Die Venusische Trilogie / Engel weinen nicht

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Vor unserer Haustür stand am Weihnachtsmorgen ein großer Flechtkorb, randvoll mit Schinken, Hühnchen, Plätzchen, Süßigkeiten, Früchten und Nüssen. Es war das erste Obst und das erste Konfekt, das ich in diesem Hause gesehen hatte. Es kam von der amerikanischen Heilsarmee.

Dann war es für uns Zeit, unsere Geschenke auszupacken. Von Tante Ellen bekam ich einen kleinen Spielzeugherd. Mr. Dow, unser Nachbar von gegenüber, schenkte mir ein Spielzeug-Messingbettchen, in genau der richtigen Größe für das Geschenk von Großmutter, einer Babypuppe. Ebenfalls von Großmutter waren Handschuhe, eine Strumpfhose und ein Schal mit Kapuze. Das Malbuch und die Stifte kamen von Merle und Ben. Ich liebte das Malen, es war sehr kreativ.

Donny und Jim bekamen Spielzeugautos und -gewehre, ein paar Bauklötze und einen Holzbausatz. Aus Bauklötzen Häuser zu bauen machte Spaß, doch die Babypuppe von Großmutter bedeutete mir mehr als alles andere.

Unser Weihnachtsessen aus Hühnchen, Braten, Gebäck und Blaubeerstrudel war die beste Mahlzeit, an die ich mich erinnern kann, seit ich in Chattanooga angekommen war.

Die nächsten paar Jahre lebte ich das Leben eines gewöhnlichen Kindes. Ich war sehr klein, und das Leben war nicht sehr bedeutungsvoll. Mein geliebtes Hündchen wurde vor unserem Haus von einem Auto überfahren; wahrscheinlich machte ich all das durch, was kleine Kinder nun mal so durchmachen.

Ich genoß Chattanooga. Es war eine schöne Stadt mit viel Grün, umgeben von dicht bewaldeten Bergen und Hügeln. Ich erfuhr bald, daß eine berühmte Bürgerkriegsschlacht im Osten, in Missionary Ridge, stattgefunden hatte. Aussichtsberge und viele andere Gebiete der Region bildeten touristische Attraktionen.

Was mich an Chattanooga am meisten störte, war die Einstellung der Leute gegenüber den schwarzen Menschen. Die Farbigen hatten ihren eigenen Stadtteil namens „Niggertown“. Und in unserer Wohnsiedlung lebte keine einzige schwarze Familie. Das war in den frühen 50er Jahren.

Aus Erfahrung wußte ich, was für einen wichtigen Teil in unserer Bruderschaft der Planeten das schwarze Volk ausmachte. Sie können mit Recht stolz auf ihr Erbe sein. Viele Male mußte ich mich zurückhalten, etwas zu sagen, wenn eine negative Bemerkung gemacht wurde. Doch wer würde ein kleines Kind, das eine Rasse verteidigt, verstehen oder tolerieren? Ich hätte mir nur selbst mehr Probleme eingehandelt. So lernte ich, meine Ohren vor den Schmähreden gegen das schwarze Volk zu verschließen.

Ich lebte schon fast ein Jahr in Chattanooga, als ich das erste Mal Donna, meine irdische Mutter, kennenlernte. Ich hatte mich oft gefragt, wann es geschehen würde, und eigentlich freute ich mich wirklich darauf. Ich sorgte mich nie, daß sie erkennen könnte, daß ich nicht Sheila war.

Eines Nachts konnte ich tief im Schlaf undeutlich Großmutter und eine andere Frau mit gedämpfter Stimme im Flur sprechen hören. War es ein Traum? Ich hatte nicht die Energie, aufzustehen und nachzusehen.

Dann spürte ich sie nahe bei mir, sie lag neben mir im Bett, instinktiv schmiegte ich mich an sie und legte meine Arme um ihren Hals. So erwachte ich am Morgen.

Große blaue Augen voller Liebe schauten in die meinen, und Glücksgefühle stiegen in mir auf. Meine Arme lagen noch um ihren Hals, und ich wußte, daß sie wartete, bis ich aufwachte, glücklich, mich so nahe zu haben. Sie liebte mich!

„Schön, schön, endlich bist du aufgewacht, Schlafmützchen!“

„Mami!“ schrie ich. Ich drückte sie und kuschelte meinen Kopf an ihren Hals.

„Wie geht’s meiner Kleinen?“ fragte sie mit gebrochener Stimme, mich fest an sich drückend.

„Ich bin so froh, daß du hier bist, Mami.“

Donna fing an zu weinen, und ich auch.

Sie wollte mich zu einem besonderen Anlaß irgendwohin mitnehmen, sagte sie und fragte, ob ich denn ein besonders schönes Kleid zum Anziehen hätte. Ich sagte ja. Tief im Innern fühlte ich mich mit ihr verwandt.

„Ich habe mir all deine Sachen angesehen“, sagte sie, „und ich habe bemerkt, daß Großmutter dich wirklich immer sehr schön kleidet. Du hast 27 Kleider!“ Sie hatte sie gezählt, jedes einzelne.

„Ich weiß nicht, wie viele Mädchen 27 Kleider haben. Ich habe selbst nicht so viele.“

Ich erzählte ihr, daß Großmutter in die Stadt ging und sich in den Schaufenstern die neueste Mode ansah. Dann kam sie heim und machte mir diese Kleider, wobei sie Reste und Materialien verwendete, die von den Kleidern übriggeblieben waren, die sie für andere Leute nähte. So blieb ich immer auf dem neuesten Stand der Mode. Dank Großmutter hatte ich in der Schule einen Preis als bestgekleidetes Mädchen bekommen.

Nach dem Frühstück gingen Mami und ich in die Stadt zum Einkaufsbummel. Ein Regenmantel war genau das, was ich noch brauchte, beschloß sie, doch erst Stunden später fanden wir schließlich einen, den ich mochte – in einem wunderschönen Himmelblau anstelle von Gelb oder Schwarz.

Dann kehrten wir in einem einfachen kleinen Speiselokal ein, in dem ich einen Hamburger, Pommes Frites und eine Limo verzehrte. Dies war meine erste Mahlzeit in einem Restaurant, seit Onkel Odin mich in die amerikanische Küche eingeführt hatte. Es war eine echte Wonne.

Ich genoß es, mit Mami zusammen zu sein, und ich fühlte mich vollkommen wohl. Irgendwie vermittelte sie mir das Gefühl, als ob ich tatsächlich ihr eigenes besonderes kleines Mädchen sei. Es war eine Wärme und Nähe, die ich auf der Erde noch nicht erfahren hatte; ich war froh darüber. Und ich zweifelte nicht daran, daß wir beide schon viele Leben zusammen verbracht hatten.

Zu Hause fing ich sofort an, in dem Malbuch zu arbeiten, das Mami mir mitgebracht hatte – eines, in dem Zahlen für die jeweiligen Farben in jedes Feld eingedruckt sind. Als ich ihr meine erste Seite zeigte, war sie erstaunt. Woher ich so gut lesen könne, wollte sie wissen. Alle Farben waren richtig. Großmutter und Mami unterhielten sich darüber eine Weile, während ich still blieb, weil ich nicht wußte, was ich sagen sollte.

Mami besuchte uns ab und an während der nächsten Jahre, gewöhnlich einmal im Jahr, immer wenn sie in der Lage war, für eine Weile von C.L. wegzukommen. Nach dem, was ich hörte, wurde das Leben mit C.L. härter.

Im Nu hing ich wirklich sehr an meiner neuen Mami. Während einer ihrer seltenen Besuche weinte ich den ganzen Abend lang, als sie mit Freunden ausging, statt die Zeit mit mir zu verbringen. Als Kind war ich unvernünftig. Die tiefen Gefühle, die ich für sie hegte, die Wärme, die ich fühlte, immer wenn ich ihr nahe war, verwirrten mich manchmal. Was war mit dieser Seele, welche Erfahrungen hatten wir in vergangenen Leben geteilt, daß ich so für sie empfand? Jahre würden vergehen, bis ich es endlich wußte.

Als ich zehn Jahre alt war, fing mein Leben an, sich zu verändern. Ich vermute, das lag daran, daß ich mir bewußter wurde, was in der Welt um mich herum geschah. Bis dahin hatte ich gespielt und mich vergnügt, so weit dies eben ging. Nun war ich stark am Leben interessiert; ich befand mich zwischen Kindheit und Pubertät.

Das Leben zu Hause war schön und friedlich. Ich freute mich immer darauf, wenn Merle und Ben ihre Band mit nach Hause brachten, um zu üben und Spaß zu haben. Ben spielte das Schlagzeug und Merle den Bass. Dann konnte ich tanzen.

Wenn Ben Gitarre für mich spielte, übte ich Ballett. Und immer, wenn Großmutter mich tanzen sah, war sie sicher, ich würde eine Ballerina werden.

Ich entdeckte, daß ich beim Tanzen fähig war, für eine Weile ich selbst zu sein, mein wirkliches Selbst. Wenn die Musik spielte und ich mich in ihren Rhythmen verlor, war ich wieder Omnec. Wie wunderbar wäre es doch, dachte ich oft, wenn meine Familie nicht so arm wäre. Dann hätten wir vielleicht eine Harfe.

Ich genoß es, mit den Kindern in unserer Nachbarschaft zu spielen. Wir gründeten einen Club, tranken Limonade und aßen Plätzchen. Wir spielten Vater-Mutter-Kind, Zirkus, Dodgeball und Softball zusammen. Während des Sommers gab es nur wenige Tage, an denen wir nicht sehr lange draußen blieben, oft ging es bis Mitternacht. Wir rannten im Bereich unserer Siedlung die Straße auf und ab, während die Erwachsenen zusammensaßen und redeten.

Gewöhnlich vermied ich Wettkämpfe, bei denen es nur ums Gewinnen ging. Es störte mich, daß die Gewinner die Verlierer verspotteten und sich über sie lustig machten, die ihrerseits anfingen zu kämpfen. Das Leben war ernst genug; Spiele sollten Spaß machen. Wenn es zu Gruppenspielen kam, erwies ich mich fast immer als Anführerin. Das lag vielleicht daran, daß mein Kopf immer von neuen und aufregenden Ideen überquoll, und da ich ein offenherziger Mensch bin, liebte ich es mitzuteilen, was ich wußte und fühlte.

Selten empfand ich mich gegenüber den anderen Kindern als kritisch. Ich bemühte mich immer darum, mich mit den Außenseitern anzufreunden, sie gleich zu behandeln, was mich manchmal selbst zur Außenseiterin machte. Und ich begann, mich weniger und weniger für meine Lage selbst zu bedauern. Ich war zu beschäftigt damit, viele neue Lektionen zu lernen.

Beim Spielen mit den Kindern in unserer Nachbarschaft lernte ich eine Menge über die Welt und die Erwachsenen. Die Einstellungen und Gewohnheiten der Kinder rührten direkt von denen ihren Eltern her statt von ihren eigenen Erfahrungen. Sie fluchten wie ihre Eltern und wiederholten, was ihre Eltern über Politik und über die Schwarzen sagten. Einige der Kinder haßten den Präsidenten, weil er nicht derselben Partei angehörte wie ihre Eltern. Die Russen waren alle schlecht, weil sie planten, uns zu bombardieren. Und alle wollten groß werden und in die Armee gehen, weil Daddy und Opa und all die Onkel hingegangen waren, um Amerika zu retten. Genauso hatten die Erwachsenen die Eigenschaften ihrer Eltern übernommen.

 

Es schien, daß die gläubigen Christen den Schwarzen gegenüber nicht so vorurteilsbeladen waren wie alle anderen. Großmutter zum Beispiel stellte Essen für die obdachlosen Eisenbahntramps beiseite, die gelegentlich an unsere Türe klopften. Sie meinte, solange sie großzügig zu anderen war, würde Gott großzügig zu ihr sein. Von ihr lernte ich eine wertvolle Lektion in Großzügigkeit. Ich lernte, daß derjenige, der gibt, immer das hat, was er braucht. Ich lernte auch, daß Erwachsene sehr leicht durch das beeinflußbar waren, was andere sagten oder dachten. Und jeder mischte sich in das Leben des anderen ein.

Ich ärgerte mich darüber, wenn man mir die ganze Zeit sagte, was ich zu tun hätte, doch ich mußte meinen Platz als Kind akzeptieren. Wie seltsam, daß den Kindern kaum Intelligenz und wenig Wahlfreiheit zugestanden wurde. Was die Erwachsenen sagten, war Gesetz und durfte nicht hinterfragt werden.

Von Kindern erwartete man, daß sie Abbilder ihrer Eltern wurden, keine Individuen. Dies war keine Absicht, sondern resultierte aus dem Nichtverstehen, daß jedes Kind eine individuelle Seele ist. Kinder nach ihrem Vater oder einem Verwandten zu benennen, nimmt ihnen ihre Individualität. Jeder Name hat eine charakteristische Schwingung, und Menschen mit den gleichen Namen sind karmisch miteinander verwandt.

Mit der Zeit sah ich, wie extrem negativ die Einstellungen der Leute gegenüber allen anderen außer sich selbst waren. Die Erdenmenschen waren viel egozentrischer, als ich mir das anfangs je vorgestellt hatte.

Eine sehr verbreitete Eigenschaft war die, daß man ein Sieger sein muß oder daß man eine Menge von irgendetwas haben muß – Geld, Talent, Schönheit –, um es in der Welt zu etwas zu bringen. Ich verstand das nicht, und ich brauchte lange, es als Bestandteil dieser Welt zu akzeptieren. Ich wußte, daß solch ein Verhalten eine Menge Leiden mit sich brachte.

Ich sah nicht ein, warum es eine Rolle spielte, ob ein Mensch schön anzuschauen war, weil nur die inneren Qualitäten wirklich zählen. Der physische Körper ist nur eine Schale.

In meinem Leben auf der Erde habe ich nie das Gefühl verloren, eine Außenseiterin zu sein, in einer fremden Welt zu leben. Als junges Mädchen in Chattanooga begegnete ich oft den Gedanken der Menschen auf physische Weise. Ich erledigte oft Besorgungen oder beantwortete Fragen, noch ehe mich jemand gefragt hatte. Dies war für meine Familie verwirrend, und ich mußte davor auf der Hut sein. Ich merkte bald, daß viele Menschen sich vor solchen Dingen fürchteten, die außerhalb ihres Verständnisbereichs lagen. Es schien, daß sie auf alles außerhalb ihres Verständnishorizontes negativ reagierten.

Weil ich jeden Menschen mehr als Seele denn als physischen Körper betrachtete, war ich anders. Ich reagierte kaum auf Zorn oder negative Gefühle, weil Nichtreaktion der einzige Weg ist, den Angriff abzuwehren. Die negative Energie hat dann nichts, wogegen sie sich richten kann und kehrt zu ihrer Quelle zurück. Ein wütender Mensch wird nur noch wütender.

Ich werde wütend, wenn jemand absichtlich versucht, mich oder einen Freund zu verletzen. Ich bin immer für die verfolgten und schikanierten Kinder in unserer Nachbarschaft eingetreten, und ich wurde oft emotional verletzt und weinte, weil ich all die Grausamkeit in der Welt nicht verstehen konnte.

Kommunikation war für mich ein großes Problem. Ich habe immer Schwierigkeiten mit der englischen Sprache gehabt, so beim Buchstabieren und der richtigen Betonung. Bis heute benutze ich oft ein Wort und meine ein anderes, sehr zu meiner eigenen Bestürzung.

Anfangs nahm ich alles wörtlich, was die Leute sagten. Wenn einer meiner Verwandten kurz vor dem Essen zu mir sagte, „geh und wasch’ dir das Gesicht ab“, verwirrte mich das enorm. Die Menschen benutzten die Worte sorglos.

Nachdem Merle und Ben in die Armee eingetreten waren, lebten Großmutter und ich allein, und das Haus war sehr still. Großmutter war während dieser Jahre sehr gut zu mir. Sie hing sehr an ihrer letzten Enkelin. Einst war das Haus voller Kinder gewesen, die es großzuziehen galt – nun gab es nur noch eines. Es war eine große Umstellung für sie.

Als die Schule im Herbst wieder anfing, begann sich das Leben zu Hause zu beruhigen. Dank unserer neuen Lehrerin Mrs. Dodson wurde die Zeit in der vierten Klasse ein äußerst schönes Jahr.

Jeden Tag las sie uns eine Geschichte vor, aber zuerst zog sie ihre lustige Brille auf. Immer wenn sie den Kopf bewegte, zwinkerten die Augen, die auf der Brille angebracht waren. Wir freuten uns jeden Tag darauf.

Dann kam eine Zeit, als Großmutter wegen einer Operation in ein Armeekrankenhaus in Kentucky mußte. Einer ihrer Söhne hatte es arrangiert, daß sie nichts zu bezahlen brauchte. Tante Ellen zog für zwei Wochen ein, um auf mich aufzupassen.

Keine zehn Minuten, nachdem Großmutter gegangen war, zeigten sich Tante Ellen und die Jungen von ihrer niederträchtigen Seite. Tante Ellen war immer nett zu mir, wenn Großmutter in der Nähe war. Nun durfte ich nichts anderes tun, als zur Schule zu gehen und Haushaltsarbeiten zu erledigen. Zur gleichen Zeit genossen ihre beiden Jungen Donny und Jim eine große Menge Freiheit. Sie konnten fast alles tun, was sie wollten.

Großmutters Krankenhausaufenthalt in Kentucky war fast zuende und ich konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Ich fühlte mich sehr glücklich, daß ich mit ihr statt mit jemandem wie Tante Ellen zusammenleben durfte.

Donny und Jim gingen eines Tages recht früh ins Kino, während ich mit Besorgungen in einen Laden geschickt wurde. Als ich zu Hause ankam, fand ich Tante Ellen und unseren Nachbarn vor, wie sie sich gerade mit einem Faß Bier zu einem See aufmachen wollten. Tante Ellen sagte: „Deine Großmutter würde dich nicht in die Vorstellung lassen.“ Ich wußte, daß das nicht stimmte. Großmutter hatte eine Nachricht geschrieben, daß wenn Donny und Jim in die Vorstellung gingen, ich mitgehen könne. „Und du kannst nicht mit uns an den See kommen, weil wir Bier trinken werden“, fuhr sie fort. Tante Ellen verschloß die Haustür und ermahnte mich beim Weggehen, auf der Veranda zu bleiben.

Ich setzte mich auf die Verandatreppe, den Kopf auf beide Arme gestützt und fühlte mich niedergeschlagen. Ich war an diesem Tag nicht wirklich überrascht über die Sonderbehandlung, draußen ausgesperrt zu sein, während Donny und Jim sich im Kino vergnügten. Die ganze Woche war nicht viel besser gewesen. Ich seufzte und fragte mich, was ich den ganzen Tag über tun sollte. Als ich aufschaute, war meine Niedergeschlagenheit wie weggeblasen. Daddy war da! Wahrhaftig Daddy! Da war er, er kam den Bürgersteig herunter auf mich zu. Wie wunderbar war es, ihn gerade am heutigen Tag zu sehen.

„Hallo Liebling, wo ist deine Großmutter?“

„Oh, sie ist im Krankenhaus“, sagte ich. „Sie wird in Kentucky operiert.“

„Und wer paßt auf dich auf?“ fragte er.

“Tante Ellen”, sagte ich, aber sie sei heute am See und ich sei ausgesperrt.

Daddy sah sich um. „Wo sind die Jungen?“ fragte er.

„Sie sind zur Kinovorstellung gegangen“, erklärte ich mit einem Anflug von Traurigkeit.

„Das ist nicht nett. Das begreif’ ich nicht“, sagte er empört. „War Tante Ellen gut zu dir?“

„Hm, nein“, gab ich zu, „sie war wirklich lange Zeit gemein zu mir.“ Ich klagte ihm mein Leid.

Durch ein Seitenfenster gelangte mein Vater ins Haus, ließ mich herein und versprach, daß ich ganz sicher bei ihm bleiben würde, bis Großmutter zurückkehrte. Wir sammelten meine Sachen zusammen und hinterließen eine Nachricht für Tante Ellen bei den Nachbarn. Natürlich war ich begeistert. Aber das war noch nichts, verglichen mit meiner Freude am Montag, als Daddy mich in der Schule in seiner Nachbarschaft anmeldete.

Wir Kinder marschierten gerade zum Spielplatz in der Cherry Street hinüber, als sich jemand von hinten an mich heranschlich und mir auf die Schulter tippte. Ich drehte mich kichernd um und erwartete, eines der Kinder hinter mir zu sehen.

„Das ist meine Mami!“ schrie ich, jubelnd auf- und abhüpfend. Wir umarmten uns. „Wie hast du mich gefunden?“ fragte ich. Das war zu schön, um wahr zu sein. Was für eine Wonne, sie wiederzusehen!

„Oh, deine Großmutter hat mir geschrieben, und ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Tante Ellen sagte, daß du bei deinem Vater bist“, erklärte sie mit einem strahlenden Lächeln. Es war toll, Mami so glücklich zu sehen.

Wir spazierten weiter zum Spielplatz, wo wir uns niederließen, um zu reden. Sie fragte, wie es mir gehe, wie mir die Schule gefalle; ich erfuhr, daß sie und C.L. die Route durch Tennessee genommen hatten, weil sie im Osten ein Restaurant eröffnen wollten. Mami blieb während der Lesestunde, und dann ließ mich unser Lehrer die Schule vorzeitig verlassen. In Peggys und Davids Haus sammelten wir meine Sachen zusammen. Dann gingen wir heim in die Southern Street Nr. 1821. Als sie hörte, wie schlecht ich behandelt worden war, beschloß sie, bei mir zu bleiben, bis Großmutter nach Hause käme. Ich war sehr erleichtert und auch dankbar, daß sie einige zusätzliche Zeit mit uns verbringen würde.

Ganz plötzlich waren Tante Ellen und die Jungen ungewöhnlich freundlich zu mir. Ein paar Tage später, als Großmutter heimkehrte und die ganze Geschichte erfuhr, war sie so aufgebracht, daß sie schwor, mich nie wieder allein bei Tante Ellen zu lassen.

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Omnec als Sheila im Jahre 1959 mit ihrer irdischen Großmutter und ihren Cousins Eddie (hint. li.), Tommy (hint. re.) und Dale (vorne)

Wie immer, wenn Mami ging, weinten wir beide beim Abschied. Meine starke Zuneigung zu ihr war unerklärlich. Es war, als wäre sie schon immer meine Mutter gewesen, denn immer, wenn es Zeit für sie wurde zu gehen, sehnte ich mich danach, bei ihr zu bleiben.

Das ganze Jahr über bis zum folgenden Sommer kam ich immer wieder in Krankenhäuser und Kliniken. Einem Arzt zufolge hatte ich Anämie. Ich war ein kränkliches kleines Mädchen.

Seit ich angefangen habe, irdische Nahrung zu essen, hat mir mein Magen Probleme bereitet. Oft mußte ich wegen Magenschmerzen die Schule verlassen und nach Hause gehen. Das Problem bestand zum Teil darin, daß ich selten eine ausgeglichene Mahlzeit bekam. Es gab kaum genug Eiweiß in meiner Ernährung, um mich am Leben zu erhalten. Meistens aßen wir Kohlehydrate, keine Salate und fast kein Obst. Das gekochte Gemüse war verkocht, und immer wenn wir Fleisch hatten, war es übergar. Unsere Familie war wirklich sehr arm.

Weil ich barfuß herumlief und aufgrund unserer schlechten Ernährung bekam ich Bandwürmer. Kurz darauf hatte ich eine Blinddarmreizung. Aber die meisten meiner Beschwerden und Leiden bestanden in ständigen Erkältungen, Fieberanfällen, Geschwüren, Gerstenkörnern und schrecklichen Magenschmerzen. Vielleicht war all dies ein Teil meiner unbewußten Abwehr gegen die physische Welt.

Physische Schmerzen haben mich nie sehr bekümmert, nicht so sehr wie seelische Schmerzen. Es verletzte mich mehr, wenn jemand zornig oder gemein zu mir war, als wenn sie mir ins Gesicht schlugen.

Ich zeigte niemals, daß ich physisch verletzt war. Ich tat so, als ob nichts wäre, egal wie schlimm der Schmerz war, teilweise, weil ich es als erniedrigend empfand, physische Schmerzen zu haben. Dies ließ mich all die zusätzlichen Schmerzen aushalten, als ich mich dann chronisch unwohl in meinem physischen Körper fühlte.

Es war nicht einfach, in einem physischen Körper zu leben, der immer müde wurde, der jeden Tag schlafen gelegt werden mußte, ob ich es wollte oder nicht. An Gegenstände anzustoßen war schmerzvoll, die Haut zu ritzen war gefährlich und alle Arten von Bakterien attackierten ständig den Körper. Was für ein miserabler Ort diese physische Welt ist, dachte ich oft. Baden, Waschen, Haarekämmen, Zähneputzen, all diese Pflichtaufgaben waren eine Bürde, die ich akzeptieren mußte.

Kaltes Wetter verabscheute ich besonders; es machte mir den physischen Körper und all seine Schmerzen bewußter. Die Beschwerden und Schmerzen des Körpers sind für mich zu einer ganz neuen Dimension des Seins geworden.

Ich war mir dessen zu jener Zeit noch nicht bewußt, aber die sechste Klasse war mein letztes Schuljahr. Wie gewöhnlich wurden uns alle Arten von Dingen beigebracht, die mich nicht interessierten, trotzdem bekam ich meistens sehr gute Noten. Am liebsten mochte ich Kunst, Sport und Theateraufführungen.

Geschichtsunterricht ärgerte mich. Wie konnten so viele Leute stolz auf die Kriege sein, die für die Freiheit geführt worden waren? Kindern wurde die Idee eingeimpft, daß Gewalt und Aufruhr ein sicherer Weg waren, Ziele durchzusetzen. Ich dachte immer, es sollte auch gelehrt werden, daß es andere Wege gibt, Unstimmigkeiten zu überwinden.

 


Das letzte Schuljahr. Omnec ist 14 Jahre alt.

Während dieses Jahres keimte mein Interesse an Jungen auf. Bis dahin war Großmutter immer hinter mir her, um herauszubekommen, ob ich Interesse am anderen Geschlecht zeigte. Schließlich bekam ich selbst Interesse daran.

Meine Cousine Janice und ich liebten es, uns zurechtzumachen, wenn ich die Nacht bei ihr verbrachte. Wir trugen lange Kleider, hochhackige Schuhe und Lippenstift und promenierten so die Straße auf und ab. Großmutter hätte mich umgebracht, wenn sie das rausbekommen hätte.

Meine Freundin Mary war hauptsächlich für mein wachsendes Interesse an Jungen, Herumtreibern und Elvis Presley verantwortlich. Die Musik liebte ich nicht eigentlich, doch sie war ein Bestandteil unseres Beisammenseins.

Marys ältere Schwester Lilly beeinflußte uns stark in Sachen Jungen, Makeup und Erwachsenenwelt. Sie war 16. Mary und Lilly trieben ein verrücktes Spiel miteinander, so jedenfalls empfand ich das zu dieser Zeit. Das war nichts für mich. Lilly spielte einen Jungen, Mary das Mädchen, und dann liebten sie sich.

Es war fast August, als Donna uns wieder schrieb. Alles hatte sich zum Besseren gewendet. Sie und C.L. tranken und stritten nicht mehr und führten nun ein vergnügliches Leben auf der Insel Sanibel an der Küste von Florida bei Fort Meyers. Sie leiteten das Sandcastles Motel. Der Postkarte nach, die sie schickten, schien es ein Paradies zu sein, und ich träumte von dem kilometerlangen Sandstrand und der üppigen tropischen Vegetation.

„Wäre es in Ordnung“, fragten sie, „wenn Sheila ein paar Wochen bei uns bliebe?“

Ich wünschte mir sehnsüchtig, noch am selben Tag loszufahren, aber Großmutter war sich nicht sicher. Ich bettelte und flehte, und wir diskutierten das Pro und Contra tagelang.

Endlich kam der Wendepunkt. Großmutter sagte: „Ich weiß, du liebst deine Mutter und du weinst die ganze Zeit nach ihr, ich denke also, du kannst fahren und sie eine Zeitlang sehen.“

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, so glücklich und aufgeregt war ich. Hurra! Endlich kam ich an einen anderen Ort außerhalb von Tennessee!

Am Tag, an dem Onkel Bob mich zum Busbahnhof fuhr, fühlte ich mich erwachsener als je zuvor. Den ganzen Sommer lang hatte Großmutter Kleider für mich genäht, und heute zog ich mein Lieblingsdress an. Es war ein weißes Kleid, bedruckt mit Blumen in warmem Rot, Orange und Gelb. Es war tailliert, hatte einen ausgestellten Rock und einen tiefen Rückenausschnitt. Und ich trug die schwarzen Lacklederpumps und Strümpfe, die Mami mir geschickt hatte.

Als ich den Bus bestieg, steckte mir meine Cousine Andrea hinter Großmutters Rücken einen Lippenstift zu. Großmutter schniefte und sagte Aufwiedersehen. Ich sah sie an. Ja, sicherlich würde ich diese Frau vermissen, die trotz unserer Armut dafür gesorgt hatte, daß ich alles hatte, was ich brauchte. Ich drückte und küßte sie. Ich liebte sie wirklich.

Der Bus verließ Chattanooga. Ich fuhr allein an einen unbekannten Ort. Ich hoffe, ich sehe diese Gegend nie wieder, dachte ich. Ich fühlte mich sehr erwachsen und selbständig und ich trug roten Lippenstift. Was ich nicht wußte, war, daß mein Leben während dieser ersten Erdenjahre sehr behütet gewesen war. Doch die schlimmste Kraftprobe mit dem Karma stand mir noch bevor ...

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