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Das Bildnis des Dorian Gray

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Endlich öffnete sich die Tür, und sein Bedienter trat ein. Er wandte ihm seine gläsernen Augen zu.

„Herr Campbell, gnädiger Herr“, sagte der Mann.

Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen Lippen und die Farbe kehrte in seine Wangen zurück.

„Bitten Sie ihn sofort herein, Francis.“ Er fühlte, daß er wieder er selbst war. Der Anfall von Feigheit war überwunden.

Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen Augenblicken trat Alan Campbell ein, mit sehr strengem Gesicht und etwas bleich, und seine blasse Farbe wurde durch das kohlschwarze Haar und die dunkeln Brauen noch verstärkt.

„Alan! das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß du gekommen bist.“

„Ich hatte die Absicht, dein Haus nie wieder zu betreten, Gray. Aber du schriebst, es handle sich um Leben und Tod.“ Seine Stimme war hart und kalt. Er sprach langsam und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in dem festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er behielt die Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes und schien die Bewegung, mit der ihm die Hand entgegengestreckt worden war, nicht zu bemerken.

„Ja, es handelt sich um Leben und Tod, und für mehr als einen Menschen, Alan. Setze dich.“

Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian setzte sich ihm gegenüber. Die Augen der beiden Männer trafen sich. In denen Dorians lag unendliches Mitleid. Er wußte, was er jetzt tun werde, war schrecklich.

Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens beugte er sich nach vorn und sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes Wortes auf dem Gesicht des Mannes ablesend, den er hatte holen lassen: „Alan, in einem verschlossenen Dachzimmer dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger Mensch außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann an einem Tisch. Er ist jetzt seit zehn Stunden tot. Bleib' ruhig sitzen und sieh mich nicht so an. Wer der Mann ist, warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die dich nicht kümmern. Was du zu tun hast, ist – “

„Halt, Gray! Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was du mir gesagt hast, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an. Ich lehne es entschieden ab, in dein Leben verwickelt zu werden. Behalte deine fürchterlichen Geheimnisse für dich! Sie interessieren mich nicht mehr.“

„Alan, du wirst dafür Interesse haben müssen. Dies eine Geheimnis wird dich interessieren müssen. Es tut mir furchtbar leid um dich, Alan. Aber ich kann dir nicht helfen. Du bist der einzige Mensch, der mich zu retten vermag. Ich bin gezwungen, dich in die Sache hineinzuziehen. Ich habe keine Wahl. Alan, du bist ein Mann der Naturwissenschaft. Du verstehst dich auf Chemie und diese Dinge. Du hast Experimente gemacht. Was du zu tun hast, ist, das Wesen da oben zu vernichten, so zu vernichten, daß auch nicht eine Spur davon übrigbleibt. Niemand hat diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet ihn im Augenblick in Paris. Monatelang wird er nicht vermißt werden. Wenn er vermißt wird, darf hier keine Spur von ihm gefunden werden. Alan, du mußt ihn, ihn und alles, was zu ihm gehört, in eine Handvoll Asche verwandeln, die ich in die Luft streuen kann.“

„Du bist wahnsinnig, Dorian.“

„Ah! wie ich darauf gewartet habe, daß du mich wieder Dorian nennst.“

„Du bist wahnsinnig, sag' ich dir – wahnsinnig, daß du dir einbildest, ich wurde auch nur einen Finger rühren, dir zu helfen, wahnsinnig, daß du mir dieses ungeheuerliche Geständnis ablegst. Ich will damit nichts zu tun haben, was es auch sei. Glaubst du, ich setze meine Ehre für dich aufs Spiel? Was geht's mich an, mit welchem Teufelswerk du zu tun hast.“

„Es war ein Selbstmord, Alan.“

„Das freut mich, aber wer hat ihn dazu getrieben? Du, vermute ich.“

„Weigerst du dich noch immer, das für mich zu tun?“

„Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit zu schaffen haben. Es liegt mir gar nichts daran, was für eine Schande über dich kommt. Du verdienst es vollauf. Es würde mir nicht leid tun, wenn ich dich entehrt, öffentlich entehrt sähe. Wie kannst du es wagen, mich, gerade mich von allen Menschen in der Welt in diese Scheußlichkeit hineinbringen zu wollen? Ich hätte geglaubt, du verständest mehr vom Charakter der Menschen. Dein Freund, Lord Henry Wotton, kann dich nicht sehr über Psychologie aufgeklärt haben, worüber er dich auch sonst aufgeklärt hat. Nichts wird mich dazu vermögen, auch nur einen Schritt zu tun, um dir zu helfen. Du bist an den falschen Mann gekommen. Geh zu einem deiner Freunde, nicht zu mir.“

„Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Du weißt nicht, was ich durch ihn gelitten habe. Mein Leben mag sein, wie es wolle, er hatte mehr damit zu tun, es zu erschaffen und zu zerstören, als der arme Harry. Er mag es nicht gewollt haben, die Wirkung ist dieselbe.“

„Mord! Guter Gott, Dorian, bist du jetzt soweit gekommen? Ich werde dich nicht anzeigen. Das ist meines Amtes nicht. Im übrigen wird man dich fassen, auch wenn ich mich nicht in die Sache mische. Niemand begeht ein Verbrechen, ohne dabei eine Dummheit zu machen. Also ich will nichts damit zu tun haben.“

„Du mußt etwas damit zu tun haben. Warte, warte noch einen Augenblick; hör' mich an. Nur anhören, Alan. Alles, was ich von dir verlange, ist ein bestimmtes wissenschaftliches Experiment. Du gehst in Spitäler und Leichenhäuser, und das Schreckliche, was du dort tust, rührt dich nicht. Wenn du diesen Mann in irgendeinem gräßlichen Seziersaal oder in einem mißduftenden Laboratorium auf einem rohen Tisch liegen sähest, mit roten Röhren, die man in ihn hineingebohrt hat, damit daraus das Blut durchfließen kann, dann würdest du ihn einfach als ein bewundernswertes Objekt betrachten. Kein Härchen würde sich dir sträuben. Du hättest nicht die Empfindung, irgend etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil, du würdest wahrscheinlich glauben, der Menschheit eine Wohltat zu erweisen, oder die Summe des menschlichen Wissens zu vermehren oder den intellektuellen Wissensdrang zu befriedigen oder so etwas dergleichen. Was ich von dir fordere, ist nichts anderes, als was du schon oft getan hast. Wahrhaftig, es muß viel weniger gräßlich sein, einen Leichnam aus der Welt zu schaffen, als das, was du gewöhnlich tust. Und bedenke, es ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn er entdeckt wird, bin ich verloren; und er muß sicher entdeckt werden, wenn du mir nicht hilfst.“

„Ich habe keine Lust, dir zu helfen. Du vergißt das. Die ganze Sache ist mir gleichgültig. Ich habe nichts damit zu tun.“

„Alan, ich beschwöre dich. Denke an die Lage, in der ich bin. Jetzt eben, ehe du kamst, war ich fast ohnmächtig vor Schreck. Du kannst eines Tages selbst einmal die Angst kennenlernen. Nein, denke nicht daran! Betrachte die Sache vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus. Du forschst doch sonst nicht danach, woher die toten Wesen kommen, mit denen du experimentierst. Forsche auch jetzt nicht danach. Ich habe dir ohnehin zuviel gesagt. Aber ich bitte dich, tu, um was ich dich bat. Wir waren doch einmal Freunde, Alan.“

„Sprich nicht von jenen Tagen, Dorian; sie sind tot.“

„Die Toten verweilen manchmal. Der Mann da oben geht nicht weg. Er sitzt am Tisch mit vorgebeugtem Kopf und ausgestreckten Armen. Alan! Alan! wenn du mir nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! man wird mich hängen! Begreifst du nicht? Man wird mich hängen, für das, was ich getan habe.“

„Es hat keinen Sinn, diese Szene weiter auszudehnen. Ich weigere mich ganz entschieden, etwas damit zu tun zu haben. Es ist Tollheit von dir, mich darum zu bitten.“

„Du weigerst dich?“

„Ja!“

„Ich beschwöre dich, Alan!“

„Es ist nutzlos.“

Derselbe mitleidige Ausdruck kam in Dorian Grays Augen. Dann reckte er die Hand aus, nahm ein Stück Papier und schrieb etwas darauf. Er las es zweimal durch, faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den Tisch. Nachdem er dies getan hatte, stand er auf und trat ans Fenster.

Campbell sah ihn verwundert an, nahm dann das Papier und öffnete es. Als er es gelesen hatte, wurde sein Gesicht totenblaß und er sank in seinen Stuhl zurück. Ein fürchterliches Gefühl der Schwäche überwältigte ihn. Ihm war, als ob sich sein Herz in einer leeren Höhle zu Tode schlüge.

Nach zwei oder drei Minuten furchtbaren Schweigens wandte sich Dorian um, ging zu ihm hin, stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Es tut mir so leid um dich, Alan,“ flüsterte er, „aber du läßt mir keine Wahl. Ich habe den Brief schon geschrieben. Hier ist er. Du siehst die Adresse. Wenn du mir nicht hilfst, muß ich ihn abschicken. Du weißt, was darauf erfolgt. Aber du wirst mir helfen. Es ist unmöglich, daß du jetzt noch nein sagst. Ich wollte dir das ersparen. Du mußt mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, das zuzugeben. Du warst bitter, hart, beleidigend. Du hast mich behandelt, wie es nie ein Mensch gewagt hat, mich zu behandeln. Wenigstens kein lebender Mensch. Ich ertrug es alles. Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren.“

Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und ein Frösteln überlief ihn.

„Ja, jetzt ist die Reihe an mir, Bedingungen zu diktieren, Alan. Du weißt, was ich verlange. Die Sache ist ganz einfach. Komm, schraube dich nicht in ein Fieber hinein. Die Sache muß geschehen. Schau ihr ins Gesicht und vollbringe sie.“

Ein Stöhnen klang von Campbells Lippen, und er zitterte am ganzen Leibe. Das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims schien ihm die Zeit in einzelne Atome eines Todeskampfes zu zerstückeln, von denen das kleinste schon zu schrecklich war, um es zu ertragen. Er hatte das Gefühl, als ob ein eiserner Ring um seine Stirn nach und nach festgespannt wurde, als ob die Schande, mit der man ihn bedrohte, schon über ihn käme. Die Hand auf seiner Schulter beschwerte ihn wie ein Gewicht von Blei. Sie war unerträglich. Sie schien ihn zu zerquetschen.

„Komm, Alan, du mußt dich gleich entscheiden.“

„Ich kann es nicht tun“, sagte er mechanisch, als könnten die Worte etwas ändern.

 

„Du mußt. Du hast keine Wahl. Zaudere nicht.“

Er schwankte einen Augenblick. „Ist ein Ofen da oben?“

„Ja, ein Gasofen mit Asbest.“

„Dann muß ich nach Hause gehen und einiges aus dem Laboratorium holen.“

„Nein, Alan, du darfst das Haus nicht verlassen. Schreib' auf ein Blatt Papier, was du brauchst, und mein Diener nimmt eine Droschke und wird dir die Sachen bringen.“

Campbell kritzelte ein paar Zeilen hin, trocknete sie ab und adressierte ein Kuvert an seinen Assistenten. Dorian nahm das Briefchen und las es aufmerksam durch. Dann klingelte er und gab es seinem Diener mit dem Auftrag, so rasch als möglich zurückzukommen und die im Schreiben bezeichneten Sachen mitzubringen.

Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös zusammen, stand vom Stuhl auf und ging zum Kamin hinüber. Er schüttelte sich in einer Art kalten Fiebers. Fast zwanzig Minuten lang sprach keiner der beiden Männer. Eine Fliege schwirrte summend durch das Zimmer, und das Ticktack der Uhr klang wie der Fall eines Hammers.

Als es eins schlug, drehte sich Campbell um, blickte auf Dorian Gray und sah, daß seine Augen mit Tränen gefüllt waren. In den reinen, edlen Zügen dieses traurigen Gesichts lag etwas, was ihn wütend zu machen schien. „Du bist infam, ganz infam“, rief er mit unterdrückter Stimme.

„Ruhig, Alan, du hast mir das Leben gerettet“, sagte Dorian.

„Dein Leben? Gott im Himmel! Was für ein Leben ist das! Du bist von Verderbnis zu Verderbnis geschritten, und jetzt hast du mit Mord den Gipfel erreicht. Wenn ich tue, was ich tun werde, was du mich zu tun zwingst, so denke ich dabei wahrhaftig nicht an dein Leben.“

„Ach, Alan,“ flüsterte Dorian seufzend, „ich wünschte, du hättest den tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das ich mit dir habe.“ Er kehrte sich während dieser Worte ab und stand da und blickte in den Garten hinaus. Campbell gab keine Antwort.

Nach etwa zehn Minuten klopfte es an die Tür, und der Diener trat ein und brachte einen großen Mahagonikasten mit Chemikalien, eine lange Rolle Stahl- und Platindraht und zwei absonderlich geformte Eisenklammern.

„Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?“ fragte er Campbell.

„Ja“, antwortete Dorian. „Und ich bedaure, Francis, aber ich habe noch einen Weg für Sie. Wie heißt der Mann in Richmond, der Selby mit Orchideen versorgt?“

„Harden, gnädiger Herr.“

„Richtig – Harden. Sie müssen gleich nach Richmond fahren, Harden selbst sprechen und ihm sagen, er solle doppelt soviel Orchideen schicken, als ich bestellt habe, und möglichst wenig weiße dabei. Eigentlich will ich überhaupt keine weißen. Es ist ein schöner Tag, Francis, und Richmond ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht behelligen.“

„Nichts zu sagen, gnädiger Herr. Zu welcher Zeit soll ich zurück sein?“

Dorian sah Campbell an. „Wie lange wird dein Experiment dauern, Alan?“ fragte er mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. Die Gegenwart eines Dritten im Zimmer schien ihm außerordentlichen Mut einzuflößen.

Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. „Es wird ungefähr fünf Stunden beanspruchen“, antwortete er.

„Dann ist es früh genug, wenn Sie um sieben zurück sind, Francis. Oder halt: legen Sie meine Sachen zum Umkleiden zurecht, Sie können dann den Abend für sich verwenden. Ich esse nicht zu Hause, brauche Sie also nicht.“

„Ich danke, gnädiger Herr“, sagte der Mann und verließ das Zimmer.

„Jetzt, Alan, ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer der Kasten ist! Ich will ihn dir tragen. Nimm du die anderen Sachen.“ Er sprach hastig und in befehlendem Tone. Campbell fühlte sich von ihm beherrscht. Sie verließen das Zimmer gleichzeitig.

Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, nahm Dorian den Schlüssel heraus und schloß auf. Dann blieb er stehen, und ein Ausdruck von Unruhe zeigte sich in seinem Blick. Er schauderte. „Ich glaube, ich kann nicht hineingehen, Alan“, flüsterte er.

„Das ist mir ganz gleich. Ich brauche dich nicht“, sagte Campbell kalt.

Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Als er dies tat, sah er seinem Porträt, das im hellen Sonnenlicht hing, grade ins Gesicht. Davor lag auf den Dielen der herabgerissene Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in der vergangenen Nacht zum ersten Male in seinem Leben vergessen hatte, die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen, und wollte eben nach vorn stürzen, als er schaudernd zurückprallte.

Was war das für ein widerlicher, roter Fleck, der naß und glänzend an einer der Hände klebte, als hätte die Leinwand Blut geschwitzt? Wie schrecklich das war! – Schrecklicher schien es ihm in diesem Augenblick als das schweigsame Ding, das, wie er wußte, noch über den Tisch gebeugt dasaß, das Ding, dessen grotesker, unglückseliger Schatten auf dem fleckigen Teppich ihm zeigte, daß es sich nicht bewegt hatte, sondern noch da war, wo er es gelassen hatte.

Er atmete tief auf, öffnete die Tür etwas weiter und ging mit halbgeschlossenen Augen und abgewandtem Kopf rasch hinein, entschlossen, mit keinem einzigen Blick nach dem Toten hinzusehen. Dann bückte er sich, nahm den gold- und purpurschimmernden Vorhang auf und warf ihn gerade über das Bild.

Dann blieb er stehen, voll Angst, sich umzuwenden und seine Augen richteten sich auf die verschlungenen Muster des Vorhangs. Er hörte Campbell den schweren Kasten hereinbringen, und die Eisenklammern und die anderen Geräte, die er sich für seine entsetzliche Arbeit hatte kommen lassen. Er begann sich zu fragen, ob Campbell und Basil Hallward einander je begegnet waren und wenn, welche Meinung sie voneinander gehabt hätten.

„Lasse mich jetzt allein“, sagte eine rauhe Stimme hinter ihm.

Er kehrte sich um und lief hinaus, eben noch gerade wahrnehmend, daß der Tote in seinen Stuhl zurückgelehnt worden war und daß Campbell in ein schimmerndes, gelbes Gesicht starrte. Als er die Stufen hinabging, hörte er, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde.

Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell wieder in die Bibliothek trat. Er war blaß, aber vollständig ruhig. „Ich habe getan, was du von mir verlangt hast“, sagte er leise. „Und jetzt adieu. Wir wollen uns nie wiedersehen.“

„Du hast mich vorm Untergang gerettet, Alan“, sagte Dorian ganz schlicht. „Ich kann das nie vergessen.“

Sobald ihn Campbell verlassen hatte, ging er hinauf. Ein schrecklicher Geruch von Salpetersäure war im Zimmer. Aber das Ding, das am Tisch gesessen hatte, war fort.

Fünfzehntes Kapitel

Am selben Abend um halb neun Uhr wurde Dorian Gray in sorgfältigster Toilette, im Knopfloch einen großen Strauß Parmaveilchen tragend, von dienernden Lakaien in den Salon Lady Narboroughs geführt. Er hatte heftiges Kopfweh und furchtbar überreizte Nerven, aber seine Gebärde, als er sich über die Hand seiner Gastgeberin beugte, war ebenso leicht und anmutig wie sonst. Vielleicht sieht man nie gelassener aus, als wenn man eine Rolle zu spielen hat. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an diesem Abend sah, geglaubt, daß er eine Tragödie hinter sich habe, die so schrecklich war wie irgendeine Tragödie unserer Zeit. Diese feingeformten Finger konnten doch nie ein Messer gezückt haben, um eine Sünde zu begehen, diese lächelnden Lippen nie Gott und Gottes Güte geschmäht haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens wundern und einen Augenblick lang spürte er in ganzer Stärke den grauenvollen Genuß eines Doppeldaseins.

Es war eine kleine Gesellschaft, die Lady Narborough kurzer Hand zusammengeladen hatte, und die Gastgeberin war eine sehr gescheite Frau mit ansehnlichen Überbleibseln einer unleugbar hervorragenden Häßlichkeit, wie es Lord Henry auszudrücken liebte. Sie hatte sich einem unserer langweiligsten Botschafter als eine ausgezeichnete Frau erwiesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie sich's geziemte, in einem marmornen Mausoleum beigesetzt hatte, das nach ihren eigenen Entwürfen erbaut worden war, und seitdem sie ihre Töchter an einige reiche, etwas angejahrte Herren verheiratet hatte, widmete sie sich den Genüssen französischer Romane, französischer Kochkunst und französischen Geistes, wenn sie ihn auftreiben konnte.

Dorian war einer ihrer erklärten Lieblinge, und sie sagte ihm immer, sie sei äußerst froh darüber, ihn nicht in früheren Jahren kennengelernt zu haben. „Ich weiß, mein Lieber, ich hätte mich sinnlos in Sie verliebt,“ pflegte sie zu sagen, „und wäre Ihretwillen der größten Tollheiten fähig gewesen. Es ist ein großes Glück, daß man damals noch gar nicht an Sie dachte. Zu meiner Zeit waren die Tollheiten eine so seltene Ware, daß ich nicht einmal eine harmlose Liebelei mit jemand gehabt habe. Indessen war das nur die Schuld Narboroughs. Er war schrecklich kurzsichtig, und es ist alles andere als ein Vergnügen, einen Ehemann zu betrügen, der nie etwas sieht.“

Ihre Gäste waren an diesem Abend ziemlich langweilig. Die Sache war so, wie sie Dorian hinter einem ziemlich schäbigen Fächer erklärte, daß eine ihrer verheirateten Töchter plötzlich zu Besuch gekommen war, und, was die Sache noch ärgerlicher machte, obendrein ihren Mann mitgebracht hatte.

„Ich finde das sehr unliebenswürdig von ihr, mein Lieber“, flüsterte sie ihm zu. „Natürlich bin ich jeden Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von Homburg komme, aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal frische Luft haben, und außerdem rüttle ich sie dann etwas auf. Sie ahnen ja gar nicht, was die für ein Leben da hinten führen. Es ist das reine, unverfälschte Landleben. Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun haben, und gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben. In der ganzen Gegend da hat es seit der Zeit der Königin Elisabeth keinen Skandal gegeben, und infolgedessen schlafen sie alle nach dem Essen ein. Sie sollen aber nicht neben einem von ihnen sitzen. Sie sollen neben mir sitzen und mich amüsieren.“

Dorian murmelte ein anmutiges Kompliment und blickte sich im Zimmer um. Ja, es war wirklich eine öde Gesellschaft. Zwei von den Anwesenden hatte er vordem nie gesehen, und die anderen waren Ernest Harrowden, eine der Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man so häufig in Londoner Klubs begegnet, die keine Feinde haben, die aber keiner ihrer Freunde leiden kann: dann Lady Ruxton, eine aufgeputzte Dame mit einer Papageiennase, im Alter von siebenundvierzig Jahren, die sich unablässig bemühte, sich zu kompromittieren, die aber so lächerlich häßlich war, daß zu ihrer großen Enttäuschung niemals einer etwas Schlechtes von ihr glauben wollte: Frau Erlynne, eine zudringliche Nichtigkeit mit einem entzückenden Lispeln und venezianisch rotem Haar: Lady Alice Chapman, die Tochter der Wirtin, eine schlechtgekleidete, bedeutungslose Frau mit einem der charakteristischen englischen Gesichter, an die man sich nie wieder erinnert, wenn man sie einmal gesehen hat, und ihr Mann, ein rotbäckiges, weißbärtiges Geschöpf, das, wie so viele seiner Kaste, der Überzeugung lebte, daß ungewöhnliche Liebenswürdigkeit den vollständigen Mangel an Gedanken ersetzen könne.

Es tat ihm beinah leid, daß er gekommen war, bis Lady Narborough einen Blick auf die große goldene Pendeluhr warf, die sich mit ihren geschmacklosen Zieraten auf dem malvefarbig behängten Kamin spreizte, und ausrief: „Wie häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich schickte heute früh auf gut Glück zu ihm hinüber und er hat fest zugesagt, mich nicht im Stich zu lassen.“

Es war ein Trost, daß Harry kommen sollte, und als sich die Tür öffnete und er seine sanfte musikalische Stimme hörte, die irgendeine läppische Ausrede bezaubernd hervorbrachte, schwand seine Verdrießlichkeit.

Aber er konnte bei Tisch dennoch nichts essen. Platte nach Platte wurde, von ihm unberührt, weggetragen. Lady Narborough schalt ihn unaufhörlich, weil sie darin „eine Beleidigung sah für den armen Adolphe, der das ganze Menü eigens für sie erfunden hätte“, und dann und wann blickte Lord Henry zu ihm herüber und verwunderte sich über sein Schweigen und sein zerstreutes Wesen. Von Zeit zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit Champagner. Er trank hastig, und sein Durst schien zu wachsen.

„Dorian,“ sagte Lord Henry endlich, als das Chaudfroid herumgereicht wurde, „was ist heute abend mit dir los? Du bist ja so verstimmt.“

„Ich glaube, er ist verliebt,“ sagte Lady Narborough, „und er hat Angst, es mir zu erzählen, aus Furcht, daß ich eifersüchtig würde. Er hat auch ganz recht. Ich würde es gewiß.“

„Teure Lady Narborough,“ flüsterte Dorian lächelnd, „ich bin seit einer vollen Woche nicht verliebt gewesen – genau gesagt, nicht seitdem Madame de Ferrol aus London weg ist.“

„Daß ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!“ rief die alte Dame. „Ich kann es wirklich nicht verstehen.“

 

„Das kommt einfach daher, weil sie Sie an die Zeit erinnert, wo Sie ein kleines Mädchen waren, Lady Narborough“, sagte Lord Henry. „Sie ist das einzige Bindeglied zwischen uns und Ihren kurzen Röckchen.“

„Sie erinnert mich wirklich nicht an meine kurzen Röckchen, Lord Henry. Aber ich entsinne mich ihrer sehr gut in Wien vor dreißig Jahren und wie sie sich damals dekolletierte.“

„Sie dekolletiert sich noch immer,“ antwortete er und nahm eine Olive in seine langen Finger, „und wenn sie sehr elegant gekleidet ist, sieht sie aus wie die Luxusausgabe eines schlechten, französischen Romans. Sie ist wirklich wunderbar und voller Überraschungen. Ihr Talent für Familienliebe ist außerordentlich. Als ihr dritter Mann starb, wurde ihr Haar vor Trauer ganz goldblond.“

„Wie kannst du so etwas sagen, Harry!“ rief Dorian.

„Das ist eine höchst romantische Erklärung“, lachte die Gastgeberin. „Aber ihr dritter Mann, Lord Henry! Sie wollen doch nicht sagen, daß Ferrol der vierte ist?“

„Doch, Lady Narborough.“

„Ich glaube kein Wort davon.“

„Gut, dann fragen Sie Herrn Gray, er ist einer ihrer intimsten Freunde.“

„Ist das wahr, Herr Gray?“

„Sie versichert es mir, Lady Narborough“, erwiderte Dorian. „Ich fragte sie, ob sie wie Margarete von Navarra ihre Herzen einbalsamiert habe und am Gürtel trage. Sie sagte mir, sie täte das nicht, weil keiner von ihnen überhaupt ein Herz gehabt hätte.“

„Vier Männer! Auf mein Wort, das ist trop de zêle.“

Trop d'audace sagte ich ihr“, entgegnete Dorian.

„Oh! sie ist mutig genug, alles zu tun, mein Lieber. Und wie ist Ferrol? Ich kenne ihn nicht.“

„Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse“, sagte Lord Henry und schlürfte seinen Wein.

Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. „Lord Henry, ich bin nicht im mindesten überrascht, daß die ganze Welt über Ihre Ruchlosigkeit klagt.“

„Aber welche ganze Welt tut das?“ fragte Lord Henry, seine Brauen hochziehend. „Es kann nur die Nachwelt sein. Denn diese Welt und ich, wir stehen brillant miteinander.“

„Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr ruchlos sind!“ rief die alte Dame den Kopf schüttelnd.

Lord Henry sah einige Augenblicke ernsthaft aus. „Es ist ganz abscheulich,“ sagte er schließlich, „wie die Leute heutzutage herumgehen und einem hinterm Rücken Dinge nachsagen, die ganz und gar auf Wahrheit beruhen.“

„Ist er nicht unverbesserlich?“ rief Dorian und beugte sich in seinem Stuhl vor.

„Ich hoffe“ sagte die Wirtin lachend. „Aber wenn Sie wirklich alle Madame de Ferrol in dieser lächerlichen Weise anbeten, so muß ich auch wieder heiraten, um in Mode zu kommen.“

„Sie werden nie wieder heiraten, Lady Narborough“, unterbrach Lord Henry. „Sie waren viel zu glücklich. Wenn eine Frau wieder heiratet, so tut sie es, weil sie ihren ersten Mann verabscheute. Wenn ein Mann wieder heiratet, so tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen versuchen ihr Glück, Männer setzen das ihre aufs Spiel.“

„Narborough war nicht vollkommen!“ rief die alte Dame.

„Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt, meine teure Lady“, war die Antwort. „Frauen lieben uns um unserer Fehler willen. Wenn wir ihrer genug haben, vergeben sie uns alles, selbst unseren Geist. Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zu einem Diner bitten, nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough, aber es ist völlig wahr.“

„Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen euch nicht eurer Fehler halber liebten, wo wäret ihr alle? Nicht ein einziger von euch würde verheiratet sein. Und ihr wäret eine Sekte unglücklicher Junggesellen. Das würde aber nicht viel an euch ändern. Heutzutage leben alle Ehemänner wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner.“

Fin de siècle“, flüsterte Lord Henry.

Fin du globe“, entgegnete die Gastgeberin.

„Ich wollte, es wäre fin du globe“, sagte Dorian mit einem Seufzer. „Das Leben ist eine große Enttäuschung.“

„Ah, mein Lieber!“ rief Lady Narborough und zog ihre Handschuhe an, „sagen Sie mir nicht, daß Sie das Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann das sagt, weiß man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist im höchsten Grade ruchlos, und ich wünsche manchmal, ich wäre es auch gewesen; aber Sie sind geschaffen, um gut zu sein – Sie sehen so gut aus. Ich muß Ihnen eine hübsche Frau verschaffen. Lord Henry, meinen Sie nicht, daß Herr Gray heiraten sollte?“

„Ich sage ihm das immer, Lady Narborough“, erwiderte Lord Henry mit einer Verbeugung.

„Schön, so wollen wir uns nach einer guten Partie für ihn umsehen. Ich werde heute nacht den Adelskalender aufmerksam durchgehen und eine Liste aller in Frage kommenden jungen Damen aufstellen.“

„Mit ihrer Altersangabe, Lady Narborough?“ fragte Dorian.

„Natürlich mit ihrem Alter, ein wenig retuschiert. Aber man darf nichts übereilen. Ich will, daß es genau das wird, was die Morning Post eine passende Verbindung nennt, und ihr sollt beide glücklich werden.“

„Was die Menschen doch für einen Unsinn über glückliche Ehen reden!“ rief Lord Henry. „Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich werden, solange er sie nicht liebt.“

„Pfui! Was sind Sie für ein Zyniker!“ rief die alte Dame, schob ihren Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu. „Sie müssen bald wiederkommen und bei mir essen. Sie sind wirklich ein wunderbarer Appetitanreger, viel besser als das, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen mir sagen, was für Leute Sie gern treffen würden. Es soll ein entzückendes Beisammensein werden.“

„Ich liebe Männer, die eine Zukunft haben, und Frauen, die eine Vergangenheit haben“, antwortete er. „Oder beabsichtigen Sie, eine Weibergesellschaft zustande zu bringen?“

„Ich fürchte fast“, sagte sie lachend, indem sie sich erhob. „Ach, verzeihen Sie tausendmal, Lady Ruxton,“ fuhr sie fort, „ich habe nicht bemerkt, daß Sie mit Ihrer Zigarette noch nicht fertig waren.“

„Macht nichts, Lady Narborough. Ich rauche viel zuviel. Ich muß mich darin in Zukunft einschränken.“

„Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton“, sagte Lord Henry. „Mäßigung ist eine unglückliche Sache. Genug ist nicht besser als eine Mahlzeit. Mehr als genug ist so gut wie ein Festessen.“

Lady Ruxton sah ihn neugierig an. „Lord Henry, Sie müssen mich eines Nachmittags besuchen und mir das erklären. Es klingt wie eine verlockende Theorie“, sagte sie, während sie aus dem Zimmer rauschte.

„Jetzt bitte, sitzt mir nicht zu lange bei eurer Politik und euerm Klatsch!“ rief Lady Narborough von der Tür aus. „Wenn ihr das tut, zanken wir sicher mit euch, wenn ihr nach oben kommt.“

Die Männer lachten, und Herr Chapman stand feierlich vom Ende der Tafel auf und setzte sich oben hin. Dorian Gray wechselte seinen Platz und setzte sich neben Lord Henry. Herr Chapman begann mit lauter Stimme über die parlamentarische Lage zu sprechen. Er heulte laut auf über seine Widersacher. Das Wort Doktrinär – ein Wort voller Schrecken für den britischen Geist – tauchte von Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen auf. Eine doppelt ausgesprochene Vorsilbe diente seiner Rede als Alliteration zum Schmuck. Er hißte den Union Jack auf dem Mast des Gedankens auf. Die angestammte Dummheit der Rasse – gesunder englischer Menschenverstand nannte er sie wohlwollend – wurde als das Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt.

Ein Lächeln kräuselte Lord Henrys Lippen, und er drehte sich um und blickte zu Dorian hin.

„Geht dir's jetzt besser, lieber Junge?“ fragte er. „Du schienst bei Tisch gar nicht recht wohl zu sein.“

„Mir ist ganz wohl. Ich bin müde. Sonst nichts.“

„Du warst entzückend gestern abend. Die kleine Herzogin hat dich ganz in ihr Herzchen geschlossen. Sie hat mir erzählt, sie käme nach Selby.“

„Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen.“

„Wird Monmouth auch da sein?“

„Oh, gewiß, Harry!“