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Das Bildnis des Dorian Gray

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„Meine Seele sehen“, murmelte Dorian Gray, stand vom Sofa auf und wurde beinah weiß vor Angst.

„Ja,“ antwortete Hallward ernst und ein tiefschmerzlicher Klang zitterte in seiner Stimme – „deine Seele sehen. Aber das kann nur Gott.“

Ein bitter-höhnisches Gelächter brach aus dem Munde des Jüngeren. „Du sollst sie selbst sehen, noch heute nacht!“ rief er aus und nahm eine Lampe vom Tisch. „Komm: sie ist das Werk deiner eigenen Hand. Warum solltest du es nicht sehen? Du kannst nachher aller Welt davon erzählen, wenn du willst. Niemand würde dir glauben. Wenn sie dir glaubten, haben sie mich deswegen nur um so lieber. Ich kenne unsere Zeit besser als du, obwohl du darüber so langweilig faseln kannst. Komm, sag' ich dir. Du hast genug über Verderbnis geschwatzt. Jetzt sollst du sie von Angesicht zu Angesicht sehen.“

In jedem Wort, das er sprach, klang der Wahnsinn des Hochmuts. Er stampfte in seiner knabenhaften, dreisten Art mit dem Fuß auf die Dielen. Er empfand ein furchtbares Vergnügen bei dem Gedanken, daß ein anderer jetzt sein Geheimnis teilen solle und daß der Mann, der sein Bild gemalt hatte, das der Ursprung all seiner Schande war, für den Rest seines Lebens die Last der gräßlichen Erinnerung an seine Tat mit sich herumschleppen müsse.

„Ja,“ fuhr er fort und trat näher zu ihm heran und sah ihm fest in die ernsten Augen, „ich werde dir meine Seele zeigen. Du sollst das Machwerk sehen, von dem du glaubst, daß es nur Gott sehen kann.“

Hallward schrak zurück. „Das ist Gotteslästerung, Dorian. Du darfst nicht solche Dinge sagen. Sie sind schrecklich und unverständig.“

„Glaubst du?“ Er lachte wieder.

„Ich weiß es. Was ich dir heute abend gesagt habe, hab' ich zu deinem Besten gesagt. Du weißt, ich war dir immer ein guter Freund.“

„Werde nur nicht rührselig. Mach' Schluß mit dem, was du noch zu sagen hast.“

Ein wehevolles Zucken ging durch das Gesicht des Malers. Er schwieg einen Augenblick und ein heftiger Mitleidsschmerz überkam ihn. Welches Recht hatte er schließlich, in Dorian Grays Leben hineinzuspähen? Wenn er nur den zehnten Teil von dem getan hatte, wovon die Gerüchte gingen, wie qualvoll mußte er gelitten haben! Dann richtete er sich auf, ging zum Kamin hinüber und blieb da stehen, versunken in den Anblick der brennenden Holzscheite, die mit ihrer weißen Asche wie bereift aussahen und stierte ihre zuckenden Feuerherzen an.

„Ich warte, Basil“, sagte der junge Mann mit harter, spitzer Stimme.

Er drehte sich um. „Was ich noch zu sagen habe, ist das“, rief er. „Du mußt mir eine Antwort geben auf diese fürchterlichen Anklagen, die gegen dich erhoben werden. Wenn du mir sagst, daß sie von Anfang bis zu Ende unwahr sind, werde ich dir glauben. Leugne sie ab, Dorian, leugne sie ab! Kannst du nicht sehen, was ich durchmache? Mein Gott, sage mir nicht, daß du schlecht und verderbt und schändlich bist!“

Dorian Gray lächelte. Seine Lippen krausten sich in Verachtung. „Komm hinauf, Basil“, sagte er ruhig. „Ich führe da ein Tagebuch meines Lebens, Tag für Tag, und es verläßt niemals das Zimmer, in dem es geschrieben wird. Ich will es dir zeigen, wenn du mit mir kommst.“

„Ich komme mit, Dorian, wenn du es haben willst. Ich sehe, daß ich meinen Zug versäumt habe. Das tut nichts. Ich kann morgen fahren. Aber verlange nicht von mir, daß ich heute nacht noch etwas lese. Was ich will, ist eine klare Antwort auf meine Frage.“

„Die soll dir oben zuteil werden. Ich kann sie dir hier nicht geben. Du wirst nicht lange zu lesen haben.“

Dreizehntes Kapitel

Er verließ das Zimmer und begann die Treppe hinaufzugehen, Basil Hallward folgte dicht hinter ihm. Sie gingen leise, wie man es bei Nacht instinktiv tut. Die Lampe warf phantastische Schatten auf Wand und Treppe. Im Winde, der sich erhoben hatte, klirrten einige Fenster.

Als sie den obersten Absatz erreicht hatten, stellte Dorian die Lampe auf den Boden, nahm den Schlüssel heraus und schloß auf. „Du bestehst auf einer Antwort, Basil?“ fragte er mit gedämpfter Stimme.

„Ja.“

„Das freut mich“, antwortete er lächelnd. Dann fügte er ziemlich scharf hinzu: „Du bist der einzige Mensch in der Welt, der alles über mich wissen darf. Du hast mehr mit meinem Leben zu schaffen gehabt, als du dir denkst“, und damit nahm er die Lampe auf, öffnete die Tür und trat ein. Ein kalter Luftzug strich an ihnen vorbei, und das Licht zuckte einen Augenblick in einer düstern Orangefarbe auf. Er schauderte. „Schließe die Tür hinter dir“, flüsterte er, während er die Lampe auf den Tisch stellte.

Hallward blickte erstaunt umher. Das Zimmer sah aus, als wär' es seit langen Jahren nicht bewohnt worden. Ein fadenscheiniger flämischer Gobelin, ein verhängtes Bild, ein alter italienischer Cassone und ein fast leerer Bücherschrank – das war außer einem Stuhl und einem Tisch alles, was darin zu sein schien. Als Dorian Gray eine halb abgebrannte Kerze, die auf dem Kamin stand, angezündet hatte, sah der Maler, daß der ganze Raum mit Staub bedeckt und der Teppich zerfetzt und durchlöchert war. Eine Maus lief erschreckt hinter die Täfelung. Ein dumpfer Modergeruch machte sich bemerkbar. —

„Du glaubst also, daß Gott allein die Seele sieht, Basil? Zieh den Vorhang zurück, und du wirst die meine sehen.“

Die Stimme, die das sprach, klang kalt und grausam.

„Du bist wahnsinnig, Dorian, oder spielst Komödie“, sagte Hallward und runzelte die Stirn.

„Du willst nicht? Dann muß ich es selbst tun“, sagte der junge Mann, und riß den Vorhang von seiner Stange und schleuderte ihn zu Boden.

Ein Entsetzensschrei kam von den Lippen des Malers, als er in der düsteren Beleuchtung das gräßliche Gesicht auf der Leinwand erblickte, das ihm entgegengrinste. In seinem Ausdruck war etwas, das ihn mit Ekel und Abscheu erfüllte. Gott im Himmel! Es war Dorian Grays eigenes Antlitz, das er sah! Das Schreckliche, was es auch sein mochte, hatte die wundervolle Schönheit noch nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold in dem gelichteten Haar und etwas Purpur auf dem sinnlichen Mund. Die stumpfgewordenen Augen hatten noch etwas von ihrem lieblichen Blau behalten, der edle Schwung der Linien um die feingewölbten Nasenflügel und den plastischen Hals war noch nicht ganz verschwunden. Ja, es war Dorian selbst. Aber wer hatte das gemalt? Er glaubte, das Werk seines eigenen Pinsels zu erkennen, und der Rahmen war von ihm selbst gezeichnet. Die Vorstellung war ungeheuerlich, und doch fürchtete er sich. Er nahm die brennende Kerze und hielt sie nahe an das Bild. In der linken Ecke stand ein Name in langen, hellroten Lettern.

Es war irgendeine infame Parodie, eine niederträchtige, elende Satire. Er hatte das niemals gemalt. Und doch, es war sein eigenes Bild. Er wußte es und ihm war, als ob sich sein Blut in einem Augenblick aus Feuer in starrendes Eis verwandelt hätte. Sein eigenes Bild! Was sollte das heißen? Warum hatte es sich verändert? Er drehte sich um und sah Dorian Gray mit krankhaften Augen an. Sein Mund zuckte, seine trockne Zunge schien jedes Lautes ganz unfähig zu sein. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Kühle Schweißperlen standen darauf.

Der junge Mann lehnte gegen den Kamin und beobachtete ihn mit dem merkwürdigen Ausdruck, den man auf den Gesichtern von Menschen sieht, die von dem Spiel eines großen Schauspielers hingerissen sind. In seinem Gesicht war weder wirklicher Schmerz noch wirkliche Freude. Da war nur die Leidenschaft des Zuschauers und höchstens in den Augen flackerte ein triumphierendes Leuchten. Er hatte die Blume aus seinem Knopfloch genommen und roch daran oder tat mindestens so.

„Was bedeutet das?“ rief Hallward endlich. Seine eigene Stimme klang ihm schrill und fremd in die Ohren.

„Vor vielen Jahren, als ich noch ein Knabe war,“ sagte Dorian Gray, während er die Blume in seiner Hand zerdrückte, „hast du mich kennengelernt, hast mir geschmeichelt und mich gelehrt, auf meine Schönheit eitel zu sein. Eines Tages stelltest du mich einem deiner Freunde vor, der mir das Wunder der Jugend erklärte, und damals beendetest du ein Porträt von mir, das mir das Wunder der Schönheit offenbarte. In einem Augenblick des Wahnsinns, und ich weiß noch jetzt nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht, sprach ich einen Wunsch aus, vielleicht würdest du es ein Gebet nennen.“

„Ich erinnere mich! Oh, wie gut erinnere ich mich! Nein! so etwas ist unmöglich. Das Zimmer ist feucht. Die Leinwand ist stockig geworden. In den Farben, die ich verwandte, war irgendein mineralisches Gift enthalten. Ich sage dir, so etwas ist unmöglich.“

„Pah, was ist unmöglich?“ murmelte der junge Mann, ging zum Fenster und preßte seine Stirn an die kalte, nebelfeuchte Scheibe.

„Du sagtest mir, du hättest es zerstört.“

„Ich habe mich geirrt. Es hat mich zerstört.“

„Ich kann's nicht glauben, daß es mein Bild ist.“

„Kannst du dein Ideal nicht darin erkennen?“ fragte Dorian bitter.

„Mein Ideal, wie du es nennst…“

„Wie du es nanntest.“

„Es hatte nichts Schlimmes in sich, nichts Schändliches. Du warst für mich ein Ideal, wie ich ihm nie wieder begegnen werde. Dies ist das Gesicht eines Fauns.“

„Es ist das Gesicht meiner Seele.“

„Jesus, mein! Was für ein Ding habe ich angebetet! Es hat die Augen eines Teufels.“

„Jeder von uns hat Himmel und Hölle in sich, Basil“, rief Dorian mit einer wilden, verzweifelten Gebärde.

Hallward wandte sich wieder dem Bilde zu und starrte es an. „Mein Gott! Es ist wahr,“ rief er aus, „und das hast du aus deinem Leben gemacht und danach also mußt du noch schlechter sein, als die es ahnen, die gegen dich sprechen.“ Er hielt das Licht wieder dicht an die Leinwand und musterte sie scharf. Die Oberfläche schien ganz unzerstört und so, wie sie aus seiner Hand gekommen war. Von innen also war die Fäulnis und das Entsetzliche hervorgedrungen. Durch einen sonderbaren inneren Zeugungsvorgang fraß der Aussatz der Sünde langsam das ganze Bildnis hinweg. Die Verwesung eines Leichnams in einem feuchten Grabe konnte nicht so grauenvoll sein.

 

Seine Hand zitterte und die Kerze fiel aus dem Leuchter auf den Boden und lag rauchend da. Er trat mit dem Fuß darauf und erstickte sie. Dann warf er sich selbst in den wackligen Stuhl vor dem Tische und vergrub das Gesicht in seinen Händen.

„Großer Gott, Dorian, was für eine Lehre! Was für eine furchtbare Lehre!“ Es kam keine Antwort, aber er konnte den jungen Mann am Fenster schluchzen hören. „Bete, Dorian, bete“, sagte er leise. „Was war es doch, was man uns in der Kindheit hersagen gelehrt hat? ‚Führe uns nicht in Versuchung! Vergib uns unsere Sünden! Nimm unsere Missetat von uns!‛ Wir wollen das zusammen aufsagen. Das Gebet deines Stolzes ist erhört werden. Das Gebet deiner Reue wird auch erhört werden. Ich habe dich zu sehr geliebt. Ich bin dafür bestraft worden. Du hast dich selbst zu sehr geliebt. Wir haben beide unsere Strafe.“

Dorian Gray wandte sich langsam um und sah ihn mit tränenschimmernden Augen an. „Es ist zu spät, Basil“, flüsterte er.

„Es ist nie zu spät, Dorian. Wir wollen niederknien und versuchen, ob wir uns nicht an ein Gebet erinnern können. Steht nicht irgendwo ein Vers: ‚Und wären deine Sünden wie Scharlach, ich will sie weiß machen wie Schnee?‛“

„Solche Worte haben für mich keinen Sinn mehr.“

„Still! Sage nicht so etwas. Du hast genug Böses getan im Leben. Mein Gott! Siehst du nicht, wie uns das fürchterliche Ding anstiert?“

Dorian Gray blickte nach dem Bild, und plötzlich überkam ihn ein unbezwingliches Haßgefühl auf Basil Hallward, als sei er ihm von dem Bildnis auf der Leinwand eingeflößt, von diesen grinsenden Lippen in sein Ohr gewispert worden. Die wilde Zornwut eines gehetzten Tieres kochte in ihm, und er haßte den Mann, der da an dem Tisch saß, mehr als er in seinem ganzen Leben irgend etwas gehaßt hatte. Er spähte wild um sich. Auf der Platte der bemalten Truhe, die ihm gegenüberstand, glitzerte etwas. Sein Blick fiel darauf. Er erkannte, was es war. Ein Messer war's, das er vor einigen Tagen mit hinaufgenommen hatte, um ein Stück Schnur zu durchschneiden, und das er wieder mit herunterzunehmen vergessen hatte. Er ging langsam darauf zu und mußte dabei an Hallward vorüber. Sobald er hinter ihm stand, ergriff er das Messer und drehte sich um. Hallward rührte sich in seinem Stuhl, als wollte er soeben aufstehen. Er stürzte sich auf ihn und bohrte ihm das Messer tief in die Schlagader hinter dem Ohr, preßte den Kopf des Mannes auf den Tisch herunter und stieß immer und immer wieder zu.

Man hörte ein unterdrücktes Röcheln und den fürchterlichen Ton eines Menschen, der in seinem Blut erstickt. Dreimal schlugen die krampfhaft ausgestreckten Arme um sich, und die Hände fuhren mit eigentümlich steifen Fingern durch die Luft. Er stieß noch zweimal zu, aber der Mann rührte sich nicht mehr. Etwas begann auf den Boden zu tröpfeln. Er wartete einen Augenblick und drückte den Kopf immer noch nach unten. Dann warf er das Messer auf den Tisch und horchte.

Er konnte nichts hören, als das Tropf-Tropf auf den fadenscheinigen Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis an den Treppenabsatz. Das Haus war vollständig ruhig. Niemand war wach. Über das Geländer gebeugt, stand er ein paar Augenblicke da und forschte hinab in den schwarzen brodelnden Schacht von Dunkelheit. Dann zog er den Schlüssel ab, ging in das Zimmer zurück und schloß sich darin ein.

Das Wesen saß noch immer in dem Stuhl und hing mit gebeugtem Kopf und gekrümmtem Rücken und langen phantastischen Armen über den Tisch. Wäre nicht der rote, klaffende Riß im Nacken gewesen und die dunkle, geronnene Lache, die sich nach und nach auf dem Tisch vergrößerte, so hätte man glauben können, der Mann schlafe nur.

Wie schnell das alles geschehen war! Er fühlte sich merkwürdig ruhig, ging zur Balkontür, öffnete sie und trat hinaus. Der Wind hatte die Nebeltücher auseinandergeblasen, und der Himmel sah aus wie der Schweif eines ungeheuren Pfaus, der mit Myriaden goldener Augen bestirnt war. Er blickte hinab und sah, wie der Polizist seine Runde machte und das lange Streiflicht seiner Laterne über die Türen der schweigsamen Häuser gleiten ließ. Das rotgelbe Licht einer vorbeitrödelnden Droschke glomm an der Straßenecke auf und verschwand wieder. Ein Weib in einem flatternden Kopftuch schob sich langsam am Gitter des Platzes vorbei und taumelte im Gehen. Dann und wann stand sie still und sah zurück. Auf einmal begann sie mit heiserer Stimme zu singen. Der Schutzmann schlenderte über den Damm her und sagte etwas zu ihr. Sie humpelte lachend weiter. Ein scharfer Luftzug fegte über den Platz. Die Gasflammen zuckten und wurden blau, und die entlaubten Bäume schüttelten ihr schwarzes Geäste hin und her, das wie ein Eisengeflecht aussah. Ihn fröstelte und er trat, das Fenster schließend, wieder zurück.

Als er bei der Türe war, drehte er den Schlüssel und öffnete sie. Er blickte den Ermordeten mit keinem Blicke mehr an. Er empfand, daß das Geheimnis der ganzen Sache darin beruhe, sich die Sachlage nicht zu vergegenwärtigen. Der Freund, der das verhängnisvolle Bild gemalt hatte, von dem all sein Elend herrührte, war aus seinem Leben verschwunden. Das war genug.

Dann fiel ihm die Lampe ein. Es war eine ziemlich merkwürdige maurische Arbeit, mattes Silber mit eingelegten Arabesken aus dunkelpoliertem Stahl und besetzt mit ungeschliffenen Türkisen. Sie mochte vielleicht von seinem Diener vermißt werden und er könnte danach fragen. Er zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück und nahm sie vom Tisch. Dabei mußte er die tote Gestalt sehen. Wie ruhig sie war! Wie furchtbar weiß die langen Hände aussahen! Es schien eine gräßliche Wachsfigur zu sein.

Er schloß die Türe hinter sich und schlich langsam die Treppe hinunter. Das Holz knarrte und schien wie vor Schmerz aufzustöhnen. Er blieb einige Male stehen und wartete. Nein, alles war still. Er hörte nur den Widerhall seiner eigenen Schritte.

Als er in seinem Bibliothekszimmer war, erblickte er die Tasche und den Rock in der Ecke. Die mußten irgendwo verborgen werden. Er öffnete einen Geheimschrank, der in der Holztäfelung war, in dem er seine eigenen Verkleidungen aufbewahrte, und schob die Sachen hinein. Er konnte sie später leicht einmal verbrennen. Dann zog er seine Uhr. Es war zwanzig Minuten vor zwei.

Er setzte sich und begann nachzudenken. Jahr für Jahr – fast jeden Monat – werden in England Leute gehenkt für so etwas, wie er soeben getan hatte. Irgendeine wahnwitzige Mordlust hatte in der Luft gelegen. Irgendein blutroter Stern war der Erde zu nahe gekommen… Und doch, wie wollte man es ihm beweisen? Basil Hallward hatte das Haus um elf Uhr verlassen. Niemand hatte ihn noch einmal wiederkommen sehen. Die meisten Diener waren in Selby Royal. Sein eigener Diener war schlafen gegangen… Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren, und zwar mit dem Mitternachtszug, wie es seine Absicht gewesen war. Bei seinen merkwürdigen Gewohnheiten, sich zurückzuziehen, würden Monate vergehen, bevor irgendein Verdacht entstehen würde. Monate! Alle Spuren konnten lange vorher getilgt sein.

Ein plötzlicher Einfall durchzuckte ihn. Er zog seinen Pelz an, setzte seinen Hut auf und ging in die Vorhalle hinaus. Dort blieb er stehen, weil er den langsamen, schweren Tritt des Schutzmanns draußen auf dem Pflaster hörte und den tanzenden Widerschein seiner Blendlaterne im Türfenster sah. Er wartete und hielt den Atem an.

Nach einigen Augenblicken schob er den Riegel zurück und schlüpfte hinaus, das Tor ganz leise hinter sich schließend. Dann zog er die Klingel. Nach etwa fünf Minuten erschien sein Diener, halb angezogen und sehr verschlafen.

„Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis“, sagte er eintretend und ging die Stufen hinauf; „aber ich habe meinen Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?“

„Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr“, sagte der Mann mit einem blinzelnden Blick auf die Uhr.

„Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie müssen mich morgen um neun Uhr wecken. Ich habe zu tun.“

„Zu Befehl, gnädiger Herr.“

„War jemand heute abend hier?“

„Herr Hallward, gnädiger Herr. Er hat hier bis elf Uhr gewartet und ging dann, um seinen Zug nicht zu versäumen.“

„Es tut mir leid, daß ich ihn nicht getroffen habe. Sollen Sie mir etwas bestellen?“

„Nein, gnädiger Herr, nur, daß er von Paris schreiben würde, wenn er Sie im Klub nicht treffen sollte.“

„Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen um neun zu wecken.“

„Nein, gnädiger Herr!“

Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln durch den Torweg die Dienertreppe hinab.

Dorian Gray warf Hut und Stock auf den Tisch und trat ins Bücherzimmer. Eine Viertelstunde lang ging er auf und ab, biß sich auf die Lippen und grübelte. Dann nahm er das blaue Adreßbuch von einem Regal und begann zu blättern. „Alan Campbell, Hertford Street 152, Mayfair.“ Ja, das war der Mann, den er brauchte.

Vierzehntes Kapitel

Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener mit einer Tasse Schokolade auf einem Servierbrett herein und öffnete die Fensterläden. Dorian lag auf der rechten Seite, eine Hand unter seiner Wange und schlief ganz friedlich. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder Lernen müde geworden ist.

Der Mann mußte ihn zweimal an der Schulter berühren, bevor er aufwachte, und als er die Augen öffnete, huschte ein leichtes Lächeln über seine Lippen, als wäre er von einem entzückenden Traum befangen gewesen. Aber er hatte gar nicht geträumt. Seine Nacht war weder von Bildern der Freude noch des Grauens gestört worden. Doch die Jugend lächelt ohne Grund. Das ist einer ihrer besonderen Reize.

Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann seine Schokolade zu schlürfen. Die matte Novembersonne strömte in das Zimmer. Der Himmel war wolkenlos, eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war fast wie ein Maimorgen.

Allmählich schlichen die Vorgänge der vergangenen Nacht auf lautlosen, blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn und bauten sich dort mit furchtbarer Deutlichkeit wieder auf. Er erschauerte bei dem Gedächtnis an alles, was er durchlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte in ihm derselbe sonderbare Haß auf Basil Hallward zurück, der ihn dazu getrieben hatte, ihn zu töten, als er im Stuhl saß, er wurde kalt vor Wut. Der Tote saß noch immer da oben und jetzt dazu im Sonnenlicht. Wie schrecklich das war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit, nicht an den Tag.

Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig würde, wenn er über das brütete, was er hinter sich hatte. Es gibt Sünden, deren Reiz mehr in der Erinnerung liegt als in der Begehung, seltsame Siege, die mehr dem Stolz Genüge tun als der Leidenschaft und die dem Geist ein Lustgefühl geben, das stärker ist als jede Wonne, die sie Sinnen verschaffen oder jemals verschaffen können. Aber diesmal war es keine von diesen. Dies war eine, die man aus dem Geiste verjagen, die man mit einem Opiat vergiften, die man ersticken mußte, da sie einen sonst selbst ersticken würde.

Als es halb schlug, fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, stand dann rasch auf und zog sich beinahe mit noch größerer Sorgfalt an, als gewöhnlich, indem er die größte Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner Krawatte und seiner Nadel verwandte und seine Ringe mehr als einmal wechselte. Er verbrachte auch beim Frühstück längere Zeit, kostete von den verschiedenen Gerichten, sprach mit seinem Bedienten über neue Livreen, die er der Dienerschaft in Selby machen lassen wollte, und sah seine Briefschaften durch. Bei einigen Zuschriften lächelte er. Drei ödeten ihn an. Einen Brief las er mehrmals durch und zerriß ihn dann mit einem leichten Ärger in seinen Mienen. „Was für ein gräßliches Ding das Gedächtnis einer Frau ist“, hatte Lord Henry einmal gesagt.

Als er seine Schale schwarzen Kaffee getrunken hatte, trocknete er die Lippen langsam an seiner Serviette ab, gab dem Diener ein Zeichen zu warten, ging zum Schreibtisch hinüber, setzte sich und schrieb zwei Briefe. Einen steckte er in die Tasche, den anderen reichte er dem Diener.

„Bringen Sie den nach Hertford Street 152, Francis, und wenn Herr Campbell nicht in der Stadt ist, lassen Sie sich seine Adresse geben.“

Sobald er allein war, zündete er sich eine Zigarette an und begann auf einem Blatt Papier Skizzen zu machen, zeichnete zuerst Blumen, dann Architekturstücke und dann menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er, daß jedes Gesicht, das er entwarf, eine phantastische Ähnlichkeit mit Basil Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf, ging zum Bücherschrank und nahm auf gut Glück einen Band heraus. Er war fest entschlossen, an das Geschehene nicht eher zu denken, als bis es unbedingt notwendig war.

 

Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf den Titel des Buches. Es waren Gautiers „Emaux et Camées“, Charpentiers Ausgabe auf japanischem Papier, mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus zitronengelbem Leder mit einem Blinddruckmuster von goldenem Laubwerk und Granatäpfeln in Punktmanier. Es war ein Geschenk Adrian Singletons. Als er darin blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand Lacenaires, die kalte gelbe Hand „du supplice encore mal lavée“, mit ihren rötlichen Flaumhärchen und ihren „doigts de faune“. Er blickte auf seine eigenen weißen, spitzen Finger, schauderte unwillkürlich zusammen, las dann weiter, bis er zu den lieblichen Versen auf Venedig kam.

 
Sur une gamme chromatique,
Le sein de perles ruisselant,
La Vénus de l'Adriatique
Sort de l'eau son corps rose et blanc.
 
 
Les dômes, sur l'azur des ondes
Suivant la phrase au pur contur,
S'enflent comme des gorges rondes
Que soulève un soupir d'amour.
 
 
L'esquif aborde et me dépose,
Jetant son amarre au pilier,
Devant une façade rose,
Sur le marbre d'un escalier.
 

Wie entzückend die Verse waren! Wenn man sie las, hatte man die Empfindung, durch die grünen Wasserstraßen dieser rot- und perlfarbigen Stadt zu gleiten, in einer schwarzen Gondel mit silbernem Schnabel und schleppenden Vorhängen. Schon die Zeilen sahen so aus wie die geraden, türkisblauen Kiellinien, die einem folgten, wenn man nach dem Lido hinausrudert. Die plötzlichen Farbenblitze erinnerten ihn an den Schimmer jener Vögel mit opal- und regenbogenfarbenen Hälsen, die um den schlanken, wabenartig durchlöcherten Kampanile flattern oder mit prächtiger Anmut durch die düstern, staubigen Arkaden trippeln. Zurückgelehnt mit halb geschlossenen Augen sagte er immer und immer wieder zu sich: —

 
Devant une façade rose,
Sur le marbre d'un escalier.
 

Das ganze Venedig war in diesen zwei Versen enthalten. Er dachte an den Herbst, den er dort verbracht hatte, und eine himmlische Liebelei, die ihn zu wahnsinnigen, entzückenden Torheiten getrieben hatte. Es gab Romantik in jedem Erdenwinkel. Aber Venedig hatte noch wie Oxford den Hintergrund für Romantik bewahrt, und für den wahren Romantiker ist der Hintergrund alles oder fast alles. Basil war einen Teil der Zeit bei ihm gewesen und war ganz wild vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme Basil! Was für eine schreckliche Art, so zu sterben!

Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen. Er las von den Schwalben, die aus- und einfliegen in dem kleinen Café zu Smyrna, wo die Hadjis sitzen und ihre Bernsteinperlen durch die Hand laufen lassen, und wo die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten Pfeifen rauchen und ernsthaft miteinander sprechen: er las von dem Obelisk auf der Place de la Concorde, der in seiner vereinsamten, sonnenlosen Verbannung granitene Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen, lotosbedeckten Nil, wo die Sphinxe sind, und rosenrote Ibisse und weiße Geier mit goldenen Klauen und Krokodile mit kleinen Beryllaugen, die durch den grünen, dampfenden Schlamm dahinkriechen: er fing an, den Versen nachzusinnen, die ihre Musik aus Marmor locken, der von Küssen fleckig geworden ist, und die uns von der sonderbaren Statue erzählen, die Gautier einer Altstimme vergleicht, von dem „monstre charmant“, das in dem Porphyrsaal des Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel seinen Händen das Buch. Er wurde nervös, und ein gräßlicher Angstanfall schüttelte ihn. Was nun tun, wenn Alan Campbell nicht in England war? Tage könnten möglicherweise verstreichen, bevor er zurückkäme. Vielleicht weigerte er sich, zu kommen. Was sollte er dann tun? Jeder Augenblick war von tödlicher Bedeutung.

Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf Jahren – sogar fast unzertrennlich. Dann hatte die Intimität plötzlich ein Ende. Wenn sie sich jetzt in Gesellschaft trafen, war es nur noch Dorian Gray, der da lächelte, niemals Alan Campbell.

Er war ein außerordentlich begabter junger Mann, wenn er auch kein eigentliches Verhältnis zu den sichtbaren Künsten hatte, und der geringe Sinn für Poesie, den er besaß, vollständig von Dorian herrührte. Die geistige Leidenschaft, die ihn beherrschte, erstreckte sich nur auf die Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil seiner Zeit mit Arbeiten im Laboratorium verbracht und hatte sein Examen in den Naturwissenschaften mit vorzüglich bestanden. Noch jetzt war er dem Studium der Chemie ergeben und hatte ein eigenes Laboratorium, in das er sich häufig den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum großen Kummer seiner Mutter, die sich darauf verbissen hatte, daß er für das Parlament kandidieren sollte, und die eine unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker sei ein Mensch, der Rezepte anfertige. Indessen war er ein ausgezeichneter Musiker und spielte Geige und Klavier besser als die meisten Dilettanten. Die Musik war es denn auch wirklich, die Dorian Gray und ihn zueinander gebracht hatte – die Musik und die unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian ausüben konnte, wenn er wollte, und auch oft ausübte, ohne es zu wissen. Sie hatten sich bei Lady Berkshire an dem Abend kennengelernt, als Rubinstein dort spielte, und man sah sie von da an immer zusammen in der Oper und überall, wo es gute Musik gab. Achtzehn Monate dauerte diese Freundschaft. Campbell war regelmäßig entweder in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie für viele andere war Dorian Gray die Verkörperung alles dessen, was wunderbar und bezaubernd im Leben ist. Ob zwischen ihnen ein Streit vorgefallen war oder nicht, wußte kein Mensch. Aber plötzlich bemerkten die Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich trafen, und daß Campbell jede Gesellschaft frühzeitig verließ, in der Dorian anwesend war. Er war auch verändert – bisweilen merkwürdig melancholisch, schien kaum noch Musik hören zu können, spielte nie mehr selbst und gab, wenn man ihn dazu aufforderte, als Entschuldigung an, daß ihn die Wissenschaft so stark in Anspruch nähme, daß er keine Zeit mehr zum Üben habe. Und das war auch der Fall. Er schien jeden Tag mehr Interesse für biologische Studien zu gewinnen, und sein Name erschien ein- oder zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung mit gewissen außergewöhnlichen Experimenten.

Das war der Mann, auf den Dorian Gray wartete. Jede Sekunde blickte er auf die Uhr. Als Minute um Minute verstrich, wurde er furchtbar aufgeregt. Schließlich stand er auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen wie irgendeine schöne Bestie im Käfig. Er holte weiten Schrittes, fast sprunghaft, aus und trat leise auf. Seine Hände waren eigentümlich kalt.

Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien ihm mit bleiernen Füßen zu schleichen, während er von ungeheuren Wirbelwinden zum zackigen Grat einer schwarzen Kluft oder eines Abgrundes hingefegt wurde. Er wußte, was dort seiner harrte; er sah es und preßte schaudernd mit feuchten Händen seine brennenden Lider zusammen, als wolle er sein Gehirn der Sehkraft berauben und die Augäpfel in ihre Höhlen zurückdrängen. Es war umsonst. Das Gehirn hatte seine eigene Nahrung, mit der es sich mästete, und die durch den Schrecken grotesk gemachte Einbildungskraft krümmte sich vor Schmerz wie ein lebendes Wesen, tanzte wie eine widerwärtige Marionette in einer Schaubude und grinste durch bewegliche Masken hindurch. Dann blieb auf einmal die Zeit für ihn stehen. Ja, dieses blinde, langsamatmende Wesen kroch nicht mehr, und da sie tot war, stürzten sich gräßliche Gedanken mit Blitzesschnelle über ihn hin und zerrten eine scheußliche Zukunft aus ihrem Grabe und zeigten sie ihm. Er starrte darauf hin. Ihre Entsetzlichkeit versteinerte ihn.