Die Venusische Trilogie / Engel weinen nicht

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Nach dem Essen besuchten wir an diesem Tag Peggys Mutter Rose und ihre Kinder Jimmy und Janice. Ich fand, daß Janice einfach wunderschön war mit ihren langen blonden Haaren, die ihr über die Schultern fielen. Sie war nur fünf Tage jünger als ich, und wir verstanden uns sehr gut.

„Sheila, laß uns Filmstars spielen“, schlug sie vor.

„Was?“ fragte ich, denn das war etwas Neues für mich.

„Filmstars, weißt du denn gar nichts über sie?“

„Nein“, sagte ich, „ich war noch nie in einem Film.“

„Oh richtig. Du hast draußen auf dem Land gelebt“, erinnerte sich Janice und dachte an Falling Water. „Ich bin Doris Day. Nein – ich will Janet Leigh sein. Du bist Doris Day.“

„Okay“, sagte ich. „Wer ist Doris Day?“

„Schau, hier ist ein Bild von ihr.“ Janice blätterte in einem Magazin und zeigte schließlich auf ein Foto.

„Oh, sie ist süß“, sagte ich, „aber kann ich nicht Marilyn Monroe sein, die hier?“

„Nein, das geht nicht, du siehst nicht aus wie sie. Du bist Doris Day.“

„Okay“, sagte ich.

„Tony Curtis ist mein Freund“, erklärte Janice, „und ich denke, du kannst Dean Martin haben.“

Ich sagte noch einmal okay. Dann begannen wir zu spielen. „Wie machst du das?“ fragte ich.

„Zuerst mußt du dich zurechtmachen. Hier, zieh eins von den Kleidern meiner Mutter an.“

Janice muß sich gewundert haben, warum ich so unbedarft war. Ich schätze, sie schob es auf meinen Aufenthalt auf dem Lande in Falling Water.

Ich fühlte mich lächerlich in dem langen, fließenden Kleid und den hochhackigen Schuhen. Janice legte mir Lippenstift auf, trat einen Schritt zurück und blickte zufrieden drein. „Nun siehst du hübsch aus.“

„Vielen Dank“, sagte ich. „Du siehst auch hübsch aus.“

Dann spielten wir Filmstars. Ich lernte, daß man singt, große Autos hat, in Restaurants ausgeht und eine Menge Geld ausgibt.

Janices Augen leuchteten auf. „Ich sag’ dir was!“ rief sie aus. „Ich werde schauen, ob du mit uns heute Abend in die Vorstellung gehen kannst. Wir wollen ins Kino gehen.“

„Was werden wir sehen?“ fragte ich aufgeregt. Das klang interessant. Filmstars zu spielen war ein dummes Spiel.

„The Blob“, sagte Janice. „Der Film soll sehr gruselig sein. Laß mal sehen, ob du mit uns gehen kannst.“

Janice und ich rannten ins Wohnzimmer. „Peggy, kann Sheila heute Abend mit in die Vorstellung gehen?“ fragte sie. Peggy war Janices ältere Schwester.

„Hm, ich weiß nicht.“ Sie sah Daddy an.

David sagte: „Gut, du kannst mitgehen. Es ist in Ordnung. Hier Janice, hier hast du ein paar Dollar. Du kannst Sheila mit ins Kino nehmen.“

„Das Geld brauche ich nicht“, sagte Janice. „Wir kommen umsonst rein!“

„Wie machst du das denn?“ fragte Daddy.

„Jimmie steht draußen, und wir ducken uns unter seinem Arm, während er für sich bezahlt.“ Jimmie war Janices vierzehnjähriger Bruder.

„Nein, das ist nicht ehrlich. Ihr Mädchen bezahlt bitte“, sagte Daddy. „Hier ist das Geld. Kauf’ Sheila ein paar Cashew-Nüsse, die wird sie mögen.“

„Die habe ich noch nie probiert“, sagte ich.

„Ja, ich weiß, weil deine Großmutter dich nicht in die Vorstellung läßt, nicht wahr?“ fragte er.

„Ich weiß nicht.“

„Weißt du, sie hält nichts von Filmen, frag’ sie besser nie, ob du ins Kino gehen darfst“, sagte er.

Das verstand ich nicht. „Warum mag sie sie nicht?“

„Weil sie eine Christin ist, Liebling, und Christen gehen nicht in Filmvorstellungen.“

Das ergab für mich immer noch keinen Sinn, aber ich sagte trotzdem okay. Okay war mein Lieblingswort, weil es mich aus allen Schwierigkeiten raushielt. Ich war ein sehr gehorsames kleines Mädchen.

Diese Vorstellung von Religionen, die den Leuten sagt, was sie tun dürfen und was nicht, erschien mir absurd, und ich erinnere mich, daß meine Tante einmal über dieses Thema gesprochen hatte.

Als wir uns zum Aufbruch fertigmachten, hielt mich Janice zurück. „Warte eine Minute. So wie du aussiehst kannst du nicht in die Vorstellung gehen.“

„Wie seh’ ich denn aus?“ fragte ich. Ich fühlte mich gut.

„Du mußt zuerst den Lippenstift abwischen und das Kleid und die hochhackigen Schuhe ausziehen“, sagte sie.

Ich lachte. „Oh ja, richtig.“

Jimmie brachte uns ins Kino und dort bekam ich die zweite Limonade in meinem Leben und auch Popcorn. Popcorn! Das mochte ich sehr und besonders die Cashew-Nüsse.

„The Blob“ handelte von einer fliegenden Untertasse, die den Menschen auf der Erde alle Arten von Verwüstung und Terror bescherte. Sie landete eines Nachts in einem abgelegenen Wald. Zwei verliebte Teenager waren die ersten, die die Untertasse sahen, doch als die beiden die Landungszone erreichten, war nichts zu sehen als eine unheimliche, glühende Masse.

Neugierig, was passieren würde, stieß der Junge mit einem Stock hinein. Plötzlich bedeckte die glühende Masse seine Hand und kroch an seinem Arm hoch. Die Freundin des Jungen schrie und rannte weg, während er verzweifelt versuchte, das Zeug wegzuschleudern.

Im Krankenhaus waren die Ärzte erstaunt. Was auch immer das Ding war, sie waren sich darüber einig, daß es so schnell wie möglich aufgehalten werden mußte. Als sie im Nebenraum über den Jungen diskutierten, sahen sie plötzlich vor sich einen gigantischen, glühenden und pulsierenden Energieball. Er hatte den Jungen verschlungen und bewegte sich nun zu seinem nächsten Opfer.

Bis zum Ende des Films absorbierte der Ball Menschen, Häuser und Autos, und er war noch gigantischer geworden. Die Leute gerieten in Panik und flohen aus ihren Häusern.

Zufällig entdeckten die Helden des Films, daß die Kreatur mit niedrigen Temperaturen getötet werden konnte, als sie nämlich versuchte, sich in einem Gefrierschrank zu verstecken. Die Erde war gerettet.

Mein Problem war, daß ich während der ganzen Vorstellung nicht aufhören konnte zu lachen. Alles war für mich so lustig. Und der “Blop” war das Lustigste von allem.

„Wieso lachst du?“ fragte Janice. Sie hatte Schwierigkeiten, mich zu verstehen. „Es ist doch wirklich gruselig!“

„Ich weiß nicht“, sagte ich. „Für mich ist es lustig.“

Die ganze Zeit dachte ich, das ist doch wirklich seltsam. Warum haben die Menschen die Vorstellung, daß aus dem Weltall solch unheimliche Kreaturen kommen? Woher stammt dieses Bewußtsein? Oft prägten sich ihre Vorstellungen danach aus, was sie im Kino gesehen hatten.

Ich wurde mir der Weisheit meiner venusischen Freunde bewußt, die mich davor gewarnt hatten zu sagen, daß ich von einem anderen Planeten komme. Diejenigen, die meine Geschichte glaubten, würden sich wahrscheinlich an die schrecklichen Kreaturen der Science-Fiction-Filme erinnern. Auf diese Weise hatten die negativen Kräfte sichergestellt, daß unser Volk sich nicht so bald würde offenbaren können.

Es war ein seltsamer Zufall, daß dieser erste Film, den ich auf der Erde sah, von Kreaturen aus dem Weltall handelte. Janice war noch verschreckt, als wir das Theater verließen. „Warte, bis du ‘Dracula’ siehst!“ sagte sie. „Das wirst du mögen.“

„Ja, wahrscheinlich“, sagte ich. Aber als sie anfing, mir von Dracula zu erzählen, wer er war und was er tat, fing ich an, mich zu fürchten. Ich hatte Grund zu glauben, daß solche Kreaturen wirklich auf der Erde existieren.

Daddy wartete, um mich heimzubringen, als wir in Janices Haus zurückkehrten. „Morgen müssen wir dich für ein paar Wochen in der Schule anmelden, bis du bei deiner Großmutter leben kannst.“

„Muß ich zu ihr zurückgehen?“ fragte ich. „Kann ich nicht bei dir leben?“

Mein Vater zog mich eng an sich heran. „Liebling, du kannst nicht bei mir leben, weil deine Großmutter dein Vormund wird. Das bedeutet, daß das Gesetz dich ihr zuspricht und du nicht bei mir bleiben kannst.“

„Ich verstehe aber nicht, warum“, sagte ich.

Er versuchte, mir gegenüber standhaft zu bleiben. „Weil es nun mal so passiert ist. Wenn du zuerst zu mir gekommen wärst, dann wäre ich dein Vormund geworden. Aber es wäre schwer für mich. Ich habe meine eigene Familie, meine eigenen Kinder großzuziehen, weißt du. Du bist mein erstes Kind, und ich liebe dich sehr, und du wirst für mich immer etwas Besonderes sein. Aber es ist nun mal eine Tatsache, daß ich gerade jetzt nicht genug Geld habe, alle zu ernähren.“

„Okay“, sagte ich. „Aber wann wird meine Großmutter wieder gesund?“

„Nun, ich weiß es nicht. In der Nacht, als du in ihrem Schoß einschliefst, wurde sie wirklich krank. Weißt du, sie ist zuckerkrank und hat ein schwaches Herz. Sie sollte bald wieder zu Hause sein.“

„Zurück auf dem Land?“

„Nein, sie wird in der Stadt leben, in dem Wohnbauprojekt.“

„Oh ja, das stimmt“, erinnerte ich mich.

Mein Vater fuhr fort zu erklären: „Ich schätze, sie wird dort leben, weil es wirklich billig ist, nur 25 Dollar Miete im Monat.“

„Und werde ich dort zur Schule gehen?“

„Ja“, sagte er.

„Werde ich dich je wiedersehen?“ fragte ich. Ich empfand große Zuneigung zu David.

„Oh sicher, ich werde kommen und dich manchmal holen und in unser Haus bringen, wenn deine Großmutter mich läßt“, antwortete er.

Als ich in dieser Nacht im Bett lag, dachte ich an all die wunderbaren Dinge, die geschehen waren. Ich hatte mich mit einem gleichaltrigen Mädchen vergnügt, und ich hatte meinen ersten Film gesehen. Filme waren eine beliebte Form der Unterhaltung, hatte mir Onkel Odin einmal gesagt.

Auf dem Land zu spielen machte Spaß, aber es war ein Abenteuer, in eine Kinovorstellung zu gehen und eine Kreatur aus dem Weltall zu sehen. Ich vermute, es gibt solche bedrohlichen Kreaturen wie den “Blop” auf der niederen Astralebene, doch ich weiß von keinem solchen Wesen auf der physischen Ebene.

 

Am nächsten Morgen weckte mich mein Vater, um mich für die Schule anzukleiden. Zunächst zeigte er mir etwas Besonderes.

„Für mich?“ fragte ich, als er es mir gab.

„Sicher“, sagte er lächelnd.

Es war ein Schreibblock mit dem bekannten Countrysänger Gene Autry und seinem Pferd auf dem Deckblatt. „Es ist wunderschön!“ rief ich aus, doch ich verstand nicht, warum die schwarzen Stifte, die er mir gab, so dick waren. Und die Linien auf den Seiten waren so groß. Ich schätze, von Kindern wurde erwartet, daß sie groß schreiben.

An diesem Morgen war ich in der Schule nervös. Janice war schon da, um mich ihren Freunden vorzustellen, aber sie war in einer anderen Klasse.

Meine Lehrerin war eine schöne Frau mit großen braunen Augen und kurzem, lockigen, schwarzen Haar. Sie stellte mich der Klasse vor und sagte, meine Eltern seien viel gereist. Darum fing ich erst im Alter von sieben mit der ersten Klasse an.

Ich war überrascht und glücklich zu sehen, wie nett die anderen Kinder mich behandelten. Einige von ihnen, besonders die Jungen, konnten es nicht lassen, mich zu hänseln, weil ich älter war. Aber nach einer Weile beruhigten sich alle.

Mrs. Lewis war eine wunderbare Lehrerin. Sie war aufrichtig bemüht, mir beim Lernen zu helfen, und ich begann, sie zu lieben. Ich wußte schon, was sie versuchte mir beizubringen, aber ich würde es sie sicher nicht merken lassen. Ich gab vor zu lernen.

Zunächst arbeitete sie mit mir und lehrte mich das ABC, während die anderen Kinder beschäftigt waren. Ich holte die Klasse in kürzester Zeit ein. Bald brauchte Mrs. Lewis keine Sonderausflüge mehr an mein Schreibpult zu machen und zu erklären, was der Rest der Klasse machte.

Als sie sah, wie schnell ich Buchstabieren, Zählen und meinen Namen zu schreiben lernte, wurde ich in die zweite Klasse versetzt. Das war nur zwei Wochen, nachdem mein Vater mich angemeldet hatte. Sheila selbst hatte nie die erste Klasse beendet, und mein Vater und Mrs. Lewis konnten wahrscheinlich nichts anderes denken, als daß ich ein begabtes Kind war.

Ich kam in die zweite Klasse, als unser Lehrer Mr. Reed gerade die Subtraktion einführte.

Er sagte, „heute werden wir die Subtraktion lernen.“

„Subtraktion?“ platzte es aus mir heraus.

Er sah mich streng an und sagte: „Es ist dir nicht gestattet zu sprechen, es sei denn, du hebst deine Hand.“

„Oh, okay“, sagte ich. So hob ich meine Hand und fragte: „Was ist Subtraktion?“

Mr. Reed klang ungeduldig. „Ich werde es in wenigen Minuten erklären.“ Aber je mehr er darüber sprach, desto verwirrter wurde ich.

„Das ist wirklich merkwürdig“, sagte ich. „Warum wollen Sie etwas von etwas anderem wegnehmen?“

„Ich weiß nicht“, sagte er.

Das irritierte mich. „Sie wissen es nicht? Sie sind unser Lehrer. Was meinen Sie? Sie nehmen eins von zweien weg und bekommen eins. Warum wollen sie eins von zweien wegnehmen?“

„Sheila, solche Fragen ergeben keinen Sinn.“

„Macht das denn Sinn – eins von einem wegzunehmen ergibt Null. Wie können Sie etwas von sich selbst wegnehmen? Sie können das Objekt wegnehmen und nichts haben, doch Sie können es nicht von sich selbst wegnehmen.“ Ich fuhr fort in dem Versuch, meinen Standpunkt klar zu machen; diese neuen mathematischen Ideen stimmten nicht mit dem überein, was mir beigebracht worden war.

„Sheila, wenn du nicht aufhörst, Fragen zu stellen, werde ich dich zum Direktor schicken.“

„Oh, okay“, sagte ich ruhig. „Ich werde nicht mehr fragen.“

Subtraktion machte für mich niemals Sinn und wird es auch niemals tun. Ich mag dies nicht, weil es zu mental ist und nicht den natürlichen Gesetzen der Ausdehnung folgt. In Teutonia wurde mir niemals beigebracht, etwas von etwas anderem wegzunehmen. Wir veränderten nur, was existierte.

Ich hatte auch Probleme mit dem irdischen Zehnersystem. Auf den fortschrittlicheren Planeten existiert die Null nicht, wegen ihrer eigentlichen Natur. Indem wir den Gesetzen der Natur folgen, haben wir gelernt, daß das grundlegende Neunersystem am besten zu uns paßt. Nebenbei gesagt, haben die Regierungen der Erde im Laufe der Jahre abgestürzte fliegende Untertassen untersucht und herausgefunden, daß ihre Dimensionen auf ein Neunerzahlensystem hinweisen.

Um alle zufriedenzustellen, lernte ich Subtraktion. An diesem Abend ging ich heim und erzählte Daddy, was ich gelernt hatte, daß zwei weniger eins gleich eins ist.

„Das ist sehr gut!“, sagte er.

„Ich weiß auch, was zehn weniger fünf ist“, sagte ich.

„Wieviel?“

„Fünf.“

„Woher weißt du das?“ fragte er. Haben sie dir das beigebracht?“

„Sie haben mir beigebracht, eins abzuziehen, und ich habe das andere selbst herausgefunden.“

„He, du bist aber gut darin, oder?“ Er lächelte. „Ich bin wirklich stolz auf dich, weil du mein erstes kleines Mädchen bist. Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich.“

„Tu’ ich das?“

„Ja.“

„Sie ist hübsch“, sagte ich und erinnerte mich an Vonics Beschreibung von ihr. „Sie sieht aus wie Marilyn Monroe.“

„Ja, das tut sie“, stimmte er lachend zu.

Ich fragte mich, ob ich Donna je treffen würde und wann das sein würde. Ich hatte von Großmutter und von Tante Ellen so viel über sie gehört, aber ich hatte sie selbst nie gesehen. Dies sollte erst nach einem Jahr meines Lebens auf der Erde geschehen.

Am Freitagabend saßen wir am Eßtisch. Wie gewöhnlich gab es Hot Dogs und Chili, was ich gern aß. Das Telefon klingelte, und Daddy nahm ab.

„Deine Großmutter wird heimkommen“, kündigte er an, und meine Stimmung sank. Ich würde in einer Woche zu ihr zurückkehren. Die Vorstellung zu gehen mochte ich nicht; David und Peggy waren so gut zu mir gewesen. Und was sollte aus all meinen neuen Freunden in der Schule werden, dachte ich?

„Muß ich zurückgehen?“ fragte ich.

„Ja, Liebling“, sagte Daddy. „Ich habe dir vorher gesagt, daß du zurück zu deiner Großmutter gehen mußt.“

„Okay“, sagte ich ruhig mit einem Anflug von Traurigkeit. Peggy war wirklich lieb und drehte mir das Haar auf. Sie war so wunderschön mit ihren blauen Augen, der wunderschönen Haut und dem langen, welligen, braunen Pferdeschwanz. Ich würde sie vermissen.

„Montag müssen wir mit dir zur Schule gehen oder eine Nachricht schicken und ihnen sagen, daß du Ende der Woche gehen wirst. Dann können sie dir die Zeugnisse zur neuen Schule schicken.“

„Okay.“

Aber anstatt Montag zur Schule zu gehen, mußte ich Daddy und Peggy Aufwiedersehen sagen. Tränen füllten meine Augen. Großmutter wollte, daß ich früh nach Hause kam, um ihr beim Auspacken behilflich zu sein und das Haus herzurichten. Ich war noch nicht einmal in der Lage, meinen Freunden Aufwiedersehen zu sagen.

Großmutter erwartete mich, als ich wieder einmal in der Southern Street Nummer 1821 anklopfte. Drinnen war alles in Unordnung, und trotz der Hilfe von Merle und Ben gab es nicht viel, was wir tun konnten, um den Ort schön zu gestalten. Die Wohnung selbst sah neu und glänzend aus, aber Großmutters Einrichtung war so alt und wirkte so schrecklich, daß ich schnell deprimiert war.

Großmutter, so hatte ich von Vonic gelernt, hatte sich von ihrem Ehemann wegen seiner Trinkerei getrennt und lebte mit den beiden Jungen allein.

Wenn man von den Hügeln von Chattanooga hinuntersah, hatten die Appartements unseres Wohnbauprojekts gegenüber dem Eisenbahnhof die Form eines riesigen Hufeisens. Die Southern Street grenzte an das eine Ende des Projekts und hinter uns befanden sich Reihen von zweigeschossigen Ziegelsteingebäuden mit flachen, weißen Kiesdächern. Jede Familie verfügte über einen eigenen Hinterhof, ein Ober- und ein Untergeschoß und mit der Hausnummer beschriftete Mülltonnen.

Die Innenwände unserer Wohnung bestanden aus ebenmäßigen, pfefferminzgrün gestrichenen Mauersteinen, und die Böden waren mit dunkelbraunen Asphaltfliesen bedeckt. Vorn war das Wohnzimmer, ein Flur rechts führte zur Küche, und die Betontreppe hinauf zu den Schlafzimmern ging links vom Flur ab.

Alles war elektrisch; unsere Wohnung hatte einen neuen Kühlschrank, einen Herd und in die Wände eingelassene Heizkörper. Neben der Küche und hinter dem Wohnzimmer lag die Speisekammer. Hier befanden sich zwei große Spülbecken und eine Menge Regale und Schränke. Die obere Etage bestand aus drei Schlafzimmern und einem modernen Badezimmer mit einer eingebauten Badewanne.

Für die 25 Dollar, die Großmutter monatlich zahlte, war dies sogar für moderne Verhältnisse luxuriös. Jeden Monat kamen Kammerjäger, die Ungeziefer beseitigten, ein Service, den viele Leute in großen Städten nicht hatten, wie ich erfuhr.

Ein paar Tage nachdem wir uns eingerichtet hatten, schleppte Großmutter uns in ein schönes weißes Holzgebäude in der Nähe unseres Hauses. Ich verstand bald, was Vonic gemeint hatte, als er sagte, daß sie eine ergebene Christin in der Kirche Gottes war.

Die Neuheit, in die Kirche zu gehen, war bald keine mehr, weil wir jeden Montag, Mittwoch, Freitag und Sonntag dorthin gingen. Die Sonntagsschule war lustig. Wir lasen Geschichten und sangen Lieder. Genauso lustig war es, in der Kirche zu singen und den Gitarren und dem Piano zuzuhören. Ein junger Mann, der manchmal vor der Gemeinde sang, war besonders beliebt. Sein Name war Elvis Presley.

Meine übrigen Erfahrungen in der Kirche bestanden aus Lektionen in Toleranz und Verständnis. Die Kirche Gottes machte es einem sehr schwer, ein Individuum zu bleiben. Genau wie Vonic erklärt hatte, durften Frauen keine Hosen, keine kurzen Haare, keine Dauerwelle, Makeup oder Schmuck tragen. Es schien, als wären die meisten Regeln für Frauen gemacht.

Den Männern war es verboten zu trinken oder zu rauchen, was ja eigentlich gut für ihre Gesundheit war. Doch es störte mich, daß sie dies nur befolgten, weil es eine Vorschrift war.

Die Predigt störte am meisten. Die Geistlichen predigten immer direkt aus der Bibel, sie begannen mit einer Geschichte und erklärten dann die Moral. Oft wiederholten sie dieselbe Idee vier oder fünf Mal, wobei sie verschiedene Beispiele benutzten. Und es war immer eine höchst emotionale und manchmal laut geschriene Art von Predigt.

Immer wenn ein Wanderprediger in der Stadt war, erreichte das Predigen und Singen einen absoluten Höhepunkt. Großmutter bestand darauf, mich zu diesen Erweckungen mitzunehmen; die Versammlungen wurden jeden Abend abgehalten.

Die Gemeindemitglieder brachten Neulinge mit, die gerettet werden sollten und demjenigen, der die meisten Konvertiten mitbrachte, wurden Preise verliehen. Ich wußte nicht, was ich von all dem halten sollte.

Der Wanderprediger flehte und bettelte die Neulinge an, heraufzukommen, um jetzt gerettet zu werden, bevor es zu spät sei. Seine aufgeheizte Stimme mischte sich mit Hymnen aus dem Hintergrund. In der Zwischenzeit entstand in der Kirche oft eine sonderbare Atmosphäre. Menschen fingen an zu weinen und knieten nieder. Andere begannen, auf und ab zu springen, mit hoher Stimme zu rufen und in fremden Zungen zu reden. Die Bibel an einer bestimmten Stelle aufgeschlagen, gingen sie emotionsgeladen herum, zeigten sie anderen und redeten in einer mysteriösen Sprache.

Diejenigen, die gerettet wurden, fielen weinend und wehklagend vor der langen Holzbank auf die Knie, die als Altar diente.

Der Prediger und seine Mitarbeiter eilten prompt herbei und knieten bei jedem neuen Anwärter. „Bist du gewillt, Gott um die Vergebung deiner Sünden zu bitten? Bist du gewillt, ein heiliger Mensch zu sein und deine Sünden vom Blute Jesu wegwaschen zu lassen?“

Dieses Geschäft mit dem Blute Jesu beunruhigte mich oft, weil ich die Dinge wörtlich nahm.

Als alles vorüber war, standen die geretteten Leute vorn, und alle kamen, um ihnen die Hände zu schütteln und sie als Mitglieder der Kirche willkommen zu heißen.

Die Erweckungen schläferten mich gewöhnlich ein, wenn ich nicht zeichnen oder spielen konnte. Manchmal versuchte ich, dem zuzuhören, was vor sich ging, doch mein Interesse hielt nie lange an. Ich mochte das Singen und das Klatschen, das war alles.

Ich sah und verstand, daß diese Leute sehr aufrichtig waren, und all das hatte für sie eine sehr tiefe spirituelle Bedeutung. Meine Reaktionen basierten auf meinen eigenen Erfahrungen und Lehren.

Auf der Venus hatte ich gelernt, daß die Bibel ein Tagebuch besonderer Menschen war, die vor langer Zeit auf der Erde lebten. Sie war kaum mehr als ein Geschichtsbuch. Das ist für die Leute auf der Erde schwer zu akzeptieren. Es gab eine Zeit, als in den Reden der religiösen Führer große Wahrheiten lagen, aber nach Jahrhunderten der Überarbeitung und Rückübersetzung können die Worte der Bibel nicht mehr als absolute Wahrheit angenommen werden. Den Geboten stimme ich jedoch zu.

 

Auf der Venus ist es bekannt, daß viele Individuen die Schriften spiritueller Führer für ihre eigenen Zwecke verwendet haben oder dazu, eine bestimmte Aussage einzubringen. Wenn es eine andere Meinung über das gab, was geschrieben stand, oder wenn etwas nicht verstanden wurde, dann wurde dieser Abschnitt der Bibel umgeschrieben.

Verschiedene Gruppierungen haben aus diesem Grund unterschiedliche Bibeln. Die Schriften wurden ihrem Verständnis von Wahrheit entsprechend verändert.

Das Wort Gottes oder der Wahrheit muß erfahren, nicht in einem Buch gelesen werden. Dies geschieht durch das wirkliche Sehen der Höchsten Gottheit und durch die Kommunikation mit ihr in der namenlosen Welt jenseits der Seelenebene. Nur die Seele selbst kann sie erfahren. Es ist keine physische Erfahrung.

Um die Menschen zu beherrschen, haben religiöse Führer das „Glaube-oder-sei-verdammt-Evangelium“ geschaffen – eine Religion der Angst. Es wurde ein Postulat aufgestellt, daß eine bestimmte Sammlung von Schriften das Wort Gottes sei. Durch Manipulation und Interpretation des Buches können die Menschen beherrscht werden. Dies sind die Werke von Kal, der negativen Kraft, obwohl die meisten sich gar nicht bewußt sind, darin verwickelt zu sein.

Das menschengemachte Gesetz ärgerte mich, und oft bekam ich Streit mit Großmutter darüber, warum Frauen keinen Lippenstift auflegen oder Hosen tragen durften. Es ergab für mich einfach keinen Sinn, daß eine Kirche in der Lage war, den Leuten vorzuschreiben, das eine zu tun und das andere zu lassen.

Gemäß den Gesetzen des Höchsten Wesens wurde ich mit dem Recht geboren, mich zu kleiden und zu handeln, wie es mir gefiel. Und ich übernahm volle Verantwortung für meine Handlungen unter dem Gesetz des Karma. Keine Kirche oder Person hatte das Recht, mir meine Rechte wegzunehmen.

Die einzige Sache, die ich aus meinen Diskussionen mit Großmutter lernte, war, daß es sinnlos war zu diskutieren. Wie mein Onkel und Vonic mir gesagt hatten, wird den Kindern auf der Erde in ihrer Individualität wenig Freiheit gegeben.

Dies traf besonders auf die Schule zu. Großmutter meldete mich in der Mary Ann Garber Schule an, die zu unserer Wohnsiedlung gehörte und von der Regierung unterhalten wurde. Die ältere Mrs. Jensen, meine Lehrerin in der zweiten Klasse, machte auf mich nicht viel Eindruck. Sie schien an ihren Schülern oder der Schule nicht interessiert zu sein.

Für eine Weile war die Schule eine nette Neuheit, aber mein eigenes Interesse nutzte sich schnell ab. Es störte mich, daß Lehrer nur das lehrten, was ihrem Gefühl nach für Kinder wissenswert war, und das waren die Grundlagen, die jeder zu Hause gelernt haben sollte.

Viel zu viel Zeit wurde damit verschwendet, die Fakten zu wiederholen, Fakten, die uns im Leben wenig helfen würden, es sei denn bei einem Fernsehquiz oder einem Wettbewerb.

Von Anfang an sah ich, daß das Testen und Bewerten den Kindern einen Wettbewerbssinn einimpfte, eine zerstörerische Kraft, ohne die die Erde gut auskommen könnte.

Die langsamen Schüler wurden durch schlechte Noten degradiert oder dadurch, daß sie den Lernbehinderten zugeteilt wurden. Die Erzieher schienen keine Zugeständnisse hinsichtlich der Tatsache zu machen, daß jedes Individuum in dem ihm eigenen Tempo lernt. Ich mochte die Lehrer, die Kinder, die Pause und die Essensstunde, doch der Klassenunterricht selbst war langweilig. Viele Kinder genossen den Unterricht, weil sie es wichtig fanden, alles zu lernen, was man ihnen beibrachte. Eine größere Wahlfreiheit der Kinder darin, was wann zu lernen ist, würde Wunder vollbringen.

Wenn ich nicht in der Schule war, verbrachte ich oft Zeit allein mit mir, und ich dachte über die verschiedenen Dinge nach, gegen die ich etwas hatte. Es gab so viele Routineereignisse in meinem Leben, die zu viel von meiner Zeit aufzehrten, aber nur so konnte mein physischer Körper überleben. Immer noch waren viele Leute fett und unsauber oder kümmerten sich nicht um ihr Äußeres. Ich vergegenwärtigte mir, daß all dies von untauglicher Schulung und schlechten Eßgewohnheiten kam.

Nachts, allein in meinem Bett, konnte ich nicht umhin, an meine Heimat zu denken, an Arena und Odin, meinen Vater und all die Kreativität in unserem Leben. Es war etwas, das ich nie vergessen konnte, egal welche Rolle ich spielte. Mein Leben hier erschien so seltsam, und wie traurig war ich, daß ich nicht in der Lage war, meine Vergangenheit mit irgendjemandem zu teilen.

Ich stellte mir vor, wieder in meinem Zimmer in unserem Haus auf der Venus und an all meinen Lieblingsplätzen zu sein. Erinnerungen an Rimj und die lächelnden Gesichter all meiner Freunde, wie sie Aufwiedersehen sagten, begleiteten mich stets, wenn ich mich niedergeschlagen fühlte.

Es gab Zeiten, da ich hoffte, jemand würde erkennen, daß ich nicht Sheila war. Ich hatte Angst, wirklich sie zu werden, Angst davor, mich so tief in ihr Leben zu verstricken.

Als Sheila galt ich als sehr stilles Kind. Als Omnec war ich offen und übersprudelnd. Ein Teil meiner Reserviertheit rührte daher, daß ich nicht wußte, was zu tun war, weil ich Angst hatte, etwas Falsches zu sagen oder zu tun.

In meiner irdischen Familie beobachtete ich viel und ich lernte vom Beobachten, anstatt Fragen zu stellen. Egal, wieviel es mich kostete oder wie lange ich auf die Antwort warten mußte, ich wollte immer für mich selbst herausfinden, was los war. Fragen zu stellen war mir peinlich, weil es die Aufmerksamkeit auf etwas lenkte, das ich nicht wußte.

Meine Lieben und meine Freunde von der Venus kommunizierten zu dieser Zeit in meinem Leben sehr wenig mit mir. Sie blieben ihrem Grundsatz treu, sich nicht einzumischen, es sei denn, es wäre unbedingt nötig. Trotzdem erkannte ich manchmal, daß gewisse Gedanken nicht meine eigenen waren, und so war ich mir ihrer Teilnahme und ihrer inneren Führung gewiß.

Ich besuchte Teutonia nur wenige Male im Traumzustand. Ich merkte bald, daß ich jetzt viel weniger Kontrolle über meinen Astralkörper hatte; seine Schwingungen hatten sich gesenkt, als ich meinen physischen Körper manifestiert hatte.

Die meiste Zeit war mein Geist voll mit dem, was ich auf der Erde lernte und meine Aufmerksamkeit richtete sich sehr selten auf die Reise der Seele. Ich war damit beschäftigt, meinen Weg in diesem neuen Leben zu erfühlen und zu lernen, was die Leute von mir erwarteten, so daß ich wußte, wie ich reagieren sollte. Ich hörte aufmerksam zu, wenn Kommentare über Sheila gemacht wurden.

Spirituelle Übungen zu machen war fast unmöglich in der eingeschränkten Privatsphäre, die ich hatte. Und ich war mit den vielen neuen Erfahrungen auf der physischen Ebene beschäftigt.

Weihnachten kam heran, und ich war schon fast zwei Monate in Chattanooga. Ich kannte die irdische Version der Geschichte Christi, aber was hatten der Baum und die Geschenke damit zu tun, fragte ich mich. Trotzdem war es eine wunderschöne Zeit des Jahres. Die Menschen schienen sich anderen gegenüber besser zu verhalten.

Am Weihnachtsabend fanden wir Geschenke in lustiges buntes Papier eingewickelt unter unserem Christbaum, und wir konnten den nächsten Morgen kaum erwarten. Jeder behauptete, daß Sankt Nikolaus die Geschenke gebracht hätte, aber bis sie mir ein Bild von ihm zeigten, glaubte ich nicht, daß es wirklich solch einen Mann gab. Er sah absurd aus, doch er schien glücklich zu sein. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich an ihn glauben sollte oder nicht, aber es war für mich unvorstellbar, daß die Erwachsenen die Kinder betrogen. Vielleicht hatte er vor langer Zeit existiert!