Kreatives Schreiben

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3.1. Die Perspektiven der Theorie

Hanns-Josef OrtheilOrtheil, Hanns-Josef hat erläutert, aus welchen FormenForm speziell der PoetikPoetik sich dieses herleiten ließe und was es in der Gegenwart mit diesen Formen zu tun habe; Ortheil greift dazu auf »einige Ahnherren der Poetik wie AristotelesAristoteles oder HorazHoraz« zurück, die er so versteht, »als wären es Abhandlungen, die auch das ›Kreative Schreiben‹ betreffen«:

Weil die Literatur über das »Kreative Schreiben« weitgehend ohne ein solches begriffliches oder historisches Denken auskommt, bleibt sie oft blass und ist kaum fundiert. Vielleicht ist das auch der Grund, warum »Kreatives Schreiben« die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft bisher noch nicht interessiert hat. […] Es ist also an der Zeit, das »Kreative Schreiben« ernst zu nehmen und ihm eine Geschichte zu geben. Deshalb gehe ich hier bis zur Antike zurück, um nach seiner Herkunft und seinen Ursprüngen zu fragen. Indem ich das tue, [83]verorte ich das »Kreative Schreiben« als eine Spiel- und vor allem LesartLesart von PoetikPoetik.286Ortheil, Hanns-JosefAristoteles

Hanns-Josef OrtheilOrtheil, Hanns-Josef


wurde am 5. November 1951 als fünfter Sohn von Maria Katharina und Josef Ortheil in Köln geboren. Traumatische Erlebnisse ließen seine Mutter verstummen, so dass er im Alter von drei Jahren selbst für gewisse Zeit mit dem Sprechen aufhörte. Seit frühester Kindheit spielt Ortheil Klavier, machte Abitur in Mainz und studierte schließlich Musikwissenschaft, Philosophie, Germanistik und Vergleichende LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft. 1976 wurde er mit einer Arbeit zur Theorie des Romans im Zeitalter der Französischen RevolutionRevolution promoviert. Drei Jahre später erfolgte sein literarisches Debüt. Seit 1990 lehrt er – noch immer als einziger deutscher Universitätsprofessor – Kreatives Schreiben an der Universität HildesheimHildesheim, Universität. Hanns-Josef Ortheil gilt heute als einer der bedeutendsten SchriftstellerSchriftsteller der deutschen Gegenwart.

Werke u.a.: Fermer (1979) – Hecke (1983) – Köder, Beute und Schatten (1985) – Römische Sequenz (1993) – Das Element des Elephanten (1994) – Blauer Weg (1996) – Lo und Lu (2001) – Die geheimen Stunden der Nacht (2004) – Das Verlangen nach Liebe (2007) – Die Erfindung des Lebens (2009) – Die Moselreise (2010) – Das Kind, das nicht fragte (2012) – Die Berlinreise (2014).

Es ließe sich die Position Kaspar H. SpinnersSpinner, Kaspar H. hinzufügen, der gezeigt hat,

in welcher Weise die kreativen Verfahren auch literaturwissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln vermögen, so daß nicht von einem notwendigen Widerspruch zwischen der Freude am Spielerischen, der Entfaltung von Phantasie und der Kundgabe persönlicher Erlebnisse einerseits und der theoretischen Reflexion und der Analyse und InterpretationInterpretation von Texten andererseits ausgegangen werden muß.287Spinner, Kaspar H.

Damit steht das Creative Writing im Übrigen auch im Kontext des New HistoricismNew Historicism, indem es dazu anleitet, einen Text als »›Gewebe[84]‹ von ›Zitaten‹ aus dem Text der Kultur«288 aufzufassen: »Er verdichtet nicht Inneres, sondern etwas, das mit sozialer Energie präformiert und als Image konstruiert worden ist.«289 Auch dem Kreativen Schreiben kann dabei ein intimes Verhältnis zu KörperlichkeitKörperlichkeit und Identität zugesprochen werden. Denn dieses äußert sich ja explizit auf der Ebene der Ausführung in einer Bewegung oder GesteGeste, die einerseits ein haptisches Instrumentarium benötigt (zuallererst HändeHand oder FingerFinger, dann ein Instrumentarium, eine zu beschreibende Oberfläche etc.); andererseits können dessen Tätigkeiten sowohl als spezielle Manifestationen von Selbstpräsenz betrachtet werden als auch von Markierungen eines SelbstverlustesMarkierungen eines Selbstverlustes.290Stingelin, Martin Auch aus theoretischer Perspektive hilft der Akt des Kreatives Schreibens nicht nur bei der Orientierung oder der Gliederung von IdeenIdee; er manifestiert zudem geradezu die Erscheinungen und mithin Ergebnisse ästhetischer Literatur. Insbesondere die neuere Tendenz des Kreativen Schreibens lässt sich in diesem Zusammenhang dahingehend beschreiben, sich etablierten literarischen Gefügen zu entziehen und grenzüberschreitend übergriffig zu werden. Dieser Befund gewinnt angesichts der wiederum theoretischen Implikationen der so genannten Postmoderne291 vor der Folie von Autorschafts- und TextgewebetheorienAutorschafts- und Textgewebetheorien an Deutlichkeit;292Barthes, RolandAutorFoucault, Michel vor allem aber zeichnet sich hier eine neue Beschäftigung damit ab, was eine Theorie des Kreativen Schreibens überhaupt ist, was [85]es bedeutet, impliziert und welche Beziehungen es als literarische Praktik einzunehmen vermag.293Schreibprozess

3.1.1. PoetikPoetik und Kreatives Schreiben

Damit sind Fragen aufgeworfen, denen dadurch nachgespürt werden kann, indem die literaturpraktische und schreibreflexive ›Arbeit‹ mit Theorien explizit postmoderner Provenienz darstellend untersucht werden soll. Diese diskursive Konstellation ist ein Ausgangspunkt, der das Thema zum wiederholten Male im Kontext der PoetikPoetik sieht, zumal diese als ›DichtkunstDichtkunst‹ im Sinne einer ›Theorie der PoesiePoesie‹,294Meier, CordulaPoetik als »Reflexionen über Dichtung, über Voraussetzungen, Funktionen und Effekte dichterischer Texte, über poetische Gattungen, Darstellungsweisen und Kommunikationsformen«295 nach dem ›Wesen‹ der LiteraturDas ›Wesen‹ der Literatur und des Schreibens wie des Schreibens fragt. Die Forschung hat sich bislang intensiv mit ihrer Geschichte296Poetik auseinandergesetzt und einzelne ihrer Stationen intensiv betrachtet.297 Wird der Blick in einer solchen Perspektive auf die Literatur der Gegenwart gerichtet,298Gegenwartsliteratur werden zunehmend eine Reihe poetologischer Erscheinungsformen fokussiert, die eine »wichtige Rolle im LiteraturbetriebLiteraturbetrieb« spielen, namentlich »Poetikvorlesungen, Abhandlungen über das Schreiben, seine Bedingungen, Funktionen und Effekte, poetologisch-reflexive Schreibweisen sowie Strategien der Interaktion dichtungstheoretischer Begriffe und Konzepte in fiktionalen Werken«.299 Insbesondere der [86]erstgenannte Gegenstand dient oftmals dazu, den ›poetologischen Diskurs der Gegenwart‹Der ›poetologische Diskurs der Gegenwart‹ zu erklären.300

Im Fokus stehen hier die in Theorien wie Poetologien verhandelten und ins Bild gesetzten Phänomenologien des allgemeinen literarischen Schreibens, die auf ihren konkreten AnwendungscharakterAnwendungscharakter im Kreativen Schreiben hin abgeklopft werden können – insbesondere im Hinblick auf eine PoetikPoetik der Literatur der Gegenwart. Hier geht es darum, die Funktion des Kreativen Schreibens als eine literarische ›Arbeit‹ mit Theorie bzw. genauer: insbesondere mit Medien-Theorie zu betrachten. Werden diese theoretischen, postmodernen Überlegungen gegen poetologische Positionen in Stellung gebracht und subvertieren sie somit einen seit dem 18. Jahrhundert vorherrschenden AutorAutor- bzw. Künstlermythos, so stellt sich insgesamt auch die Frage, welche literarischen und theoretischen Automatismen dadurch ins Wanken geraten. Diese Stoßrichtung ist für eine tiefer gehende Explikation des Kreativen Schreibens, wie sie im vorliegenden BuchBuch versucht werden soll, in zweifacher Hinsicht interessant: Zum einen kann damit jenen ›SpurenSpur‹ nachgegangen werden, die in der Rezeption von (Medien-)TheorienRezeption von (Medien-)Theorien innerhalb poetologischer Ausführungen auffindbar sind, nicht ohne die begriffliche Problematik eines solchen Projekts bewusst zu machen.301Spur Zum anderen ist es auf diese Weise möglich, der Funktion von Theorie für das Kreative Schreiben sowie ihrer Weiterentwicklung in der GegenwartsliteraturGegenwartsliteratur exemplarisch nachzugehen.302

[87]3.1.2. ›SpurenSpur‹ zum Kreativen Schreiben

Der Begriff der ›SpurSpur‹303SpurGrimm, Jacob taucht in der Philosophie des 20. Jahrhunderts an prominenter Stelle in BenjaminsBenjamin, Walter Passagen-WerkPassagen-WerkBenjaminsBenjamin, Walter Passagen- WerkPassagen-Werk auf; er wird darin dem Begriff der ›Aura‹ gegenüber gestellt:304Spur »Spur und Aura. Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.«305Benjamin, WalterPassagen-Werk ›Spur‹ und ›Aura‹ opponieren bei Benjamin, sind aber wenigstens in gleichem Maße aufeinander verwiesen;306 sie bilden eine »dialektische Einheit«, sofern Benjamin »hinter den Spuren und Zeugnissen des Vergangenen das Lebendige des Augenblicks gegenwärtig zu machen sucht«.307SpurBenjamin, Walter Der ›Spur‹-Begriff bei Benjamin bezieht sich, wie er in seinem Passagen-Werk weiter erläutert, auf etwas, das – als »Witterung einer Schwelle« oder eines »Tastbewußtseins«308Benjamin, WalterPassagen-Werk – nahe ist und gleichzeitig auf etwas Fernes verweist, von dem es herrührt; es handelt sich um die »Spur eines Abwesenden«,309 die »entziffert«310 werden muss. ›Spuren‹ sind, so Benjamin, »Winke und Weisungen«, die ein »Ort«, »schon rege geworden, sprachlos, geistlos gibt«; sie zeigen nicht auf etwas ihnen »Vorgängiges«, sondern wecken »eine erstaunliche Resonanz«.311Benjamin, WalterPassagen-Werk

 

Ob ›SpurenSpur‹ solchermaßen zu einem Anderen ihrer selbst führen312 oder ob darin, um eine Überlegung DerridasDerrida, Jacques aus La differánceDerridas La differánce aufzugreifen, der Ausdruck einer sich jeweils entziehenden bzw. niemals vollständig einholbaren ›Präsenz‹ zu sehen ist, ist [88]zu unterscheiden; Derrida spricht von etwas sich Aufschiebendem, von etwas aus Differenzen Gewebtem, das Repräsentanten entsendet, wobei keine Möglichkeit besteht, »daß der Vertretene ›selbst‹ irgendwo ›existiert‹, gegenwärtig ist, und noch weniger, daß er bewußt wird«: »Diese radikale Andersheit im Verhältnis zu jeder möglichen Gegenwart äußert sich in irrediziblen Effekten des Nachher, der Nachträglichkeit«.313Derrida, Jacques ›Spuren‹ können für Derrida »selbst nie auftreten, erscheinen und sich als solche in ihrem Phänomen offenbaren«:314

Da die SpurSpur kein Anwesen ist, sondern das Simulacrum eines Anwesens, das sich auflöst, verschiebt, verweist, eigentlich nicht stattfindet, gehört das Erlöschen zu ihrer Struktur. Nicht nur jenes Erlöschen, dem sie stets muß unterliegen können, sonst wäre sie nicht Spur, sondern unzerstörbare und monumentale Substanz, vielmehr jenes Erlöschen, welches sie von Anfang an als Spur konstituiert, als Ortsveränderung einführt und in ihrem Erscheinen verschwinden, in ihrer Position aus sich hinausgehen läßt. […] Paradox an einer solchen Struktur ist […]: das Anwesende wird zum Zeichen des Zeichens, zur Spur der Spur. Es ist nicht mehr das, worauf jede Verweisung in letzter Instanz verweist. Es wird zu einer Funktion in einer allgemeineren Verweisungsstruktur. Es ist Spur und Spur des Erlöschens der Spur.315

›SpurenSpur‹ setzt DerridaDerrida, Jacques in ein Bild, indem er sie mit dem »Draußen eines Textes«Das »Draußen eines Textes« vergleicht, das er »[m]ehr oder minder als sein[en] eigene[n] Rand« denkt316 – auch dies ein deutlicher Hinweis auf deren theoretische Bedeutung für das Kreative Schreiben. Es geht Derrida um die Bezeichnung der endlichen Anwesenheit des ›supplementierten‹ Abwesenden, was »weder als bloßes Anzeichen noch als – bereits unmöglich gewordener – Ausdruck [89]angesehen wird«317Spur – und dies innerhalb der ›Schrift‹.318Derrida, JacquesKulturtechnik In De la grammatologie führt er aus:

Es gilt […] zu erkennen, daß die Differenzen im spezifischen Bereich jenes Eindrucks und jener SpurSpur – in der Temporalisation eines Erlebten, welches weder in der Welt noch in einer »anderen Welt« ist, und in der Zeit nicht eher als im Raum ist – hier zwischen den Elementen in Erscheinung treten, besser noch, sie produzieren, sie als solche an die Oberfläche dringen lassen und Texte, Ketten und Systeme von Spuren konstituieren. Diese Ketten und diese Systeme können sich nur im Gewebe jener Spur, jenes Abdrucks einzeichnen. Die unerhörte Differenz zwischen dem Erscheinenden und dem Erscheinen (zwischen der »Welt« und dem »Erlebten«) ist die Bedingung für alle anderen Differenzen, alle anderen Spuren, sie ist selbst schon eine Spur. Und dieser Begriff ist schlechthin und rechtens »älter« als das ganze physiologische Problem der Natur des Engramms, als das ganze metaphysische Problem des Sinns der absoluten Präsenz, deren Spur sich damit entschlüsseln läßt. In Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen […]. Die Spur ist die Differenz, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen.319Derrida, Jacques

Emmanuel LevinasLevinas, Emmanuel bedient sich des Begriffs der ›SpurSpur‹, um den Unterschied zwischen einer dem Ich wahrnehmbaren Welt und Eine unbegreifliche Transzendenzeiner unbegreiflichen Transzendenz zu beschreiben (darin ist er sich mit BenjaminBenjamin, Walter und DerridaDerrida, Jacques – grundsätzlich – einig); gleichwohl grenzt ihn Levinas ab vom Zeichenbegriff, um die ›Spur‹ »aus der Fixierung auf begreifbare Phänomene herauszulösen«320 [90]und die Begegnung mit dem transzendent ›Anderen‹ zu denken.321Levinas, Emmanuel In De Dieu qui vient à l’idéeLevinas’ De Dieu qui vient à l’idée heißt es entsprechend:

Das Andere des Anderen ist nicht eine verstehbare FormForm, die im Prozeß des intentionalen ›Enthüllens‹ an andere Formen gebunden ist, sondern ein Antlitz, die proletarische Nacktheit, die Mittellosigkeit; das Andere ist der Andere; das Herausgehen aus sich selbst ist die Annäherung an den Nächsten; die Transzendenz ist Nähe, die Nähe ist Verantwortung für den Anderen, Stellvertretung für den Anderen, Sühne für den Anderen, Bedingung – oder Un-Bedingung – der Geiselschaft; die Verantwortung als Antwort auf das vorgängige Sagen; die Transzendenz ist Kommunikation […].322Levinas, Emmanuel

Die wahrgenommene Andersheit ist für LevinasLevinas, Emmanuel ›spurenhaft‹; der Andere, der, so Levinas in Le Temps et l’Autre, »erreicht wird, ohne sich als berührt zu erweisen«,323Spur offenbart sich als »Bedeuten jenseits von Bedeutsamkeit«, als ›Antlitz‹: »Kraft seiner Epiphanie als Antlitz hört der Andere auf, eine wahre Vorstellung, ein Zeichen zu sein, über welches das Identitätsprinzip des Bewusstseins zu verfügen in der Lage wäre.«324 Nach dem Antlitz des Anderen zu sein, bedeutet für Levinas, »sich in seiner SpurSpur [zu] befinden«; zu »ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, [zu] folgen, sondern auf die Anderen zu[zu]gehen, die sich in der Spur halten.«325Levinas, EmmanuelSpur

Derartige ›SpurenSpur‹ als ›Winke und Weisungen‹ im Sinne BenjaminsBenjamin, Walter, als ›anwesendes Abwesendes‹ im Sinne DerridasDerrida, Jacques wie als ›Zugehen auf die Anderen‹ im Sinne LevinasLevinas, Emmanuel sind in der PoetikPoetik der GegenwartsliteraturGegenwartsliteraturPoetikPoetik der GegenwartsliteraturGegenwartsliteratur und damit für eine Theorie des Kreativen [91]Schreibens auf verschiedenen Ebenen identifizierbar; derartige ›Spuren‹ kommen darin auf zweifache Weise vor: ganz konkret, wenn diese namentlich benannt und/oder von ihnen aus Reflexionen zur Konstitution von Schrift, Sprache und Schreiben unternommen werden, und sozusagen getarnt, wenn Topoi der SchreibtheorieSchreibtheorie als MedientheorieMedientheorie aufgerufen sind. Diese poetologischen Ausführungen sind mehr oder weniger dicht durchzogen von direkten und indirekten Zitaten, die im engeren oder weiteren Zusammenhang mit schreib- bzw. medientheoretischen IdeenIdee stehen.

3.2. MedientheorieMedientheorie und Kreatives Schreiben

Exemplarisch kann dieser Befund anhand der Poetikvorlesungen eines GegenwartsautorsPoetikvorlesungen eines Gegenwartsautors demonstriert werden, dessen Person und Werk zwar nicht auf den ersten Blick genannt wird, wenn es um Theorien des Kreativen Schreibens geht, dessen Person und Werk allerdings das Interesse der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft in auffälliger Weise mehr und mehr befördert:326Timm, UweArchäologie Uwe TimmTimm, Uwe gilt als »Glücksfall«327Timm, Uwe der PhilologiePhilologie, zumal er sich seit seinen schriftstellerischen Anfängen in den 1970er-Jahren wiederholt mit den theoretischen Grundlagen seiner literarischen Tätigkeit beschäftigt hat; so seien es »nicht allein die Themen«, »die ihn beim Schreiben leiten«, sondern vor allem »die Formfragen«, und er habe »für jeden Roman eine eigene, bezwingende FormForm gefunden«.328Timm, Uwe

Monographisch veröffentlicht sind TimmsTimm, Uwe Beschäftigungen mit FormForm und Theorie des Schreibens vor allem in zwei Büchern, die die Titel Erzählen und kein Ende (1993)Erzählen und kein EndeÜber die Lesbarkeit der Welt sowie Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt (2009) tragen und auf die sich daher hier konzentriert werden kann. Auszugehen ist bei ihnen von einer [92]Beobachtung, die auch an anderer Stelle betont worden ist:329Timm, Uwe So sehr Timms PoetikPoetik in den meisten vorliegenden Studien als Explikationshilfe der jeweiligen Einzel- oder Gesamtuntersuchung dient,330 so selten ist sie selbst in den Mittelpunkt einer LektüreLektüre gestellt worden.331Autor Gleiches gilt speziell für neuere, ausdrücklich medientheoretisch orientierte Arbeiten, die Uwe Timms Literatur anhand dieser Theorie erhellen, in denen aber seine poetologischen Texte allenfalls beiläufig Erwähnung finden.332Timm, Uwe Gleichwohl zeigen solche Untersuchungen die Richtung, in die die Uwe Timm-Forschung zwar bereits erste Schritte, jedoch noch nicht ganze Wege gegangen ist: Theorie bzw. – explizit – MedientheorieMedientheorie333MedientheorieMedienwissenschaft ist für Uwe Timm, so der Ausgangsbefund, ein bedeutendes Thema, und dies nicht allein als Mittel, seine literarischen Werke theoretisch zu lesen (respektive lesen zu lassen), sondern als ReferenzReferenz, vor der sich schließlich seine Literatur(theorie) als eine ÄsthetikÄsthetik des AlltagsÄsthetikÄsthetik des Alltags entwickelt,334Timm, UweÄsthetik die letztendlich nichts anderes darstellt als eine theoretisch avancierte Theorie des Kreativen Schreibens.

Uwe TimmTimm, Uwe


wurde am 30. März 1940 in Hamburg als drittes Kind des Ehepaares Anna und Hans Timm geboren. Im Alter von drei Jahren führte ihn die Evakuierung während des Zweiten Weltkrieges nach Coburg. Im Spätsommer 1945 kehrte die Familie in die Hansestadt zurück. Nach dem Besuch der Volksschule absolvierte Timm eine Kürschnerlehre und übernahm 1958 das hoch verschuldete Pelzgeschäft seines kurz zuvor verstorbenen Vaters. Später absolvierte er dann das Braunschweig-Kolleg, veröffentlichte erste Gedichte und studierte nach dem Abitur in München Philosophie und Germanistik, zwischenzeitlich auch in Paris. Seit Schulzeiten links-alternativ geprägt engagierte er sich im Sozialistischen Deutschen Studentenbund und verfasste mithin Agitprop-LyrikLyrik und Straßentheaterstücke. Ein Zweitstudium der Soziologie und Volkswirtschaft brach er ab. 1971 promovierte er über Albert Camus und ist seither als freier SchriftstellerSchriftsteller tätig. Zu seinen wichtigsten Werken zählen die literarischen BücherBuch Heißer Sommer (1974), Morenga (1978), Kerbels Flucht (1980), Der Mann auf dem Hochrad (1984), Der Schlangenbaum (1986), Rennschwein Rudi Rüssel (1989), Die Entdeckung der Currywurst (1993), Johannisnacht (1996), Rot (2001), Am Beispiel meines Bruders (2003), Der Freund und der Fremde (2005) sowie Vogelweide (2013).

3.2.1. »ProduktionsbedingungenProduktionsbedingung« und »schreibtechnische Dinge«

Uwe TimmsTimm, Uwe Referenzen auf medientheoretische Konzeptionen stehen zu Beginn seiner PoetikvorlesungPoetikvorlesung an der Universität Paderborn im Wintersemester 1991/92, die unter dem Titel Erzählen und kein Ende veröffentlicht worden sind, im Zeichen medientechnischer Voraussetzungen, wenn er diese mit einem »Blick in den höllischen Maschinenraum« vergleicht und als Erstes auf das [93]»SchreibenlernenSchreibenlernen« im Sinne der Nachahmung von Schriftzeichen»SchreibenlernenSchreibenlernen« im Sinne der Nachahmung von Schriftzeichen wie einer »Ausrichtung«, d.h. der »Erziehung zu folgerichtigem Denken«, zu sprechen kommt.335Timm, Uwe Hier rekurriert er wörtlich auf Vilém FlussersFlusser, Vilém EssayEssay Die Schrift, über den es heißt, Flusser habe darin »darauf hingewiesen, wie das Alphabet das Denken, das sich in vorschriftlichen Kulturen im Kreise bewegte, bildhaft, also mythisch war, linear ausgerichtet hat«: »Wie durch die BuchstabenBuchstaben Bildhaftes in Zeichen umgesetzt wurde und wie das Schreiben mit dem Alphabet eine nach innen gewandte GesteGeste ist, die den Schreiber in sich hineinhorchen läßt, Vorstellungen und Kausalitäten schafft und sich dann wieder, und zwar ausdrücklich, nach außen wendet, also auf einen Leser zielt.«336 Flussers MedientheorieMedientheorie als Fundament und Folie von Timms Poetologie von Schrift und Schreiben [94]findet sich hier ausdrücklich erwähnt; am Nächsten kommt er ihr in der Überlegung, die Schrift sei damit »im ursprünglichen Sinne politisch«,337Flusser, VilémGeste womit Timm nicht nur Flusser weiter denkt, sondern auch Ergebnisse der jüngsten literaturwissenschaftlichen SchreibprozessforschungSchreibprozessforschung vorweg nimmt.338Stingelin, Martin

An dieser Stelle, an der TimmTimm, Uwe seine eigenen Erfahrungen beim Erlernen von ›RechtschreibungRechtschreibung‹ im Sinne eines Erlernens »des Alphabets, der Schrift« rekapituliert, wird dessen Wirkung mit einer Zwanghaftigkeit gleichgesetzt; sie will er allein schon in der »FormForm der Schrift«»FormForm der Schrift« erkennen; es sei die »Rechtschreibordnung, die, wie ein Korsett der gesprochenen Sprache« anliege, sie verfeinere, gliedere, aber auch beenge – im Rechtschreiben liege ein »permanenter Zwang«, der nur ertragbar werde, »weil wir ihn so lange einüben, daß wir ihn schließlich nicht mehr oder kaum noch bemerken«.339Timm, Uwe Die konkrete Konsequenz, die Timm mit FlusserFlusser, Vilém aus einer solchen Lernerfahrung zieht, besteht darin, dass er die eigene Schriftsprachlichkeit an der Mündlichkeit ausgerichtet sieht, und dies vor allem mit Hilfe eines ›Werkzeuges‹: durch Erzählen.340Timm, UweFormSchreibweise

 

Von einer solchen, von Irritation und Unsicherheit geprägten Schreiberfahrung leitet TimmTimm, Uwe auf die FormForm des literarischen Schreibens über; er privilegiert das mündliche Erzählen, das ihm im Alltag am Deutlichsten ausgeprägt erscheint, und stellt es in eine Reihe mit dem literarischen Erzählen, jedoch mit einer zentralen Differenz: Ein wesentlicher Unterschied zwischen alltäglichem Sprechen/Erzählen und dem literarischen liegt für ihn in dessen Interesse für »gesellschaftlich unbewußte Verhaltensmuster«, für »Wahrnehmungsmuster« und »Wahrnehmungsmodelle« durch und von Literatur»Wahrnehmungsmuster« und »Wahrnehmungsmodelle« durch und von Literatur, die ein »anderes Sehen, Hören, [95]Riechen, Fühlen und auch Denken« evozieren.341 Darin bleibt aber der Modus der Schrift-Produktion zentral, d.h. die »ProduktionsbedingungenProduktionsbedingung« und »schreibtechnischen Dinge« von und in der Literatur,342 womit Timm wiederum an FlusserFlusser, Vilém anschließen kann.343Flusser, Vilém Wie dieser hebt er seine Neugierde für Arbeits- und Schreibtische hervor, wenn er bedenkt, dass es eine »vertrackte, höchst komplizierte Homologie« zwischen »dem Schreibtisch, der Lampe und dem, was und wie geschrieben wird«, gebe.344Timm, Uwe Timm konstituiert aus dieser ›Schreibtisch-Lage‹ seine ›Schreib-ÄsthetikÄsthetik‹ als jene bereits erwähnte ›Ästhetik des Alltags‹. Er sagt etwa über das ›Aussehen‹ von Schreibtischen: »Der angespitzte Bleistift, das aufgeschlagene BuchBuch, der Zettel, der Kleber-Stick, die ZeitungZeitung, die Tasse Kaffee, die Blumen in der Vase, all diese Dinge tragen etwas von jener scheinbar belanglosen Zufälligkeit in sich, als etwas von dem Alltäglichen.«345

Vom ›Aussehen‹ von Schreibtischen schließt TimmTimm, Uwe keineswegs auf die »Qualität der darauf geschriebenen Literatur«, erkennt darin jedoch, wie er es mit BaudrillardBaudrillard, Jean bestimmt, ein System der DingeSystem der Dinge, das als Momentaufnahme des Schreibtisches darüber etwas aussagt, was den Schreibenden »zum jeweiligen Zeitpunkt beschäftigt oder auch beeinflußt hat.«346 Baudrillard erblickt in seinem gleichnamigen, von Timm zitierten BuchBuch einem solchen System entsprechend eine »ergiebige Quelle der EntwürfeEntwurf und Vorstellungen«;347Baudrillard, Jean Timm hebt hier die »den Dingen anhaftenden Geschichten«348Timm, Uwe hervor, was er mit einem Beispiel demonstriert: Er beschreibt seinen eigenen Schreibtisch, auf dem sich ein »kleiner silberner Stab, den man aufschieben kann zu einem Zahnstocher«, befinde, den er »früher zum Reinigen der Schreibmaschinentypen« benutzt habe – und der im Übrigen auch zum Anlass für seinen Roman Der Mann auf dem Hochrad (1984) wurde.349

[96]Für den vorliegenden Kontext entscheidender als dieser eher motivische Aspekt ist der materialästhetischeMaterialästhetikMaterialästhetik und Neue MedienNeue Medien: TimmsTimm, Uwe poetologischer Text thematisiert ausgehend von der ›Unterlage‹ und dem ›Ort‹ des Schreibens (dem Schreibtisch) sodann dessen Werkzeug in seiner modernen FormForm, d.h. als PCPC bzw. LaptopLaptop, womit Timm erneut FlusserFlusser, Vilém folgt. Bei Timm heißt es etwa über das Schreiben am ComputerComputer: »Die Schrift leuchtet auf, ein Prozeß ähnlich dem, denke ich, wie er auch im KopfKopf stattfindet, denn das Denken hat auch mit elektrischen Strömen zu tun«;350 und bei Flusser: »Daß Denken ein Vorgang ist, der mit Elektronen, Protonen und ähnlichen Teilchen zu tun hat, ist eine Erkenntnis«,351Flusser, Vilém wobei Timm ausdrücklich auch Flussers Begriff der ›informatischen RevolutionRevolution‹352Timm, Uwe anführt.353Flusser, VilémRevolution

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