Das Ministerium für Sprichwörter

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5. Kapitel

Autofahren, das war das Stichwort für Pizarrini. Autofahren, des Präsidenten Leidenschaft! Welch ein Zufall! War es nicht auch seine? Er konnte sich ihr zwar nur in sehr beschränktem Maß widmen, da er ja kein eigenes Auto besaß. Aber davon reden, das konnte, das mußte er, sobald davon nur irgendwie die Rede ging. Er unterbrach Podesta und fragte Schmidbruch: „Was für einen Wagen fahren Herr Präsident derzeit am liebsten?“

Der hob seinen noch immer über die Speisekarte gebeugten Kopf, nickte ihm freundlich zu und rief nach dem Kellner. Der Kellner eilte herbei.

„Tja“, sagte Schmidbruch, „ich bin in letzter Zeit immer einen Mordial 22 gefahren.“

Der Kellner hatte es gerade noch gehört.

„Was darf es sein?“ fragte er in beflissenem Ton.

„Eh, etwas Einfaches, ist das Brathuhn gut?“

„Hervorragend.“

„Bringen Sie mir ein halbes!“

„Die Herren wollen auch etwas?“

„Ja“, sagte Podesta, „ja, Sie können mir auch ein halbes Huhn bringen.“

„Mir das gleiche“, sagte Pizarrini ungeduldig und wandte sich wieder zu Schmidbruch: „Ein Mordial 22? Ein phantastischer Wagen, nicht wahr?“

„Herr Ober!“ rief Schmidbruch dem enteilenden Kellner nach, der darauf mit einer geradezu tänzerisch anmutenden Kehrtwendung zurückkam.

„Mein Herr?“

„Eh, bringen Sie uns noch eine Flasche Weißwein. Haben Sie eine Getränkekarte?“

Der Kellner reichte Schmidbruch die aus einem einzigen, abgegriffenen Blatt Papier bestehende Getränkekarte mit einer Geste, als übergebe er einen kostbaren, in Schweinsleder gebundenen Folianten. Schmidbruch überflog das Papier kurz, dann sagte er: „Gumpoldskirchner Spätlese.“

„Herr Präsident fahren sicher das Sportcoupé“, fing Pizarrini wieder an.

„Wissen Sie, junger Freund“, antwortete Schmidbruch, ohne auf Pizarrinis letzte Frage näher einzugehen, „der Mordial hat einen Fehler. Er ist zu langsam.“

„Zu langsam?“ Pizarrini starrte Schmidbruch entgeistert an.

„Aber“, stotterte er, „der Mordial ist doch der schnellste Wagen, den es derzeit auf dem Markt gibt.“

Schmidbruch wäre ob dieses Einwandes beinahe in Verlegenheit geraten, doch er wußte sich zu helfen. Mit einem einfachen „Entschuldigen Sie mich einen Moment, bitte“ entzog er sich dem lästigen Gespräch, stand auf und ging hinaus.

Pizarrini blickte ihm kopfschüttelnd nach: „Zu langsam? Der Mordial 22?“

„Spielen Sie auch Billard?“ lenkte ihn Podesta ab.

„Nein“, sagte Pizarrini und blickte zu den Billardspielern hinüber. Da vertauschte Podesta schnell sein noch beinahe volles Schnapsglas mit dem leeren Pizarrinis.

„Sie haben Ihren Kontiuszowska noch nicht ausgetrunken.“

„Tatsächlich“, murmelte Pizarrini und trank ihn aus.

„Schmeckt er?“

„Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Wo bleibt denn der Herr Präsident so lange?“

„Um den brauchen Sie sich keine Angst zu machen.“

„Angst nicht, doch wer weiß, ich weiß nicht, vielleicht doch, ich weiß nicht, ich weiß nicht …“

„Hören Sie, ich werde Ihnen jetzt weitererzählen, vorausgesetzt natürlich, vorausgesetzt, es interessiert Sie.“

„Warum nicht?“ lallte Pizarrini mit schwerer Zunge, „warum nicht, schließlich bin ich Buchhalter.“

Podesta senkte seine Stimme und begann von neuem.

Podestas Erzählung
2

Schmidbruch hatte alle Feiern anläßlich seines Geburtstages verboten. Er hatte andere Sorgen. Die Umsätze gingen seit geraumer Zeit konstant zurück. Aber niemand wußte, warum. Schmidbruch saß in seinem Büro, ließ sich berichten und dachte nach. Er saß vor einem mächtigen, mit rotem Leder überzogenen Schreibtisch und starrte vor sich hin. Endlich blickte er auf und sah die zwei Herren, die ihm gegenübersaßen, bedeutungsvoll an. Die beiden Herren waren der Direktor der Inspektionsabteilung Dollmer und Sibers, der Direktor der Buchhaltungsabteilung.

„Zusammenhänge, es muß doch Zusammenhänge geben“, eröffnete Schmidbruch das Gespräch.

Die beiden schwiegen betreten. Dann sagte Dollmer, ein schätzungsweise vierzigjähriger Mann mit einem kraftvollen Bulldoggengesicht: „Sicher.“

Und Sibers seufzte: „Aber wo?“

Schmidbruch fuhr sie zornig an: „Ist das alles, was Sie wissen?“

Dollmer räusperte sich und setzte zu einer längeren Rede an: „Rein zahlenmäßig gesehen, ergibt sich die …“

Sibers, bedeutend älter, weißhaarig, goldumrandete Augengläser auf einer langen, schmalen Nase, unterbrach ihn: „Wir haben lediglich Vermutungen.“

„Rein zahlenmäßig ergibt sich was?“ fragte Schmidbruch.

„Tja“, sagte Dollmer langsam und schüttelte sein massiges Haupt mit rührender Hilflosigkeit. „Tja, das ist es eben, rein zahlenmäßig ergibt sich nämlich gar nichts.“

„Die Umsätze sind zurückgegangen, aber die Proportionen der diversen Posten innerhalb der letzten Jahresbilanzen sind nahezu gleich“, versicherte Sibers mit Nachdruck. Und der Bulldogge setzte bekümmert hinzu: „Geringfügige Abweichungen ohne jede tiefere Bedeutung.“

„Was schließen Sie daraus?“ fragte Schmidbruch. Sibers blickte Dollmer kurz an, als wollte er sich dessen Hilfe versichern, und stieß dann hervor: „Wir sind beide zum selben Ergebnis gekommen: außerbetriebliche Ursachen.“

„Ach was“, Schmidbruch sprang zornig auf, nahm sich aus einer in die Wand eingelassenen Hausbar eine Flasche Schnaps, schenkte sich ein Glas ein, kippte es hinunter und setzte sich dann wieder an seinen Schreibtisch.

Er lehnte sich weit in sein breites Lederfauteuil zurück und fuhr etwas beruhigter fort: „Außerbetriebliche Ursachen, immer höre ich dasselbe. Meine Herren, die Annahme außerbetrieblicher Ursachen zur Erklärung des Rückganges unserer letzten Jahresumsätze ist nichts anderes als eine Umschreibung des Eingeständnisses, keine innerbetrieblichen gefunden zu haben.“

Sibers und Dollmer hielten ihre Köpfe gesenkt wie beim Schwindeln ertappte Schuljungen. Sibers nahm die Mappe, die bei ihm auf dem Schreibtisch lag, blätterte sie durch und reichte sie dann Schmidbruch hin, dabei sagte er langsam und jedes Wort betonend: „Wir haben keine innerbetrieblich bedingten Ursachen gefunden, weil es offenbar“, er wiegte die Mappe bedeutungsvoll auf und ab, „keine gibt. Überzeugen Sie sich, bitte, selbst.“

Schmidbruch nahm ihm mit einem knappen, unangenehm scharfen „das werde ich, und zwar sogleich“ die Mappe ab und begann ihren Inhalt zu sichten. Schließlich nahm er drei zusammengeheftete, engbeschriftete Bogen heraus und begann dieselben aufmerksam durchzulesen. Aber er hielt es nicht lange aus, er schob die Mappe schroff weg und sagte mit grollendem Unterton: „Trotzdem sage ich Ihnen, daß die Annahme außerbetrieblicher Schwierigkeiten ein fauler Selbstbetrug ist.“

„Aber, Herr Präsident“, sagte Sibers, der bei den letzten Worten Schmidbruchs einen roten Kopf bekommen hatte, „Sie werden doch zugeben müssen, daß es so etwas wie außerbetriebliche Schwierigkeiten gibt.“

„Muß ich das zugeben? Gut, gebe ich Ihnen zu, und Sie werden mir dafür zugeben, daß man außerbetriebliche Schwierigkeiten durch innerbetriebliche Maßnahmen beseitigen kann. Wir hängen nicht von Ihren vielbemühten außerbetrieblichen Fakten ab, meine Herren, das können wir uns nicht leisten.“

Darauf Dollmer sachlich, trocken und mit großem Ernst: „Ich kann Ihnen nicht voll zustimmen, Herr Präsident, das Verhältnis eines Unternehmens zu den außerhalb des Betriebes liegenden Faktoren ist keineswegs so einseitig, als daß man es allein durch innerbetriebliche Maßnahmen meistern könnte.“

„Nicht so einseitig!“ schrie Schmidbruch und stellte seine tausend Falten auf. „Nicht so einseitig, gleich werden Sie behaupten, daß es dialektisch ist! Diese Tour kenne ich! Wissen Sie, wie man so etwas bei seinem wahren Namen nennt, meine Herren?“ Er machte eine Pause. Die beiden schauten ihn erschrocken an. Einen derartigen Ausbruch hatten sie sich nicht erwartet. Da brüllte er von neuem los: „Kommunismus!“ Seine Stimme überschlug sich: „Kommunismus in Reinkultur.“ Er brach jäh ab, maß sie mit kaltem Blick und sagte mit eisiger Stimme: „Sie können gehen.“

6. Kapitel

Podesta hatte, als er ein Nachlassen der Aufmerksamkeit Pizarrinis zu bemerken glaubte, sich kurz entschlossen, einen schon mehrmals erprobten Kunstgriff anzuwenden, und war dem darauf völlig unvorbereiteten Pizarrini mit dem Kommunisten-Geschütz in die Parade seiner beginnenden Unaufmerksamkeit gefahren. Die Wirkung war wie erwünscht. Pizarrini war sofort wieder bei der Sache. Er blickte Podesta verdutzt an und sagte bloß: „Kommunisten? Das verstehe ich nicht.“

Podesta hätte zufrieden sein können. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, Pizarrini von diesem Thema, nachdem es seinen Zweck erfüllt hatte, wieder abzulenken, wäre nicht gerade Schmidbruch wieder zurückgekommen und hätte nicht Pizarrini aller Trunkenheit zum Trotz mit beharrlicher Zähigkeit daran festgehalten, mit dem Präsidenten selbst ins Gespräch zu kommen. Was ihm dessen Mitarbeiter, dieser Ingenieur Podesta, da alles erzählte, erachtete er zwar für ungeheuer wichtig und informativ, aber die dabei aufgeworfenen Probleme wollte er doch lieber mit dem Präsidenten selbst besprechen.

Haha, so dumm war Pizarrini nicht und so betrunken auch nicht, als daß er sich nicht längst seinen Reim auf die ganze Sache gemacht hätte. Für ihn stand fest: Aus der Unterhaltung mit Präsident Schmidbruch konnte die große Chance seines Lebens erwachsen.

Gut, er hatte nun schon einige Schnäpse getrunken und war nicht mehr ganz richtig, hatte vielleicht einen Rausch, aber er wäre nicht Pizarrini, der bleiche, fette, junge Buchhalter gewesen, hätte er sich nicht zugleich mit diesem Selbstgeständnis gesagt, daß auch ein Rausch gebucht und in Ordnung gehalten werden kann.

 

Podesta hielt Schmidbruch bisweilen für einen vertrottelten Präsidenten, und daß er gerade jetzt daherkam, für einen weiteren Beweis dafür. Er warf ihm einen wütenden Blick zu.

Schmidbruch, der seinen Mitarbeiter hingegen wiederum in Verdacht hatte, daß er bisweilen Geschäfte auf eigene Rechnung machte, nahm diesen Blick als sicheres Zeichen dafür, daß er gerade im richtigen Augenblick gekommen war, solches zu verhindern, und setzte sich mit zufriedenem Lächeln nieder.

Wer jedoch beschreibt seine Überraschung, als sich Pizarrini ihm zuwandte und ihn mit dem gesammelten Ernst seines in Ordnung gehaltenen Rausches fragte: „Herr Präsident, was halten Sie vom Kommunismus?“

Jede Frage hätte er sich erwartet, nur diese nicht. Aber Schmidbruch konnte sich beherrschen. Von den tausend Falten seines Gesichtes bewegte sich keine, auch nicht die kleinste. Er blickte Pizarrini tief in die Augen und sagte voll würdiger Altersweisheit: „Junger Mann, auch unter den Kommunisten gibt es solche und solche.“

Pizarrini nickte ihm zu und wartete offenbar auf weiteres. Schmidbruch sah ihn forschend an. Die Sache begann schwierig zu werden. Ja, wenn er Pizarrinis Gesinnung besser gekannt hätte, wäre es die einfachste Sache der Welt gewesen, aber so? Er wußte nicht, sollte er schimpfen oder loben, verdammen oder in den Himmel heben. Da trat ihm Podesta auf den Fuß und bedeutete ihm zu schweigen.

Schmidbruch jedoch glaubte, Podesta wollte ihm bedeuten, daß Pizarrini ein Kommunist sei, und schickte sich schon an, ein Loblied auf den Kommunismus anzustimmen, als ihm blitzschnell der Gedanke durch den Kopf schoß, daß er als Präsident einer AG sich nicht als fanatischer Kommunist gebärden könne, ohne damit Argwohn zu erwecken; andererseits war ihm natürlich daran gelegen, Pizarrini nicht zu verstimmen. So war die Situation. Und da er sie klar erkannt zu haben glaubte, bereitete es ihm keinerlei Schwierigkeiten mehr, ihr zu begegnen. Schwierig ist bei derlei Schwindeleien immer nur die grundsätzliche Frage der richtigen Grenzen, innerhalb derer man sich bewegen darf, das Einerseits und Andererseits, das man zu beachten hat. Hat man das erkannt, hat man die Grenzen richtig abgesteckt, ist alles andere nur noch Spiel und Routine, eine Sache, die Schmidbruch sozusagen mit der linken Hand zu erledigen gedachte.

„Solche und solche“ wiederholte er bedächtig, und dann fuhr er zögernd und nur langsam schneller werdend fort, „wissen Sie, junger Mann, ich habe mich ja nie viel um Politik gekümmert, ich habe immer nur meinen Beruf geliebt. Ja, wenn ich heute so zurückdenke, dann glaube ich sagen zu können, über meinem Leben könnte sozusagen als Motto stehen: Ein Leben für den Beruf. Aber der Mensch kann nicht nur für seinen Beruf leben. Das ist klar, das ist nun einmal so. Der Mensch braucht einen Ausgleich. Er braucht sozusagen etwas Höheres, einen Speicher seelischer Kraftreserven, der ihn, wenn ihn das Alltagsleben zu zermürben droht, mit frischen Kräften speist. Und so, wie ich mir heute im Alter diesen Ausgleich schaffe, indem ich am Steuer meines Mordial 22, dieses prachtvollen, unerhört schnellen Wagens, harte Bewährung suche und leiste, so huldigte ich auch schon in meiner Jugend der Forderung Nietzsches: Lebe gefährlich! Ich war und bin ein begeisterter Turner. Ah, Sie hätten mich damals in meiner besten Zeit sehen sollen. Wenn ich etwa nach der Kür auf den Ringen mit zweifachem Salto mortale auf das Hochreck wechselte, um mich dort mit einer dreifachen Riesenwelle mit unnachahmlicher Eleganz über den Barren zum Bodenturnen abrollte. Glauben Sie mir, das hat mir seither keiner mehr nachgemacht und ich hätte – von Geld ganz zu schweigen – viel Ehr und Lorbeer damit einheimsen können. Ja, viel, olympische Ehren wären mir sicher gewesen. Aber für mich war, ist und bleibt das Turnen keine Sache äußeren Ruhmes, sondern Auftrag und Erfüllung einer unabdingbaren, inneren, ethischen Forderung: mens sana in corpore sano. Wenn wir seinerzeit als junge Turner so hinauszogen in die Natur, ein kampffrohes Trutzlied gegen Welschland auf den jugendfrischen Lippen, in Viererreihen marschierten, Liedchen sangen, Fähnchen schwangen, so recht nach Turners Wahlspruch: frisch, fromm, fröhlich, frei! Juchheissa, heissa, heissassa, was gäbe es da wohl Schöneres, was Erhebenderes als solch Gemeinschaftserlebnis? Nichts, junger Mann, glauben Sie mir, nichts! Wer die vier F, frisch-fromm-fröhlich-frei, nie im Pulsschlag seines Blutes gefühlt hat, ist und bleibt ein armer Tropf! Wer sie aber zum Leitstern seines Lebens erkoren, der ist glücklich zu preisen! Er hat ein Universalrezept, mit dem er heil durch alle Wechselfälle des Lebens bis an den sicheren Tod kommt. Wo andere müde werden, bleibt er frisch, wo andere Skrupel bekommen, bleibt er fromm, wo andere verzweifeln, fröhlich. Er ist im ungeschmälerten Besitz der Einsicht in die Notwendigkeit, fügt sich und bleibt frei, wo andere, mit weniger Einsicht Begabte, widerstreben, eingesperrt werden und sich unfrei fühlen. Und nun, ich merke es Ihnen an, wollen Sie mich fragen, was denn das alles mit Kommunismus zu tun habe. Nichts, werden Sie sich denken, und, daß ich es Ihnen frei gestehe, vor vierzehn Tagen war ich genau derselben Meinung. Doch in der Zwischenzeit hatte ich ein merkwürdiges Erlebnis, ein meine bisherigen, diesbezüglichen Anschauungen geradezu revolutionierendes Erlebnis. Ich saß in einem Kino und schaute mir eine Wochenschau an, und in dieser Wochenschau war auch ein Aufmarsch kommunistischer Turner zu sehen. Und wie ich diese Jugend da, lauter prächtige Jungens und Mädels mit kraftvollen, gut durchtrainierten Körpern – als alter Turner habe ich da einen Blick dafür, das können Sie mir glauben –, wie ich diese prächtigen Jungens und Mädels da marschieren sehe, in Viererreihen marschieren, Liedchen singend, Fähnchen schwingend, da hat mich das plötzlich gewaltig gepackt, und ich wäre am liebsten noch einmal jung gewesen und mit dieser sonnigen Jugend hinausgezogen in ein schöneres, werkfrohes Leben. In ein Leben, geleitet von einer Theorie von unverwelklicher Frische, erfüllt von einer die Gegenwart kühn mißachtenden, heroisch in die Zukunft gerichteten Frömmigkeit, fröhlich bei dem Gedanken an das schöne Leben meiner Kindeskinder und frei von all den Pseudofreiheiten, die dem erhabenen Gedanken wahren Fortschritts widersprechen.“

Schmidbruch machte eine Pause. Er hatte sich in seine Rolle hineingesteigert, daß ihn weder die verständnislosen, verwunderten Blicke Pizarrinis noch die versteckten Bemühungen Podestas aufzuhalten vermocht hätten, wäre nicht etwas anderes geschehen. Er wollte gerade wieder anfangen und Pizarrini erklären, daß man die Richtigkeit einer Weltanschauung durchaus nicht an ihren menschlichen Schwächen allzusehr ausgesetzten Folgen erkennen könne, sondern einzig und allein an der turnerischen Exaktheit der Disziplin ihrer Anhänger.

Er hatte gerade noch sagen können: „Nicht an ihren Früchten, an ihrer Disziplin werdet ihr sie erkennen…“, als der Kellner mit dem Wein kam und ihn bat, davon zu kosten.

Der Wein war gut, er machte ihn wieder nüchtern. Befriedigt nickte er mit dem Kopf, und der Kellner schenkte ihnen die Gläser voll.

Pizarrini hatte Schmidbruchs Redeerguß nicht verstanden. Das einzige, was er davon behalten hatte, war, daß Schmidbruch in seiner Jugend offenbar ein exzellenter Turner gewesen war.

Komisch, dachte Pizarrini, während er an dem Wein roch, komisch, das reizt mich wieder gar nicht, und ich halte doch bestimmt auch auf Ordnung. Schmidbruch und Podesta schenkten sich bereits zum zweiten Mal ein.

„Trottel“, zischte Podesta, dem Pizarrinis Schweigen nicht geheuer vorkam, Schmidbruch zu. „Trottel, er ist ja gar kein Ko...“

„Er ist kein Ko?“ Schmidbruch zündete sich eine Zigarette an und zog hastig daran. „Er ist kein Ko? Aber du hast mir doch gedeutet, er sei Ko!“

„Bitte?“ sagte Pizarrini, der etwas von Co. gehört hatte, und blickte von seinem Glas auf.

„Der Herr Präsident meinte“, gab Podesta würdevoll zur Antwort, „ich möge fortfahren, Ihnen von der Arbeit des Herrn Präsidenten zu erzählen.“

Pizarrini nickte eifrig ja. Aufgepaßt, flüsterte er sich leise zu, aufgepaßt, Pizarrini, das scheint eine Art Aufnahmeprüfung zu sein, sonst nichts.

Schmidbruch konnte seine Bestürzung nicht gut verbergen und starrte ratlos vor sich hin.

Podesta machte noch schnell einen kräftigen Schluck, dann begann er von neuem.

Podestas Erzählung
3

Nach diesem Zusammenstoß mit zweien seiner leitenden Direktoren beschloß Präsident Schmidbruch, in dieser Sache selbst die Initiative zu ergreifen. Er rief zunächst den Direktor der Personalabteilung zu sich und ging mit ihm die Personalakten der letzten Jahre durch. Er vermutete nämlich, der Rückgang der Umsätze ließe sich durch größere personelle Veränderungen erklären. Allein, sein Verdacht bestätigte sich nicht. Die personellen Veränderungen der letzten Jahre waren unbedeutend.

Der Personaldirektor atmete erleichtert auf, nahm seine Mappe und ging wieder.

Schmidbruch verfiel in längeres Nachdenken, kam aber an diesem Tag zu keinem Ergebnis.

Am nächsten Tag bestellte er den Generalküchenchef zu sich. Schmidbruch hegte vor diesem Mann die größte Achtung. Ja, er war innerhalb des riesigen Unternehmens, dem Schmidbruch vorstand, der einzige, mit dem Schmidbruch auf der Stufe von gleich zu gleich verkehrte. Er pflegte manchmal sogar von ihm zu sagen, daß er, Schmidbruch, zwar der Präsident der ISAG, jener aber ihre eigentliche Seele sei.

Mark Wondraschek, so hieß der Generalküchenchef, war früher einmal Kunstmaler gewesen und hatte in Erkenntnis seiner wahren Begabung erst verhältnismäßig spät den Pinsel mit dem Kochlöffel getauscht. Was ihm in der Kunst, der er den Rücken gekehrt hatte, tragisch versagt blieb, eröffnete sich ihm in den Gefilden edler Bratendüfte: hohe Meisterschaft.

Dies ermutigte den vielseitigen Mann zu einer Probe seines schriftstellerischen Könnens, und in kürzester Zeit schrieb er einen vielbesprochenen Bestseller. Das Buch, in dem er aus seinem Leben als Mensch und Künstler berichtete, hieß „Von der Palette zur Omelette“ und wurde in zweiunddreißig Sprachen übersetzt.

Insbesondere diesem Buch verdankte Mark Wondraschek sein Engagement als Generalküchenchef bei der ISAG (Interkontinentale Speisewagen AG).

Er hatte dann eine amerikanische Armeehelferin geheiratet, die ihrerseits schon mit dem Gedanken, einen General zu heiraten, in die Armee eingetreten war. Sie ließ sich zwar nach dreijähriger Ehe wieder von Wondraschek scheiden – Ursache hierfür war seine seelische Grausamkeit, die sich besonders darin zeigte, daß er beim Kochen leise vor sich hinzufuchteln pflegte –, aber da hatte er inzwischen schon eine neue Gewohnheit angenommen, nämlich die, seine Rede mit englischen Wörtern und Floskeln zu durchsetzen. Mark Wondraschek war von großer, kräftiger Statur.

Trotz seiner fünfzig Jahre hatten seine Augen noch immer den treuherzigen Ausdruck eines Kindes. Sein mächtiges Haupt zierte eine imposante Glatze, deren spiegelnde Glätte an einen Eislaufplatz erinnerte. Seine tiefe Stimme, seine an Pranken gemahnenden Hände, seine etwas schwerfällige Art zu gehen verliehen seiner Erscheinung etwas von der urwüchsigen Kraft eines Bären.

Als er nun in das Büro des Präsidenten trat, war seine Glatze das erste, was Schmidbruch von ihm zu sehen bekam. Glatzenwitze fielen ihm ein, und er konnte nicht verhindern, daß sich seine Falten zu einem Schmunzeln ordneten.

„Hello, Mister President“, rief Wondraschek, „ich sehe, Sie sind gut gelaunt.“

Und er drückte Schmidbruch die dargebotene Hand so heftig, daß dessen Lächeln einen Zug ins Schmerzhafte bekam. Wondraschek bemerkte dies mit Erstaunen und konnte es sich nicht richtig deuten. Sein Mitgefühl wogte empor, und indem er Schmidbruch noch kräftiger die Hand drückte, sagte er mit aufmunternder Stimme: „Keep smiling, Mister President, keep smiling.“

Schmidbruch schwor sich im stillen, diesem Mann nicht mehr so bald die Hand zu reichen, und bat ihn mit verbindlicher Geste, Platz zu nehmen.

Wondraschek ließ sich weit in den riesigen Fauteuil zurückfallen und blickte ungeniert herum. Sie saßen an einem kleinen Rauchertisch in der Ecke des Büros, und er konnte von seinem Platz aus bequem den ganzen Raum überblicken.

 

Schmidbruch zündete sich eine Zigarette an und begann: „Mein lieber Wondraschek, ich habe Sorgen.“

„Kein Wunder.“

„Wie meinen Sie das?“

„In diesem Büro müssen Sie Sorgen haben.“

„Müssen?“

„Kein einziges Bild an der Wand, was anderes als Sorgen sollen einem da kommen? Hängen Sie sich Bilder an die Wand, Mister President, Bilder! That is all!“

„Ach, Wondraschek, mir ist nicht nach Bildern, mir ist nach größeren Umsätzen.“

„Danach ist Ihnen?“

„Ja!“

„Davon verstehe ich nichts.“

„Mir scheint, ich auch nicht, und das ist meine größte Sorge. Denn, wie soll ich etwas ändern, was ich nicht verstehe. Ach, Wondraschek, glauben Sie mir, ich habe die letzte Nacht kein Auge zugetan.“

„Poor boy!“

„Wir müssen unbedingt wieder größere Umsätze als die letzten Jahre erzielen, sonst bin ich erledigt.“

„What will you do, was gedenken Sie zu tun, Mister President?“

„Mark, Sie müssen einige neue Werke kreieren, Werke, die den Geschmack der Zeit ins Schwarze treffen. Werke, die zu genießen das Publikum freudig einige hundert Kilometer Speisewagen auf sich nimmt. Werke, die nicht zu imitieren sind, die der speziellen Atmosphäre eines Speisewagens bedürfen, um voll genossen werden zu können. Werke, bei denen pro Schluck und Bissen mindestens eine Telegraphenstange vor dem Fenster vorbeiflitzen muß.“

„Sie verlangen Unmögliches, Mister President! Allein die eine Forderung, den Geschmack der Zeit ins Schwarze zu treffen, ist unerfüllbar, da es den Geschmack der Zeit nicht mehr gibt. Nicht nur in der Malerei, auch in der Kochkunst haben wir die Mitte verloren. Auch hier kämpft Europa einen verzweifelten Kampf gegen den tablettisierten Amerikanismus im Rücken und den materialistischen, alles Geistige leugnenden, sich nur auf gewöhnliches Essen verlegenden Kommunismus im Angesicht. Tabletten im Rücken, Kartoffeln im Angesicht, das ist der Zweifrontenkrieg des Abendlandes auf dem Gebiet der Kochkunst, das ist der wahre Grund des Rückganges der Umsätze in den Speisewägen. Und dagegen gibt es keine Hilfe, Mister President, dazwischen werden wir aufgerieben werden wie mürber Teig. Die große Zeit der Speisewägen ist vorbei. Tabletten und Kartoffeln, welch ein Ende!“

„Wahrscheinlich haben Sie recht, Mark, aber ich kann den Kampf nicht aufgeben. Zuviel steht auf dem Spiel. Wenn ich nur wüßte, wo ich beginnen soll!“

„Vielleicht ist es am besten, Sie machen eine Reise und essen inkognito in einem unserer Speisewägen; dann müßten Sie doch am ehesten sehen, warum die Umsätze zurückgehen.“

Schmidbruch gab keine Antwort und starrte vor sich hin; es war ihm nicht anzusehen, ob er den Vorschlag Wondrascheks aufgenommen hatte oder nicht. In dem großen Büro war es so still, als wäre es leer. Die Sonnenstrahlen fielen schräg durch die breiten, von Spitzenvorhängen verdeckten Fenster und zeichneten auf dem dicken, dunkelblauen Teppich helle Flecken, aus denen Staub hervorwirbelte.

„Ich glaube, das werde ich tun“, sagte Schmidbruch endlich und erhob sich, um Wondraschek hinauszugeleiten.