Za darmo

Vineta

Tekst
0
Recenzje
iOSAndroidWindows Phone
Gdzie wysłać link do aplikacji?
Nie zamykaj tego okna, dopóki nie wprowadzisz kodu na urządzeniu mobilnym
Ponów próbęLink został wysłany

Na prośbę właściciela praw autorskich ta książka nie jest dostępna do pobrania jako plik.

Można ją jednak przeczytać w naszych aplikacjach mobilnych (nawet bez połączenia z internetem) oraz online w witrynie LitRes.

Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Fünftes Kapitel


Totengräber Grelert tappte die Bodenstiege vom Taubenschlage mit beschleunigten Zappelbewegungen herunter, da es neun Uhr schlug. Um diese Stunde hatte ihm Hermine zu kommen versprochen. Er löschte mit kreuzvergnügtem Blasen die Laterne und setzte sie in seine Küche. Er freute sich auf den Besuch. Hermine war gut zu ihm, er nannte sie noch immer Du. Hermine hatte Vertrauen zu ihm, dem Taubenvater. Hermine war aufrichtig bis zur Grausamkeit gegen sich selbst.

Er kannte die Gründe dafür, daß sie manchmal sehr lange ausblieb und dann doch eines Abends wieder klopfte. Die Stadt brachte sie ins Gerede, weil sie zu ihm ging. Man sagte ihr offen nichts, aber sie sah es den Klätschern hinter dem Rücken von den gespickten Lippen ab, sie hörte es aus den knapperen Bemerkungen der Klätscher hinter dem Rücken, sie fühlte es aus dem verständnisvollen Zunicken der Klätscher untereinander. Dann blieb sie lange aus, aber ihm gelang es, sie den Klätschern zu entfremden und wieder in seine Stube zu locken. Er hatte sich so sehr an sie gewöhnt, daß er sie nicht ganz entbehren mochte und sie auf der Straße kopfhängerisch anredete: „Nun, willst du gar nicht mehr zu mir kommen?“ Dann kam sie.

Bisweilen genügte schon ein lächelndes Grüßen, sie den anderen abspenstig zu machen, und sie selbst gestand, daß der Gruß sie angezogen habe, weil Scherz oder Ernst in dem Lächeln nicht zu unterscheiden waren. Er wußte es wahrlich auch nicht, ob Scherz oder Ernst darin gelegen hatte. Das kam in Gedanken, – an seiner toten Tochter aber hing er sehr und wollte an ihr Leben und Weben erinnert sein.

Heute also kam Hermine! Nach so langer Zeit! Ihm war bekannt, vor acht Tagen war sie aus den Straßen gelaufen und hatte sich ganz zurückgezogen. Es mußte etwas Schlimmes in ihr vorgegangen sein, dennoch hatte sie heute mittag mit ruhiger Herzlichkeit gesagt: „Abends um neun Uhr komme ich zu Ihnen“, und mit heimlich lebendiger Stimme hinzugesetzt: „Lieber Herr Grelert, Sie allein —“. – Er schüttelte den Kopf. Jajajaja, er kannte ihre Art zu reden, wenn sie sich nach einer Pause ihm zuwandte. Diesmal lag ein fremder Ton in ihren Worten, aber nicht ein Ton großer Enttäuschung, sondern ein sehnender …

Unter derlei väterlichen Erwägungen hüpfte Grelert in seinem Zimmer herum, wischte den Staub vom Wandbrett und kramte im Spinde, weil er vor Erwartung keine ordentliche Hantierung vornehmen mochte. Zufällig fand er einen großen Beutel voll Wal- und Haselnüssen vor, den er irgendwo auf dem Lande zu Weihnachten geschenkt bekommen und, anderweit vollauf beschäftigt, vergessen hatte. Er setzte sich damit zu Tisch, zündete die Lampe an und begann zu knacken. Die meisten Nüsse waren hohl.

Seltsam doch, der fremde Ton! – Grelert wußte, vor wenigen Tagen war Hugo Winterlicht da gewesen. Eben zum Richter ernannt, verbrachte er auf der Durchreise einen Tag bei seinen Eltern. Mit ihnen und der Familie Dagott war er hier am Kirchhofe vorüberspaziert, an Hermines Seite. Sollte dieser Bekannte aus früheren Jahren wieder eine Neigung, nun eine reife Neigung in ihr erweckt haben? Wie sehr gönnte ihr Grelert das Glück, sich Hugo zu verbinden, mochte sie auch fort in die Weite ziehen! – Hugo Winterlicht ähnelte ihr etwas. Er war von hoher Gestalt, stolzem, fast herrischem Blick und dabei sanften Zügen; seine Stimme klang voll und innig. Er schien Hermine mit Wohlgefallen zu betrachten, nein mit Liebe. – Er ähnelte ihr, – aber er war davon gefahren …

Ja, diese Walnuß wollte durchaus ihre Schale nicht sprengen lassen. Hatte das etwas zu bedeuten?

Wenn Hermine Hugo wiederliebte, so mußte er wohl eine adlige Seele besitzen. Grelert kannte Hermine zur Genüge. Er hatte sich mit ihr einst von der Wünschelrute unterhalten und, während sie sprach, die Rute als Sinnbild ihrer wählerisch suchenden Herzenswünsche genommen und gedacht: auch deine Wünschelrute würde nur zucken, wo Gold glimmert. Bruno Pfeiffer, der sich seit längerer Zeit um ihre Gunst bemühte, fand immerhin spröde Erwiderung, aber nur spröde; und doch schien er Grelert ein wackerer, fleißiger junger Mann. – Hugo Winterlicht war davongefahren …

Es war doch wirklich sonderbar, wieder stellte sich eine Walnuß störrisch.

Wenn Hermine nun auf Pfeiffer neu hingewiesen würde! Sie war unglücklich und mußte endlich jemand finden, dem sie sich hingeben konnte wie ehedem der Freundin Elisabeth. – Vielleicht durfte man ihr zur Befreiung aus harter Lage auf Elisabeths Bruder deuten?

Schau! ein Doppelkern lag in der Haselnuß, ein Doppelkern!

Er legte ihn unter den hohlen Lampenfuß, und gleich darauf trat Hermine ein.

„Ich soll auf dem fünfhundertjährigen Stadtjubiläum mit sechs anderen jungen Mädchen einen Tanz aufführen, zu allem, was mir widerfahren ist, verlangt Dagott!“ rief sie heftig.

Grelert merkte am Ton, daß er sich nicht geirrt hatte, wenn er sie voll Liebe vermutete, und stellte sich ohne Antwort abwartend.

Ihre folgenden zerrissenen Sätze bildeten eine deutliche Bestätigung. Sie begann auf Dagott zu schmähen und wiederholte leidenschaftlich alle seine Schwächen, die der Totengräber schon längst kannte. Das verborgene Spötteln ihrer Stimme, das jeden Bericht von ihrem Stiefvater zu begleiten pflegte, hatte sich in offenen Hohn verwandelt.

Grelert schob ihr schnell eine volle Faust Nüsse zu, die sie aufgeregt mit den Zähnen zerbrach. Als sie zu Ende gingen, langte er ebenso schnell eine neue Handvoll und schlug sie, um durch eine lustig übertriebene Kameradschaft im Grimme zu beschwichtigen, dicht vor der Klagenden derb auf den Tisch nieder. Sie ergriff hastig die Nüsse, ohne auf ihn zu achten, und das kleine Possenspiel wiederholte sich mehrmals: Grelert ließ die Nüsse auf die Tischplatte krachen, Hermine zerkrachte sie mit den Zähnen, und beide machten die verbissensten Mienen.

„Schon seine Firma findet er sicherlich bedeutsam in jedem einzelnen Wort,“ geiferte Hermine. „Benjamin, der jüngste Sohn einer kinderreichen Familie, ist doch nicht der dümmste! Er darf den Namen Salomon mit gutem Gewissen tragen, und in dem Vatersnamen gibt sich ein kleiner Herrgott auf Erden zu erkennen, – der mit Stoff zu Röcken handelt und doch kein Jude ist!“

„Aber Kind!“ warf Grelert hier ein, erstaunt über die Galgenkeckheit.

„Überhaupt sein: mit Majestät!“ – Ihre Brust hob sich flach atmend, und sie brach in Tränen aus. Grelert hatte Tränen nie an ihr geschaut, obwohl er viele Phasen durch ihr Gemüt hatte wechseln sehen.

Die schimmernden Wimpern machten ihn urplötzlich feierabendernst. Solche glitzernden Schmerzen hatten in dieser Stube mit den trocken aufrecht stehenden Kalkwänden seit einem Menschenalter nicht mehr geglänzt, und dieses Mädchen hatte nie solche herein gebracht und stand wie eine zweite, lichter aus dem Grab erstandene Hermine Johannes da. Am schönsten dünkte ihn, daß ihre Schmerzen sich durch keinen Wortschwall berauben oder beiseite drücken ließen, sondern, wie sie waren, aufstiegen, so wie eine wütende Flamme durch übergeworfene Tücher nicht zerdrückt werden kann, sondern eine Bahn brennt.

Grelert zwang sich aber in seine scherzhafte Weise zurück und rief, so stark er er mit seiner Flüsterstimme vermochte, an die zehnmal rasch hintereinander: „so!“

Hermine schien befriedigt, daß er keine Frage in ihre Verwirrung warf, und fuhr gefaßt und feierlich zu berichten fort, wie sie in der Stadt gleichsam geächtet worden sei.

„Mein armes Wiesel,“ sagte Grelert herzlich. Er schrak kurz zusammen, denn er dachte dabei an Hermines Liebe zu Hugo Winterlicht und dessen Abreise, beruhigte sich jedoch augenblicklich, weil Hermine sein Bedauern unbewußt in die Beziehung gesetzt zu haben schien, in der es gemeint war.

Ihre Gedanken konnten abermals unmöglich bei dem Geschilderten weilen, so vergessen und in sich verriegelt schlenderten die Worte von der Zunge. Zudem schloß sie ihre Erzählung mit sanftmütigen, getragenen Sätzen ab, die aus fremdem Munde stammen mußten:

„Herr Grelert, vielleicht hebt das Schicksal seine unsichtbare Hand und zieht um unser beider Leben einen Kreis, daß es abgeschlossen und eigen ist. Vielleicht trennt das Schicksal mich von meinen verworrenen Träumen und gestaltet das einsame Leben selber zum Traum.“

Grelert vermutete, Hugo möchte ähnlich geredet haben, vielleicht nicht mit dieser feierlichen Verschwommenheit, sondern so deutlich, daß auch er einen einleuchtenden Sinn heraus gelesen hätte. Er wurde etwas verlegen. Er hatte Hermines Vertrauen nicht zuletzt dadurch gewonnen, daß er sie wenig ausfragte und ihr wenig widersprach, ehe sie ihre Empfindungen bis zu Ende entwickelt. So zupfte er unglücklich an seinem rechten Rockärmel. Wenn Hermine da war, trug er auf ihre Bitte den fadenscheinigen blauen Rock zur Erinnerung an den heiligen ersten Abend ihrer Bekanntschaft. Er zupfte auch den linken Ärmel zurecht.

„Ja, ich habe es immer gemeint, du bist ein Tropfen Öl in einem Glase Wasser,“ sagte er. „Sieh einmal, weißt du, wie ich mit den meisten Menschen verkehre? Wenn ich sie berühren muß, dann berühre ich sie nur mit diesem Blauen hier (er klopfte flach auf den Ärmel), und wenn ich sie anreden muß, dann rede ich nur mit diesem Roten hier (er wies auf die ausgespeilte Zungenspitze). Nicht weiter! Das andere versteckt sich hinter dem Blauen und Roten.“

Hermine hatte kaum zu Ende gehört, so sprach sie von Hugo, nicht wie er sich gegen sie beim Besuch gestellt, sondern sie gab sein Schicksal wieder, wie sie es von ihm hatte. „Ist es nicht schön, daß mir jemand einmal etwas erzählt?“ fragte sie mit so großen, verwunderten Zügen, als hätte sie eben in den güldenen Himmel gelugt und die heilige Dreifaltigkeit ihr zugenickt.

Grelert hätte vor Rührung fast eine Träne zu den ihren gelegt, aber er besann sich, daß er seit einem Menschenalter nie geweint.

 

Und nun ließ sie ihre sammtenen Worte dahin schweben, kindlich über sich selbst verwundert, wie ein Fünfjähriges die regenbogenfarbigen Nachbilder der Silbersonne zum ersten Male tanzen sieht. Hugo hatte in der großen Stadt eine Geliebte gehabt. Marie hieß sie. Sie war allein mit sich etwas schwach, aber tief. Hugo dagegen fühlte sich ihr gegenüber roh. Da gab er ihr von seiner Kraft und sie ihm von ihrer eigenen Tiefe. So kamen beide vorwärts. Aber Marie starb. – Und nun wußte Hugo, daß er am besten ihr Gedächtnis wahrte, wenn er nicht lange müßig an weher Erinnerung bange, sondern nach einer Verbindung suche, die wieder seine Seele zusammen mit einer andern hinauf bildete. Die gute, gute Marie, welche die heilige Wegbahnerin für Hugos Leben war!

„Des Mädchens Wünschelrute zuckte vor Hugo,“ sagte Grelert ebenso feierlichen Tones und freute sich über den verborgenen Doppelsinn, der ebensogut Hermine wie Marie meinen konnte. Er blickte auf seine Lampe und machte sich klar, daß er der ganz Erglühten von Bruno Pfeiffer doch wohl nicht reden dürfte. Aber der Doppelkern erwies trotzdem seine Bedeutung. Er war zwei Herzen ähnlich, die nicht eins wurden – alte Lieder! —, und die er, der Totengräber, gemäß seinem Amte sinnbildlich schon begraben hatte! Das Schicksal, von dem Hermine gefabelt, spielte so seine Streiche mit ihm, und die unsichtbare Hand legte spitzige Gedanken in seinen alten Schädel.

„Jetzt ist er weg, wer weiß, auf wie lange,“ murmelte Hermine beherrscht, und Grelert merkte erst jetzt, daß sie soeben lange geschwiegen. „Auch mein Spielgefährte Edwin Maßholder, der kürzlich vom fernen Gute ins Heimatdorf zurückgekehrt ist, wird bald wieder abreisen.“ Ihre Stimme klang kränklich … „Ich war neulich da.“

Grelert verstand sie wiederum über ihre Worte hinaus. Die kurze Silbe ,auch‘ verriet ihm ihren ganzen Zustand, wie das Ölblatt im Taubenschnabel nach der Sintflut Noah den der ganzen Erde. Er wiederholte, wie noch in die Geschichte von Marie versunken, sein doppelsinniges Wort etwas verändert: „Des Mädchens Wünschelrute zuckte vor ihm.“ Und der Doppelkern unter dem Lampenfuße erhielt eine andere Bedeutung: Hermine stand hier, aber jene beiden geliebten Herzen lagen von ihr getrennt durch eine eiserne Schranke.

„Des Mädchens Wünschelrute zuckte vor ihm?“ fragte Hermine voll leisen Mißtrauens.

Grelert lenkte, aus der Versonnenheit auffahrend, in sehr plumper Wendung ab. „Herrn Edwin Maßholder, den kenne ich seit neulich. Ich habe in seiner Eltern Küche einen Topf bestrickt. Den kenne ich; hei, der reitet.“ Seine Fäuste ahmten ein trabendes Pferd auf dem Tische nach.

Und er dachte im stillen weiter an Edwin. „Den lieben, das glaub’ ich wohl! Der kam in den Hof geritten, daß die Gänse auseinanderstoben, ihre Natur vergaßen und in die Wolken fliegen wollten. Bumdilumbumdilumbum! dröhnte die Erde, daß ich es noch höre.“ Und er trommelte wieder den Takt auf den Tisch. „Ein lustiger junger Herr ist er. Neugierig ist er, wollte mein ganzes Leben erfahren und machte sich über meine Schicksale lustig, aber auf eine Art, daß man es gern hörte. Freiwillig habe ich ihm erzählt, was ich andern nicht auf Befragen anvertraute, die Geschichte von dem Messer da auf der Konsole. Nur Wasser hat er getrunken wie ich, aber doch mit mir angestoßen und mir lachend Glück gewünscht, spottend beinah, und es kam doch von Herzen.“ Er trommelte: „Es kam doch von Herzen.“

Er achtete nicht darauf, wie Hermine den Gang zu Edwin beschrieb, er horchte erst, als sie ihm auf sein anfängliches Schweigen hin unglücklich erklärte:

„Ich durfte doch hin, weil er mein erster Spielgefährte war. – Ein trauriger Sonntag war es für mich, weil ich doch in der Stadt so hart – Wissen Sie, man möchte manchmal die Arme ausbreiten und sie zucken ohnmächtig, als schnürte sie ein Strick an den Leib. Ich sah lange Reihen der Frohen vor dem Gasthaus. Ich sah sie zu Paaren und Dreien verschlungen aneinanderhängen. Ich hörte einen brausenden Wortschwall und empfand, getrennt durch eine unüberschreitbare Kluft, die Freude der vielen Menschen. Ich nahm nur die Lust dieses Tages wahr, die so groß war, daß ich vergaß, auch in ihn mündeten ungleiche und wechselreiche Leben ein. Für mich hatten sich alle diese Augen noch niemals gefeuchtet, alle diese Lippen noch nie verfärbt, diese Stimmen noch nie dunkel geklungen. Darum wagte ich nicht, meine Arme zu breiten, denn ich mußte bangen, eine Last von Stein würde hineinstürzen, aber kein Mensch.“

So klagte sie und suchte dann nach Worten.

Edwin wäre zwar fröhlich, von Herzen fröhlich, nein doch nicht, nicht erquickend fröhlich. – Sie pflückte so schweren Herzens den Flieder hinter dem Stall aus dem Busche, darunter die Scherben lagen wie ehedem, nichts als zerbrochenes Geschirr, zerborsten wie die alten vergangenen – erquickend fröhlichen Tage und aufgehäuft wie ein Denkmal dieser Tage. Dazu duftete das grauschwarze morsche Holz der nahen Scheune in der Hitze unerfreulich. So erfrischte aller Scherz nicht. Sie war vielleicht auch nur nicht anregbar. Sie betrachtete alle Dinge mit einer seltsamen Sehnsucht: die sei doch zu verstehen, weil sie als Kind oft genug in jedem Winkel dort gesessen. Und sie merkte sich alle Einzelheiten unter wehmütigen, aber doch sehr unsinnigen Betrachtungen. In der Scheune lag das Stroh übereinander geschichtet, ein feines gelbes Röhrchen beim andern. Warum traf der geheimnisvolle Sonnenstrahl durch jene grauschwarzen modrigen Latten nur so wenige und ließ die andern, selbst die dicht daneben, ohne Kuß? Warum lagen gerade die zu oberst und alle anderen tiefer? Weshalb blies das Sommerlüftchen nur durch das eine Astloch und bewegte jenen einzigen frei schwebenden Halm!

Sie hielt auf einmal inne und schlug ein jähes krampfhaftes Gelächter an.

Grelert erhob den Blick nicht von seinem Lampenfuß.

Sie erzählte nach einer langen Pause, wieder in krankem Ton, doch heiserer noch und gedämpfter, wie sie mit Edwin im dunklen Hühnerstall gestanden.

Grelert merkte, daß sie Sehnsucht gehabt hatte, Edwin dort zu umarmen und zu küssen.

Doch sie berichtete nur, wie sehr viele Hühner im dicken Federpelz auf die Stange gedrückt saßen, mit blöden Augen, gleich Wesen einer anderen, sehr fremden Welt. Wenn sie gackernd aufglucksten, drangen Laute aus dieser düsteren Welt herauf. Zwar war sie natürlich auch in unserer Welt enthalten, aber eben graues Licht mochte für die Augen der Hühner darin herrschen, und ihre Kehlen mochten darum so schluchzen.

Sie hatte sich darüber mit Edwin lachend besprochen wie schon in der Kindheit, aber die Unterhaltung hatte immer einen unbegreiflichen Hintersinn mitgeführt. Weil Edwin so bald wieder fuhr, hatte sie nicht vernünftiger zu reden beginnen wollen. Überdies war er nicht zu ernsten Worten zu brauchen.

Ihre Stimme hatte eine immer zärtlichere Heiserkeit angenommen und mußte nun abbrechen, um nicht abermals in Tränen zu ersticken.

Grelert fühlte sich geheimnisvoll bewegt, denn er konnte sich den Gedanken nicht aus dem Hirne treiben, das Schicksal spiele mit ihm. Wenn er die Lampe erhübe und die Haselkerne aus ihrem Gefängnis befreite! Nichts! – Aber er durfte doch wohl an Bruno Pfeiffer erinnern, der auch Hermines Liebe durchaus verdiente; ihr Herz neigte sich ja schon etwas zu ihm!

Er knackte zu Hermines Erstaunen zunächst zehn Nüsse. Die enthielten zusammen zwei Kerne. Er legte sie auf die entgegengesetzten Tischenden und erklärte: „Das sind zwei Herzen, die einander suchen.“ Dann erhob er die Lampe und wies auf die Doppelnuß: „Hier sind sie sich nahe. – Des Mädchens Wünschelrute neige sich vor Bruno Pfeiffer.“

Sein breites Grinsen flackerte auf.

Hermine fragte tonlos: „Was?“ wandte sich jedoch wie eine Lichtgeblendete ab und lief davon. Sie haßte von diesem Augenblick an Bruno Pfeiffer und wußte nicht warum. Zu Grelert sagte sie scheinbar gleichgiltig: „Ich komme nie mehr zu Ihnen.“

Grelert erschrak bis ins Mark, durch seine Knie rann ein ziehender Schmerz, seine Wangen spitzten sich, als würden sie gekniffen. Er stand lange am Tisch.

Dann ergriff er mit zitternden Fingern das Nußsäckchen, drehte die jammernde Ofenschraube los und schüttete den ganzen Inhalt ins Feuerloch. Die Schalen las er sorgfältig in den Beutel zusammen, setzte sich während dieses Geschäftes einmal wie erschöpft in den Stuhl und legte das plötzliche Andenken behutsam zu Dolch und Strang auf die Konsole. Allein für den Doppelkern, in welchem er drei Männerherzen bedeutend mit Hermine verbunden, suchte er einen Blumentopf, füllte ihn auf dem Kirchhofe mit Erde vom Grabe seiner Tochter und dem Elisabeths am Fuße der beiden Pappeln und begoß ihn unter der Pumpe mit derbem Strahl.

Drinnen in der Stube setzte er die Lampe auf den Fußboden und den Topf daneben. Er hockte und suchte nach Tränenspuren von Hermine. Es waren keine da. Er brütete lange und schließlich verbreitete sich wieder das Lächeln auf seinem Gesicht, von dem man nicht sagen konnte, ob Scherz oder Ernst in ihm lebte. Es erstarrte wohl minutenlang.

Er musterte noch einmal den Erdboden und dann den Blumentopf.

In dem lag aber ein vertrockneter Lebenskeim, und kein Nußbaum wollte heraussprießen.

Sechstes Kapitel


Etliche Tage nach dem Besuche bei Grelert trat Hermine mit ihrer Mutter um die dritte Nachmittagsstunde in die große Stube rechts vom Flur. Während Frau Dagott einen Stuhl am Fenster einnahm, wenige Schritte vor dem hohen Spiegel, setzte sich Hermine hinter ihrem Rücken mehr in den Schatten vor den runden Tisch. Frau Dagott fand es wünschenswert, in dieser Zeit der Tochter Gesellschaft zu leisten, obwohl sie keineswegs durch tröstendes Zureden oder Anregung zu heiterer Tätigkeit etwas linderte, sondern an eigener Arbeit schweigsam beiseite saß und schlanke Fäden schon vom fünften Knäuel wickelte.

Hermine hielt beständig einer zerrenden Spannung still, als wäre ihr Inneres unter unsichtbaren Keilen auseinandergequollen. Sie fand es völlig recht, mehr und mehr ganz abgeschlossen zu werden. Lange Gewöhnung hatte sie stets in sich zurückgetrieben. Auf Dagott schien ihre bloße Gegenwart in der Weise zu wirken, daß er mit besonders gesuchten Bewegungen und hervorragend lächerlichen Scherzen schäkerte, und dennoch verdrossen alle Einzelheiten sie weniger als der unveränderte Bestand seines Gemütes. Sie empfand es sogar als notwendige Fügung, mit Grelert erzürnt zu sein. Welch anderes Schicksal in aller Welt hätte denn über sie kommen müssen! Mußte sie nicht einsam wie der Verbrecher in seiner Zelle sein?

Tanzen auf dem Jubiläum, gewissermaßen wieder unter die Schamlosen tauchen, dieser hohe Gedanke Dagotts war ihr so drollig abschüssig, daß sie ihn sich immer von neuem zu eigen machen und sofort abgleitend verlassen mußte, wie die Knaben mit eins oben auf dem Treppengeländer reiten und mit zwei auf die Fliesen plumpsen. Tanzen? – nein! Ach, tanzen? – nein! Zusammen sein mit den übrigen jungen Mädchen, den Geschwätzigen, Leichtsinnigen, sollte es locken?

Dennoch wünschte sie allein bei dem Gedanken an diese Geschöpfe, lieber nicht ein Tropfen Öl im Wasserglas zu sein. Dieses Bild ward so oft wiederholt, daß es zuletzt in alle Empfindungsketten sein Glied gab. Fast jede Stunde wuchs ein kleines Pflänzchen Neid auf, das mit Grübeleien totgewalzt und unter Schmerzen ausgejätet werden mußte: je älter jene Mädchen wurden, desto mehr wußten sie aus dem geselligen Leben zu erzählen, worunter sich manche schöne Anekdote fand. Einige hatten schon ein Liebesleben durchkostet und sahen auf die unerfahreneren Genossinnen großmütterlich herab. Hermine konnte nichts dergleichen berichten, und wenn sie an Verwandte Briefe schreiben und nicht klagen sollte, mußte sie die Seiten nicht mit Traumgesichten oder gar Lügen füllen?

Und nun hatte sie sich den dunklen Garten als Bereich gesetzt für alle Stunden, alle Tage, und dieses Haus! Eigens für sie schien es gebaut. Sie sah sich in der Stube um. An keine Stunde konnte sie sich erinnern, in der das Zimmer ganz mit Licht erfüllt gewesen. Vor den Fenstern plusterten sich sommers die Kastanien und schütteten ihre dicken Schatten voran den Sonnenstrahlen auf den Fußboden, und dann spielten sich zuckend und entsetzlich leise auf dem Teppich wunderliche Spiele ab. Im Winter, wenn das Laub dahingeschwunden und der Helle Raum gegeben war, fingen öde Dunstbänke, Nebelschluchten und Wolkenklippen den traulichen Schein ab und standen als schwammige Inseln am ganzen Himmel. Im Mondlicht hatte sich das Schattenbild der nackten Zweige ausgenommen wie eine starre Häkelei unterirdischer Geister.

Es roch verjährt in der Stube. Die Mauern dieses Hauses waren doppelt so dick wie die anderer und hier unten mit graubraunen wirr gemusterten Tapeten beklebt. Man sollte meinen dürfen, eine Kerze, die man hier anzündete, müßte vor der herrschaftsgewohnten Dämmerung ersticken.

 

Sahen die Fenster nicht aus, als wären sie nach Schildbürgerart erst nachträglich aus der Mauer geschnitten, so unbeholfen und klein? Zwar nicht eigentlich klein, nur die breiten Schnittflächen, die fast eine eigene Wand hätten hergeben können, ließen sie löcherhaft erscheinen! Lugte man durchs Glas auf den Markt und es schlief wirklich Sonnenschein darauf, so schienen die Nachbarhäuser gefärbte Gips- und Wachsgegenstände.

Wurde es hier herum je recht froh licht?

Gab es in diesem Zimmer denn überhaupt nur hellfarbige Geräte?

Über der Ottomane und den Sesseln lagen schimmelgraue Decken: in sie waren goldene Tausendschönblüten hineingedruckt. Voll dicker Falten streckten sie sich über die plumpen Formen, und in ihren Falten schliefen schwerfällige Schatten.

Die Hängelampe trug ihre grüne Glocke auf einem Messingringe, einem Saturnsringe gleichsam – Karp hatte diesen Himmelskörper daran einmal veranschaulicht, – indes der Stern selbst war erloschen und die drei Ketten mit Messinggelenken, in denen das Ganze schwebte, ruhten tot und starr.

Hermine sagte sich, daß es ein lächerliches Unterfangen wäre, so alles Gelbe in der Stube herauszusuchen, aber sie suchte dennoch.

Auf einem kleinen Tischchen stand der Hirschleuchter. Das Tier verschluckte wieder eine bleiche Kerze wie am Abend, da niemand gut getröstet hatte, bis am nächsten Morgen Hugo Winterlicht tröstete. Und Hugo Winterlichts wegen trug der Hirsch jetzt eine frische Wunde am Hals, in Gedanken ehegestern hineingeschnitten. Sie war das Glänzende, um dessentwillen er eben auffiel. Hermine stellte sich die Wunde in den eigenen Hals geschlagen vor.

Zwischen den beiden Bildern an der den Fenstern gegenüber liegenden Wand stand ein Bassin mit zwei Goldfischen. Müde ruderten die Schwänze, und das Rotgelb daran war kaum noch hell zu nennen. Die Tiere ließen Kügelchen aus dem Wasser steigen, als pusteten sie Seifenblasen in die Luft. Hermine fühlte sich an die Kindheit gemahnt, wo sie mit Edwin Maßholder Seifenblasen aus Strohhalmen hatte schweben lassen. Die Köpfe der Fische zeigten einen überdrüssigen Ausdruck. Spiele befriedigten die alten Schuppenrücken wohl nicht mehr … Glut schoß in Hermines Wangen.

Über dem Behälter hingen die beiden Gemälde, die ja auch etwas Leuchtendes an sich hatten, und war es nur die goldene Einfaßlinie der schwarzen Rahmen. Das eine stellte den blühenden Frühling dar, eine Wiese mit drei wunderschön roten Rindern am Quell. Hermine hatte sich, es mit erlebten Kindheitsbildern vergleichend, daran oft erbaut und es bedeutungsvoll gefunden, wenn im Winter fallende Flocken sich im Glase widerspiegelten und den quillenden Lenz endlos einzuhüllen trachteten. Stand sie am Ofen, so verfolgte sie den wehmütigen Vorgang ganz deutlich, auch wie das spiegelnde Glas etwas wie eine schützende Seidenhaut vor dem Werke bildete. – Das andere Gemälde aber war unterschrieben: Scheideweg. Hermine schenkte dem schlechten Öldruck gern ihres Herzens Leben und heute mehr denn sonst. Eine Straße gabelte sich nach zwei südlich schönen Gärten. Den rechten umgab ein Gitter aus schierem Amethyst, über welches sich Goldregenbäume in Alleen und purpurblütige Lauben reckten, während der linke von einem Ebenholzzaune ernst umfriedet war und düstere Cypressen aufwies. Auch schwarze Pappeln standen in ihm. Ein Mensch mit verbundenen Augen bewegte sich gegen den letzten Garten, nachdem er die Weggabelung passiert hatte.

Hermine wandte schnell den Kopf ab, weitersuchend.

Der Spiegel noch hatte etwas Mattschimmerndes. Durch ihn konnte sie der Mutter ins Gesicht sehen. Deren schöne Züge verharrten in unverändertem Aufbau, ernst, aber immerhin zufrieden. Die aufrechte Gestalt mit dem weißen Faden in den Händen hatte etwas Prophetisches. Der Spiegel veränderte, er raubte vom Leben des Augenblicks und fügte von beständigem Leben etwas in das Bild. Hermine beugte sich vor, um auch sich im Glase zu betrachten, nur einen Augenblick, damit die Mutter inzwischen nicht aufsehen und sie bemerken möchte. Sie erschrak, wie ähnlich sie ihrer schönen Mutter geworden, außer daß vielleicht das Haar mit einem Quentchen mehr Gold und die Lippe mit einem Spürchen weniger Rot gefärbt war. Sie fuhr darüber so heftig in den aufknackenden Stuhl zurück, daß Frau Katharina sich umwandte und einen langsamen, zerstreuten Blick herschickte. Nun saß Hermine still, aber in unregelmäßiger Wallung der Brust schienen kleine Geister aufzusteigen, im Flugtanz zu einem Seufzer umschlungen. Das Gesicht veränderte sich dabei wenig, weil sich seine Haut über die strenge flache Rundung der Wangen hinweg nach dem anmutig engen Kinn zu straffen schien. Unablässig erforschte sie das Mutterbild des Spiegels, jede Gramlinie und jede Freudenkurve. Sie gab dennoch auf sich selbst acht. Einmal schlug ihr Puls so langsam, als warte er auf eine Freude und wollte, falls sie ausbliebe, tot einschlafen, dann zuckte er drei- bis viermal rasch auf. Solche Beobachtungen stellte sie an, um nicht in ihrem inneren Wuste zu rühren. Mit fiebrischem Mißbehagen weidete sie den Spiegel ab, seine ganze oblonge Fläche und dazu den braunschwarzen Rahmen. Wie sie saß, konnte sie im Glase nur einen schmalen Ausschnitt des Zimmers wahrnehmen, doch am deutlichsten im wehenden Helldunkel immer die Mutter, welche wahrhaftig wie auf eine Zauberplatte beschworen war. Und sie dachte an die Schicksale der Mutter, deren Ängste und Überraschungen und Demütigungen, deren Hoffnungen und Beglückungen und Freuden in den Falten hängen geblieben waren. Sie überschlug nach ihrem Wissen und Ahnen alles. Die Summe? – Also diese Frau war nun wirklich glücklich geworden.

Das Bild vom Scheidewege erblich nicht in ihr. Mutter, mir ähnliche, dort wandelst du, dachte sie mit Zagen. Mutter, du hast schon graue Fäden im Haar, die Kreuzung der Straße liegt hinter dir. Gehst du in das amethystene Paradies oder das ebenholzumgitterte? Du gehst in das schwarze. Schön ist es auch, zum wundern schön genug; du darfst dich freuen; aber das mit den Purpurlauben ist noch tausendmal schöner.

Hermine saß still kauernd und unmerklich in sich zusammenschwindend, doch bald rief es in ihr: „Schwirre ab von dir!“ Und sie suchte sich im Weiten.

Wieder schienen kleine Geister in der Seele aufzusteigen, im Flugtanz zu einem Seufzer umschlungen.

Der Trüben schien das Traurigste, was all den vielen Menschenleben bestimmt sein könnte, wenn sie zu Ende gingen, ohne soviel Seligkeit genossen zu haben, wie sie irgend schlürfen konnten. Das schien ihr viel trauriger, als wenn sie alle ein Weltuntergang abbrach, was Karp als solch namenloses Unheil darstellte. O, war es nicht zum verzweifeln, daß sie allesamt lachten in den Gängen des geringeren Paradieses und nicht wußten, nicht ahnten, nicht einmal zu überzeugen gewesen waren, daß es noch ein schöneres gab! Das Furchtbarste im ganzen Dasein war der Punkt jener Wendung. Nie erfuhr man, ob man ihn überschritten hatte.

Bei dieser Erwägung ließ sie ab vom Selbstbetrug und bangte nicht mehr für das Schicksal anderer. Sie war doch der Mutter ähnlich? Sie wollte sich noch einmal vorbeugen und im Zauberspiegel für sich lesen, da hob die Mutter die Hand mit dem Faden, Hermine fuhr krampfhaft zusammen und wurde sehr niedergeschlagen. Doch wohl war sie an der Kreuzung schon vorbei, – o!

Sie begann von stundan herb an dem zu leiden, was sie erlebt haben könnte und versäumt hatte.

Als sie den Blick am Spiegel emporklimmen ließ bis zu den krönenden Schneckenornamenten, lag ein Ausdruck darin, als hätte sie den schwarzen Stern über ihrem Haupt entdeckt. Sie lief eine Weile in ihrem Leben zurück nach dem Kreuz im Wege, beruhigte sich etwas mit der erstarrenden Überzeugung, daß es schon weit rechts hinter ihr liege und mußte hinaus. Der fatalistische Glaube ging mit wie ein Würgengel, sie war Sklavin.