte er sich damals gesagt. Ob er das heute noch tun würde? Plötzlich schien es ihm zweifelhaft, daß er damals das Richtige getan hatte. Schließlich hieß er nicht Huber und war nicht irgendwer, sondern hieß Ernst Schmidbruch und war Präsident der ISAG. Präsident der ISAG, da muß einer schon etwas leisten, daß er es so weit bringt in seinem Leben. Noch dazu, wenn er wie Schmidbruch ganz von unten angefangen hat. Ich hätte es auch als Politiker zu etwas gebracht, sagte er sich, und, wer weiß, vielleicht wäre das Volk mit mir besser gefahren als mit all den anderen, die im Grunde genommen nur meinen Platz einnehmen.

 

Wenn die Sache mit den Freßrobots nur halb so gelingt, dachte er weiter, wie ich es mir vorstelle, schmeiße ich die Brüder hinaus. Voll Mißmut erinnerte er sich an einige Aufsichtsräte, die ihm in letzter Zeit hart zugesetzt hatten.

Wenn die einmal etwas weniger bekommen, wollen sie einen am liebsten gleich umbringen. Pah, er würde es ihnen zeigen. Er war sechzig vorüber, aber für einen Mann wie ihn war das kein Alter. Hatte er nicht eben erst vor wenigen Minuten noch einen Kopfstand gemacht? Das sollte ihm doch einer von diesen Fettnäpfen nachmachen.

„Kujonieren lasse ich mich nicht“, brummte er vor sich hin, „ich werfe ihnen alles hin, dann sollen sie sehen, wie sie weiterkommen.“

Wozu, plötzlich überfiel ihn wieder das alte Mißtrauen gegen Podesta, wozu, dachte er, lasse ich mich denn überhaupt mit so einem Menschen ein? Habe ich das notwendig? Ach was, andere Gedanken, andere Gedanken, signalisierte er sich, andere Gedanken. Er faßte einen jähen Entschluß, packte einen Vorübergehenden bei der Schulter und hielt ihn fest.

Der Festgehaltene, ein junger Mann von vielleicht vier-oder fünfundzwanzig Jahren, wollte aufbegehren. Aber bevor er noch ein Wort sagen konnte, fragte ihn schon Schmidbruch mit der Zudringlichkeit eines hartgesottenen Reporters: „Wie werden Sie wählen?“

Jetzt erst sah der Befragte Schmidbruch genauer an.

„Herr Präsident“, sagte er bestürzt und blickte Schmidbruch entgeistert an.

„Woher kennen Sie mich?“

„Ich bin Subportier im Präsidium, Herr Präsident.“

„Was machen Sie dann hier?“

„Ich habe heute dienstfrei, Herr Präsident.“

Schmidbruch ließ ihn los und nickte ihm freundlich zu. Der junge Mann entfernte sich mit großer Hast. Schmidbruch ging weiter. „Gemeindepolitik“ las er auf einem der Plakate, „Gemeindepolitik ist Arbeit“. Auf einem anderen Plakat stand: „Wählt nicht Parteien, wählt Persönlichkeiten“.

Ausgezeichnet, dachte Schmidbruch, Persönlichkeiten, das ist es, was uns heutzutage fehlt. Aus dem Aquarium in der Auslage eines Delikatessengeschäftes glotzte ihn ein Karpfen an.

„In der Politik fehlt“, murmelte er vor sich hin und starrte in die Auslage.

Neben dem Aquarium lagen gerupfte Hähnchen, tiefgefroren und kunstvoll aufeinandergeschichtet. Eine Verkäuferin im weißen Mantel und eine dicke Frau mit einer großen Einkaufstasche traten von hinten an die Auslage. Die Frau zeigte mit dicken Wurstfingern auf eine der in dem Aquarium ruhelos hin und her schwimmenden Forellen. Die Verkäuferin fischte die Forelle mit einem kleinen Netz heraus, wickelte sie in ein weißes Tuch und trug sie nach hinten. Die Frau folgte ihr gemächlich nach.

Schmidbruch drehte sich angewidert um und ging weiter. Bald darauf kam er an einer kleinen Kneipe vorbei, die noch von der Art war, wie sie in seiner Jugend sehr modern gewesen war und die man jetzt fast nirgends mehr sah.

„Mal hineinschauen“, sagte er sich, zögerte dann aber und schämte sich dann beinahe, als er schließlich doch eintrat. Ihm war zumute, als mache er etwas Unerlaubtes, etwas für einen Präsidenten ganz und gar Ungehöriges. Er setzte sich an einen der kleinen, runden Marmortische und verlangte einen Magenbitter. Er blickte sich um. Außer ihm waren noch drei Männer hier, die an einem weiter entfernten Tisch saßen, und ein junger Bursche, der an der Bar stand, in einer Illustrierten blätterte und gleichzeitig unaufhörlich auf die Kellnerin einredete.

Die schätzungsweise vierzigjährige Frau, die bediente, war mittelgroß, schlank, hatte schwarzes Haar, ein hageres, grobknochiges Gesicht und einen trippelnden Gang, den Schmidbruch als nervenaufreibend empfand. Offenbar hieß sie Philomena, denn so wurde sie jetzt von einem der drei Männer gerufen. Schmidbruch hatte den Eindruck, als hätte sich in dem Lokal während der letzen dreißig, vierzig Jahre überhaupt nichts geändert. Er nippte an dem Magenbitter, kostete, nickte befriedigt, stürzte das ganze Glas hinunter und bestellte bei Philomena einen neuen. Dieser Vorgang wiederholte sich noch einige Male. Die drei Männer an dem Tisch in der anderen Ecke sprachen allem Anschein nach von den bevorstehenden Gemeindewahlen. Manchmal erregte sich der eine oder andere von ihnen und sprach lauter, so daß Schmidbruch dann und wann Brocken ihres Gespräches verstehen konnte. Dieser Umstand verlieh ihrem Gespräch das Gepräge eines gespenstischen, litaneienhaften Gebrabbels, aus dessen dumpfer Unverständlichkeit da und dort ein paar Brocken wortverständlichen Unsinns herausragten. Aber auch der Junge an der Bar, der unaufhörlich auf die Kellnerin einredete, und diese selbst – hinter der Bar stehend und Gläser wischend und immer wieder dem Jungen zunickend, als wolle sie damit verhindern, daß er zu reden aufhöre – machten auf Schmidbruch einen seltsam unwirklichschemenhaften Eindruck.

Die grauweißen Platten der Marmortische leuchteten wie phosphoreszierende Schimmelflecken durch das muffige Zwielicht des schäbigen Lokals und übten eine merkwürdig beruhigende Kraft auf ihn aus, die ihn weit von allem distanzierte, was ihn vor wenigen Minuten noch so heftig beunruhigt hatte. „Jawohl, so und nicht anders“, schrie einer der drei, und fast im selben Augenblick ließ ein anderer mit lautem Getöse einen fahren. Die drei brachen in wieherndes Gelächter aus. Sie brüllten vor Lachen, daß sie rote Köpfe bekamen.

„Schweine“, sagte die Kellnerin ganz laut zu sich selbst. Der Junge, unberührt von allem, redete unaufhörlich weiter.

„So und nicht anders“, mit unter Lachen erstickender Stimme ließ wieder einer einen fahren. Ihr brüllendes Lachen ging in ein an- und abschwellendes Wimmern über, das sie vollends zu übermannen drohte.

Als Schmidbruch dann auf die Straße trat, war er überrascht, daß draußen Tag war und der Verkehr an der unscheinbaren Tür der Kneipe vorbeiflutete, als wäre hinter dieser Tür nichts.

Schmidbruch wußte es besser. Da waren drei Männer hinter dieser Tür, die über einen Furz lachten, eine Kellnerin, die sich darüber ärgerte, ein junger Mann, den irgend etwas so bewegte, daß er unaufhörlich redete. Schmidbruch winkte einem Taxi und fuhr ins Präsidium zurück. Er war jetzt ganz ruhig geworden und hatte sich entschlossen, das Projekt auch dann weiterzuverfolgen und durchzuführen, wenn die erste Probevorführung mißlingen sollte.

14. Kapitel

Schmidbruch begann die Erzählung Podestas langweilig zu werden. Ein kurzer, prüfender Blick auf den Podesta unentwegt ins Gesicht starrenden Pizarrini überzeugte ihn von dessen für den Rest dieser Nacht sichergestellten Ungefährlichkeit. Beruhigt wandte er sich ab und hielt nach anderen Gelegenheiten Ausschau.

Am Nebentisch saßen zwei ältere Damen. Sie blätterten geräuschvoll in Illustrierten, lutschten Bonbons, die sie einem gelben Porzellanschüsselchen auf ihrem Tisch entnahmen, tranken Schokolade. Eine rauchte mit einem langen, schwarzgoldenen Spitz eine Zigarette, die andere hob ab und zu ein silbernes Lorgnon vor ihre Augen und betrachtete damit verschiedene Bilder in der Illustrierten besonders eindringlich. Dann und wann zeigten sie einander Bilder aus den Illustrierten und wechselten ein paar Worte dabei.

„Ach, sehen Sie doch, Frau Oberoffizial, ist das nicht wahnsinnig blödsinnig?“

„Ich weiß nicht, meine Beste, ich finde es eigentlich irrsinnig aufregend.“

„Ich finde, das ist einmal wirklich ein guter Schnappschuß.“

„Ständig diese nackten Weiber, das gehörte eigentlich verboten.“

„Frau Oberoffizial, ich meine doch das Bild von der Hinrichtung. Sie glauben doch nicht, daß ich diesem Fleischberg etwas abgewinnen könnte.“

„Ach so, das meinten Sie, lassen Sie mich doch nochmals sehen, tatsächlich, wahnsinnig komisch, wie der seine Hände vorstreckt, ach, sehen Sie nur, was für dreckige Hosen der daneben anhat, fürchterlich!“

„Die Leute haben doch keine Kultur, die kennen doch keine Seife.“ Schmidbruch beobachtete die beiden eine Weile und entschloß sich dann, ohne lange Umschweife direkt auf sein Ziel loszusteuern. Er stand auf und ging an ihren Tisch.

„Herr Präsident Schmidbruch“, stellte er sich mit tiefer Verbeugung vor.

Er hatte richtig kalkuliert. Mit freudigem Befremden reichten ihm beide Damen ihre Hände. Schmidbruch drückte auf jedwede einen warmen Kuß und warf ihren Besitzerinnen heiße Blicke zu. Dann setzte er sich nieder und rief den Kellner.

Podesta, dem ob solcher Verwegenheit beinahe die Sprache ausblieb, beobachtete, wie Schmidbruch bei dem diensteifrigst herbeigeeilten Kellner eine kostspielige Bestellung machte. Die beiden Damen protestierten zaghaft. Dieses hochstaplerische Benehmen Schmidbruchs ärgerte Podesta ungemein.

„Ich kann den Jungen einwickeln, und er frißt und säuft und macht sogar noch Weiberbekanntschaften auf meine“, er blickte zu Pizarrini hinüber und verbesserte sich, „auf seine Kosten.“

Ich werde mich, dachte er weiter, von dem feinen Herrn und den beiden Schachteln da drüben nicht lumpen lassen. Was die können, kann ich schon lange. Er rief nun ebenfalls den Kellner, und während er Kaviarbrötchen und eine Flasche Sekt bestellte, blickte er triumphierend zu Schmidbruch hinüber. Schmidbruch deutete auf Pizarrini. Podesta verstand sofort. Besorgt fragte er Pizarrini, ob er denn nicht auch noch etwas essen wolle.

Pizarrini schüttelte ganz leicht seinen Kopf und sagte so leise „Danke“, daß Podesta es kaum hörte.

„Danke“, sagte Pizarrini zu dem Chauffeur, der, als Pizarrini aus dem Friedhof herauskam, schnell aus der von Schmidbruch zur Verfügung gestellten Sechzehn-Zylinder-Luxuslimousine gesprungen war und mit einladender Geste zu Pizarrini hin den Wagenschlag geöffnet hatte, „danke, ich werde zu Fuß gehen.“

Vor Pizarrini ging eine tief verschleierte junge Frau.

Eine innere Stimme sagte ihm, daß er sie kannte. Ein mächtiges, unbestimmtes Gefühl zog ihn in ihre Nähe. Er beschleunigte seine Schritte, um sie einzuholen. Je näher er ihr kam, um so mehr wurden seine Augen von ihren ihm sehr gefälligen hinteren Proportionen gefesselt. Er schalt sich darob einen ehrfurchtslosen Wüstling. Und plötzlich, er wußte nicht, wie ihm geschehen, war er schon in tiefem Gespräch mit ihr befangen.

„Gnädigste kannten den Verstorbenen?“

„Ob ich ihn gekannt habe, er war mein treuester Freund.“

„Erzählen Sie! Ich war, Sie müssen wissen, bevor ich Oberbuchhalter der ISAG und Präsident Schmidbruchs rechte Hand wurde, Buchhalter in seinem Geschäft und habe ein menschliches Interesse an seiner Freundin.“

„Ach, wissen Sie“, sagte sie mit einer seltsam unpersönlichen Stimme, die so unpersönlich klang, daß sie daraus schon wieder einen ganz spezifischen, persönlichen Reiz gewann, „in meinem Beruf macht man mit Männern fast nur schlechte Erfahrungen. Aber er! Er war die große Ausnahme. Er war ein Mann mit Bildung, mit Herzensbildung und Herzenstakt. Er hat mich außerhalb des Etablissements kennengelernt und hat mich auch nie darin besucht. Er wußte, wer ich bin. Ich habe es ihm nie verheimlicht.“

Sie schlug ihren schwarzen Schleier zurück: Es war Tonschi.

„Er hat mich deshalb nie verachtet“, fuhr sie fort, „ich weiß es bestimmt, er hat mich nie – auch nur eine Sekunde lang – verachtet. Bemitleidet – mag sein –, aber verachtet hat er mich nie; das weiß ich. Obwohl er mich seit damals, als ich es ihm sagte, gemieden und nie mehr gesehen hat.“

Sie hielt inne, blieb stehen, drehte sich um und warf einen Blick auf den Friedhof zurück und sagte mehr zu sich selbst als zu Pizarrini, leise, mit einer Stimme, die keine Antwort zuzulassen schien: „Er war halt ein sehr bürgerlicher Mensch. Sie haben ja sein Begräbnis gesehen. Ein schwacher – vielleicht, wahrscheinlich sogar –, aber ein guter Mensch, ein wahrer Freund! Der einzige, den ich je besessen habe.“ Pizarrini schwieg. Endlich sagte er: „Das alles tut mir sehr leid für Sie, Fräulein Tonschi, aber glauben Sie mir, auch ich habe Sie nie verachtet.“

„Ich weiß, aber bei Ihnen hat das andere Gründe. Sie verachten mich nicht, weil Sie meinen Beruf nicht verachten, und meinen Beruf verachten Sie nicht, weil er sich ordnen läßt. Er aber, er hat mich nicht verachtet, obwohl er meinen Beruf und alles, was damit zu tun hat, verabscheute. Er hat mich nicht verachtet, weil er das in mir achtete, was sich nicht ordnen läßt, was immer von neuem aufbricht und immer wieder an altem stirbt. Und überhaupt, Sie sind ein ganz anderer Mensch als er. Daß Sie so viel jünger sind, wäre noch das wenigste. Sie sind Oberbuchhalter der ISAG und die rechte Hand des Präsidenten Schmidbruch. Sie sind ein ganz anderer Mensch.“

 

„Fräulein Tonschi, glauben Sie mir, ich würde …“

„Ach, es hat keinen Sinn“, unterbrach sie ihn, „unsere Begegnung war von Anfang an verkehrt, sonst, wer weiß, vielleicht … adieu, Herr Pizarrini, adieu!“

Sie stieg in eine gerade vorüberkommende Straßenbahn und fuhr davon.

„Tonschi!“ rief er und wollte ihr nachspringen.

Da kam aus einer Nebengasse plötzlich mit großem Tempo der Mordial 22 herausgebraust, und Pizarrini konnte sich gerade noch auf das Trottoir zurückretten.

Die wilden Kinder winkten ihm mit bunten Fähnchen zu und schrien: „Wieder keine, wieder keine.“

Er blickte der immer kleiner werdenden Straßenbahn nach, in welcher auf der hinteren Plattform die schwarz verschleierte Tonschi stand und ihm mit einem weißen Taschentuch zuwinkte, bis nichts mehr zu sehen war.

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