Schirach

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Kultstätte: Der Ehrensaal der SA mit der »Blutfahne« in der Geschäftsstelle der NSDAP in der Münchner Schellingstraße 50. Foto: Heinrich Hoffmann.


Eva Braun im »Photohaus Hoffmann« 1930. Braun war seit 1929 bei Hoffmann angestellt und lernte über ihn Hitler kennen. Offiziell blieb sie bis 1945 Angestellte des Unternehmens Hoffmann. Foto: Heinrich Hoffmann.

Zwar gab es durchaus noch starke interne Widerstände, die sogar in einer von 31 Gruppen unterzeichneten Denkschrift endeten, in der Schirachs charakterliche und organisatorische Fähigkeiten massiv bezweifelt wurden. Diese Intrige organisierte sein Stellvertreter Reinhard Sunkel (1900–1945), der Reichsorganisationsleiter des NSDStB. Hitler schätzte aber Schirachs Fähigkeit, neue bürgerliche Wählerschichten anzuziehen und unter den Studenten Unterstützung zu finden. Daher stellte sich Adolf Hitler ostentativ und mit klaren Worten bei der Versammlung von Studentenführern hinter Baldur von Schirach: »Seit Pg. von Schirach die Führung des Studentenbundes hat, hat er in diesem Sinne unschätzbare Dienste dadurch geleistet, daß in Zeiten allgemeiner Depression und Stagnation immer dieser große Antrieb hineinkam: Es geht vorwärts!

Wenn der Theoretiker sagt, die NSDAP sei eine oberflächliche Partei, dann kann ich ihm nur antworten: Sie sind eben nur ein Theoretiker. Es handelt sich um eine Feldschlacht und nicht um das Betreiben kriegswirtschaftlicher Studien. Wir haben keine Zeit, Führer zu erziehen, die geistig hoch gebildet sind, denn wir befinden uns in einem Riesenschwung … Pg. von Schirach hat verstanden, auf was es ankommt: ausschließlich auf die grandiose Massenbewegung … Herr Sunkel141, ich bin jetzt das alte Frontschwein, das für seinen Kameraden eintritt und ihn auf Hieb und Stich deckt!«142

Nach dieser Rede bei der 5. Führerringsitzung am 2. Mai 1931143 brach die Berliner Kritik, die Reinhard Sunkel forciert hatte, endgültig zusammen, der »Rebell« Sunkel wurde aus dem NSDStB ausgeschlossen.

Schirach hatte nicht nur Sunkel kaltgestellt und durch die Ernennung zum Organisationsleiter neutralisiert, sondern reklamierte auch den Erfolg seines zweiten Gegners, des aus Hamburg stammenden Diplomlandwirts Walter Lienau (1906–1941), für sich. Lienau war – obwohl NSDStB-Funktionär – in Graz beim 14. Deutschen Studententag zum Vorsitzenden gewählt worden. Schirach meldete Hitler diesen Erfolg, der angeblich nur deswegen zustande kam, weil er verzichtet hatte, selbst anzutreten. Schirach hätte aber gar keine Chance gehabt, gewählt zu werden, da er kein Corps-Student war. Lienau hingegen war zeitweise aktives Mitglied beim Kösener Corps Isaria München gewesen.144 Zwar hatte der NSDStB damals nur viertausend Mitglieder, aber bereits 60.000 Wähler unter den rund 120.000 Anhängern der Deutschen Studentenschaft.145 Lienau seinerseits versuchte aber aus Konkurrenzgründen dennoch, Schirach loszuwerden, beschwerte sich bei Heß und stellte am 22. Oktober 1931 sogar einen Ausschlussantrag145, zog sich dann aber aus der Hochschularbeit zurück. So verwirrend waren damals die diversen internen Intrigen in der nationalsozialistischen Studentenorganisation, die Schirach aber geschickt für sich ausnützen konnte.146

Ein Duell, das nicht stattfindet

Schirach überlebte politisch auch eine weitere, selbst verschuldete Auseinandersetzung, die fast mit einem Duell geendet hätte – und das noch dazu mit einem alten Freund und Kameraden aus der Zeit der Knappenschaft in Weimar: Hans Donndorf. In der Silvesternacht 1929/30 hatte Schirach die Frau aufgesucht, die Donndorf, inzwischen SA-Mann und Angestellter der großherzoglichen Schatullenverwaltung, heiraten wollte, eine gewisse Elfriede M., und mit ihr geschlafen. Auf die heftigen Vorwürfe seines Weimarer Jugendfreundes reagierte Schirach mit einem Schreiben in zynisch-herablassendem Ton:

»Du bist scheinbar erzürnt, weil das kleine Mädchen, das Du als Madonna verehrt hast, eine höchst gewöhnliche kleine Katze ist. Daß Du diese Deine Enttäuschung so ungerecht in einen Groll gegen mich verwandelst, ist nun sehr töricht. Schließlich war es ihre Sache und Angelegenheit des Gewissens, ob sie Dir treu war oder nicht. Du warst mit ihr nicht verlobt, so war zwischen ihr und mir keine Schranke. Ich möchte nicht durch diesen Brief den Anschein erwecken, als legte ich der Episode irgendwelche tiefere Bedeutung bei. Für mich war das kleine Mädchen (ich habe sogar ihren Namen vergessen!) eine amüsante Nichtigkeit. Auch für Dich hoffe ich, daß Du so reif werden mögest, daß Du eines Tages über die ganze Angelegenheit so herzlich lachen kannst wie ich.«147

Donndorf beschimpfte Schirach daraufhin als »Judenjüngling«, dieser wiederum forderte im Gegenzug für diese Beleidigung Genugtuung durch ein Pistolenduell mit dreimaligem Kugelwechsel, das aber zwischen Parteiangehörigen verboten war. Donndorf revanchierte sich mit einem Parteigerichtsverfahren, bei dem ein weiterer alter Bekannter aus Weimar, Hans Severus Ziegler, Stellvertretender Gauleiter in Thüringen aus dem Weimarer Netzwerk, gegen Schirach aussagte. Die Beziehung zwischen den beiden war aufgrund »mancherlei Motive«, die nicht näher ausgeführt wurden, getrübt, sodass Ziegler Schirach schließlich vorwarf, seine Machtstellung in der Partei in »abwegiger Weise« zu missbrauchen.148 Letztlich musste Schirach, der gegen Donndorf noch eine »Verrufserklärung« angestrengt hatte, auf einen Vergleich eingehen, da er überdies in Parteikreisen der Feigheit beschuldigt wurde, nachdem er sich bei einer von angeblich kommunistischen Jugendlichen gestürmten Versammlung an der Universität Jena in ein Hinterzimmer geflüchtet hatte.

In der Retrospektive lassen sich alle diese Vorhaltungen und Gerüchte nicht mehr verifizieren, aber in der Dichte zeigen sie doch, dass Schirach in dieser Frühphase seiner Karriere ein selbstbewusstes und auch herrisches Auftreten hatte und einen aufwendigen Lebensstil führte – und das, obwohl er, wie er selbst 1931 in seinem SA-Führerfragebogen angab, auf »Aufwandsentschädigungen« der SA bzw. NSDAP angewiesen war. Bereits damals fuhr er immerhin einen Mercedes-Benz 8/38 – unklar ist aber, ob die viertürige Limousine oder das fünfsitzige Spezial-Cabriolet.

Das palastartige Wohnhaus des Malers Franz von Defregger in der Münchner Königinstraße 31: Die Schirachs wohnten hier ab 1932 im Parterre.

In seiner Münchner Studentenzeit wohnte Baldur von Schirach, wie erwähnt, in einer Dreizimmerwohnung bei Hugo Bruckmann, der auch Major der Reserve war, in der Leopoldstraße 10149, 1932 war er dann in der Königinstraße 31 gemeldet.150 Schirach logierte hier im Parterre des palaisartigen Wohnhauses des erfolgreichen Osttiroler Genre- und Historienmalers Franz Defregger, das der Architekt des Neuen Rathauses in München, Georg Hauberrisser, geplant hatte. Im ersten Stock hatte der Maler Carl Theodor von Piloty eine opulente Wohnung mit kleinformatigen Repliken seiner großen Museumsgemälde – wie etwa des berühmten »Seni vor der Leiche Wallensteins« –, die auch Adolf Hitler in Schirachs Wohnung bewunderte, in der sich ebenfalls Piloty-Kopien befanden. Schließlich erwarb auch der »Führer« selbst eine dieser Repliken.151

Der Kämpfer und das Opfer

Gerne inszenierte sich Baldur von Schirach auch in der Rolle des verfolgten Nationalsozialisten. So nützte er seine Verhaftung bei einer Auseinandersetzung nach einer Anti-Versailles-Kundgebung an der Universität Köln, um sich als Opfer der Weimarer Republik zu stilisieren. Er sei nur deshalb verurteilt worden, weil er gegen Frankreich (d. h. gegen den Friedensvertrag von Versailles, Anm. d. Verf.) gekämpft hätte. Geschickt nützte er den Auftritt vor Gericht – der Staatsanwalt hatte vier Monate Gefängnis gefordert – zu einer Anklage gegen die Republik: »Es steht in ihrer Macht, mich vier Monate festzuhalten und einzusperren, das wird aber an meinem Kampf, der gleichzeitig der Kampf des jungen Deutschlands ist, nichts ändern können. Nach Ablauf dieser vier Monate werde ich von Neuem den Kampf gegen Versailles auf die Fahnen der deutschen Hochschulbewegung schreiben, und Nichts wird mich daran hindern können.«152 Nach acht Tagen in Einzelhaft erhielt Schirach eine dreimonatige Gefängnisstrafe auf Bewährung. Auch ein Jahr später, am 13. April 1932, berichtete noch das Tagblatt in Linz von diesem Prozess im Juli 1931, um zu zeigen, wie die SA Richter unter Druck setzen konnten. 1931 waren nach einer Enthüllung der Rheinischen Zeitung in Köln per Standartenbefehl sämtliche verfügbaren SA-Männer in Zivil zum Gericht als Zuhörer und zur Demonstration von Macht bestellt worden.

Hier zeigte Schirach – wie viele andere junge Männer seiner Generation, die nicht im Ersten Weltkrieg gedient, aber die Propaganda darüber bereits wahrgenommen hatten – ein typisches Verhaltensmuster: Sie suchten ständig den Kampf – hier konkret den »Kampf gegen Frankreich«. Dies ging bei Baldur von Schirach so weit, dass er selbst gegenüber dem Hamburger Gauleiter und ehemaligen Frontsoldaten Albert Krebs, als ihm dieser einen Fehler in der Kriegsdarstellung aus dem Ersten Weltkrieg nachwies, auf die Schulter klopfte und selbstbewusst meinte: »Glauben Sie mir nur, lieber Doktor Krebs! Das ist doch so gewesen, wie ich es sagte!«153 Krebs nannte Schirach 1959 in seinem Buch über die Frühzeit der NSDAP einen zu jungen »überzüchteten Intellektuellen und Ästheten«154, der sich damals innerhalb der NSDAP noch nicht wirklich ideologisch festgelegt hatte.

 

Sinnbildlich für die permanente Sehnsucht, den Ersten Weltkrieg zu wiederholen und selbst erleben zu wollen, waren die in dieser Zeit entstandenen Gedichte Schirachs, die eine metaphysische Verbindung zwischen der Nachkriegsgeneration und den Gefallenen des Ersten Weltkrieges herstellen sollten:

Als wir noch Kinder, dröhnten die Kanonen,

und manches Kinderlachen brach entzwei,

kam eine Meldung von den Todeszonen:

»Dein Vater starb, damit die Jugend frei!«

Aus der Umgebung Hitlers war Schirach bald nicht mehr wegzudenken: Begeisterte Begrüßung durch NS-Anhänger bei einem Auftritt 1930.

Urlaub vom »Führer«: Henriette und Baldur von Schirach bei einem Spaziergang in den Tiroler Bergen.

Wehe dem Sohn, der das je kann verwinden

Und nach so großem Preis vom Kampfe schwieg!

Wir wollen unsres Daseins Sinn verkünden:

Uns hat der Krieg behütet für den Krieg! 155

Baldur von Schirach ging aus den vorhin skizzierten Konflikten gestärkt hervor, hatte er doch Hitlers eindeutige und in dieser Form ungewöhnlich starke Unterstützung erhalten. Meist ließ Hitler gerne seine Funktionäre in Konkurrenz gegeneinander um die Gunst des »Führers« wetteifern und traf häufig erst spät Personalentscheidungen.

Entscheidend für Hitlers Hilfe war sicherlich auch der Umstand, dass sich Schirach im Umfeld der Salonnière Elsa Bruckmann bewegte, die zur Irritation von Joseph Goebbels starken Einfluss auf den Parteivorsitzenden ausübte.156

Vorbildlich mit Scheitel und Braunhemd: Reichsjugendführer Baldur von Schirach. Kohlezeichnung von Karl J. Böhringer, Bayerische Staatsbibliothek.

5. EIN BRAUCHBARER JUNGE, FÄHIG UND KLUG
Schirachs Kampf um die Vorherrschaft in der NS-Jugendbewegung und die Arbeit am Führermythos

Baldur von Schirach sah sich nicht als Mann der zweiten Reihe und arbeitete unermüdlich an seinem weiteren Aufstieg. Bereits 1929 ging er gegen den ersten Reichsführer der Hitler-Jugend (HJ), Kurt Gruber (1904–1943), in die Offensive und versuchte – im Hintergrund gestärkt durch die Öffnung des NSDStB in Richtung rechter, bündischer Jugendorganisationen bzw. der Korporationen –, ihn durch einen Vertrauensmann zu ersetzen. Typisch dabei war das Verhalten Hitlers in derartigen Machtkämpfen: Er wollte letztlich sehen, wer sich von seinen Gefolgsleuten als der Stärkere behaupten würde. Durch die Gründung von Schülerbünden versuchte Schirach zumindest im Bereich der jüngeren Jugendlichen, der HJ Konkurrenz zu machen. Aufgrund intensiver Bemühungen und einer Vortragsreise, die ihn an neunzehn Universitäten führte, setzte sich Schirach vorerst durch.

Mit Joseph Goebbels gewann Schirach überdies einen wichtigen Verbündeten in der höchsten Ebene der Parteihierarchie. Am 7. August 1928, in der heißen Phase des Machtkampfes zwischen Gruber und Schirach, schrieb der Berliner Gauleiter begeistert in sein Tagebuch: »Die Hitler-Jugend kommt nun in Schuß. Ebenso der Studentenbund, mit dessen Reichsführer v. Schirach ich gestern eine lange Besprechung hatte. Ein feiner Kerl. Edelmann. Fähig und klug.«157

Goebbels trat auch ein Jahr später, am 4. Juli 1929, bei einer Versammlung in Hamburg mit Schirach als Vorredner auf und wurde spontan bei der Nachfeier zum Ehrenmitglied des Studentenbundes ernannt.158 Wenige Tage nach dieser Hamburger Veranstaltung sprach in Berlin auch Hitler auf einer Versammlung des NSDStB. Die einstündige Rede wurde, so das Urteil Goebbels’, zur »vernichtenden Abrechnung mit dem System«.159 Hitlers Propagandachef war so von Schirach angetan, dass er mit ihm, dem Zeichner der Kampfzeit Hans Schweitzer160 und dem NS-Dichter Heinrich Anacker einen gemeinsamen Lyrikband mit dem Titel Der unbekannte S.A. Mann. Ein guter Kamerad der Hitlersoldaten! plante. Letzten Endes erschien das Buch, aus dem der folgende Appell zur Zertrümmerung der Demokratie stammt, anonym: »Steht auf, Ihr jungen Aristokraten eines neuen Arbeitertums! Ihr seid der Adel des »Dritten Reichs«! Was Ihr mit eurem Blut sät, das wird als herrliche Ernte aufgehen! Ballt die Fäuste! Strafft die Stirnen! Leistet und arbeitet. Der Kampf wird Entscheidung sein für die neue Aristokratie! Zertrümmert die Gleichheit der Demokratie, die dem jungen Arbeitertum den Weg zur geschichtlichen Vollendung versperrt. Demokratie ist Selbstmord an Stirn und Faust. Protestiert gegen die Gleichheit! Wehrt Euch dagegen, mit jedem Trottel auf eine Stufe gestellt zu werden!«161

Anknüpfend an den Mythos des »Unbekannten Soldaten« aus dem Ersten Weltkrieg sollte ein neuer Mythos des unbekannten SA-Mannes geschaffen werden, der gegen die Demokratie und für den Nationalsozialismus ohne Gedanken an eine Belohnung oder seine Sicherheit bis zum Tod kämpft.

Schirachs weitere Treffen mit Goebbels 1930 fanden in Gegenwart einer jungen, 17-jährigen Frau an seiner Seite statt: »Henny Hoffmann, die Tochter des Leibfotografen und privaten Freundes von Adolf Hitler, Heinrich Hoffmann.« Die beiden jungen Leute lernen sich im Frühling 1930 in der Redaktion der Studentenbund-Zeitschrift kennen. Henriette, die ehrenamtlich beim Versand der Zeitschrift und beim Verteilen von Flugblättern mithalf, erinnerte sich später: »Eines Tages rannte ein junger Mann in hellem Anzug die Treppe herauf, den Yankee Doodle pfeifend; er war eben aus Amerika zurückgekommen, er war der Chef, Herausgeber und Redakteur, der Führer des Studentenbundes, Redner bei den Astawahlen (sic! AStA-Wahlen) und eigentlich stud. phil., dreiundzwanzig Jahre alt, Baldur von Schirach.«162 Der junge »Chef« erzählte bei Kaffee und Apfelkuchen von Amerika und so kam man sich rasch näher – aus der Sicht von Goebbels, der ständig Frauen bedrängte, war »die kleine Hoffmann … ein reizendes Ding«.163 Gemeinsam besuchten sie eines Abends ein »romantisches Konzert« mit Werken von Schumann und Schubert.164 Im Jänner 1933, wenige Tage vor der Machtübernahme Hitlers, wurde das erste Kind der Schirachs, Tochter Angelika Benedikta, geboren.

Durch Henriette Hoffmann baute Schirach eine ganz persönliche Nähe zu Hitler auf, noch enger als über seine Weimarer Verbindungen oder den Salon der Bruckmanns. Auch politisch stellte sich Schirach damals früh auf die richtige Seite: für Hitler und gegen Gregor Strasser, den mächtigen Reichsorganisationsleiter der NSDAP, dessen sozialrevolutionären und antikapitalistischen Ideen von Hitler abgelehnt wurden. Goebbels hielt ihn bereits für einen »brauchbaren Jungen«.165 Am 31. März 1932 heirateten Baldur von Schirach und Henriette Hoffmann. Adolf Hitler und SA-Chef Ernst Röhm fungierten als Trauzeugen, die Feier fand in Hitlers Münchner Privatwohnung statt.

Bei seinen Versuchen, sich in Hitlers Umgebung unentbehrlich zu machen, kam der ambitionierte und umtriebige Studentenführer Ernst »Putzi« Hanfstaengl, dem Auslandspressechef des »Führers«, in die Quere. Wie Hanfstaengl später in seinen Memoiren berichtete, nahm Schirach, der sich 1930 bei ihm um die Stelle eines »Adjutanten« beworben hatte, wegen seiner »schnoddrigen Art« aber abgelehnt worden war,166 dabei wenig Rücksicht auf die vorgesehene Kompetenzverteilung: »Eine ziemlich strapaziöse Prüfung des Himmels war für mich auch Baldur von Schirach, der von sich aus Unterhaltungen Hitlers mit Engländern und Amerikanern in die Wege leitete und sie dann dolmetschte oder sich in meine Gespräche mit Ausländern einmischte, um meine bewußt auf Moderato gestimmten Darlegungen mit dem Furioso seines jugendlichen Radikalismus zu übertönen.« So erwähnt Hanfstaengl ein Gespräch mit dem britischen Konservativen Robert Boothby, einem Vertrauensmann Winston Churchills, bei dem sich Schirach zu der Bemerkung hinreißen ließ: »Und wir Studenten wollen überhaupt keine Juden als Lehrer!«167 Glaubt man Hanfstaengl, so spielte Schirach später bei der Entfernung des Auslandspressechefs aus seinem Amt eine gewisse Rolle: »Eine noch direktere Warnung kam von einer angesehenen Parteigenossin. Sie und ihre Familie waren über das Auftreten Baldur von Schirachs zunehmend empört. So nahm sie sich eines Tages ein Herz und suchte mich auf, um zu erzählen, Schirach habe einmal etwas zuviel getrunken und ihr nahegelegt, sich von mir fernzuhalten; ich sei auf der schwarzen Liste und würde bald beseitigt werden.«168

1932 publizierte Schirach im Vorfeld der letztlich erfolgreichen Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932169 gemeinsam mit seinem Schwiegervater Heinrich Hoffmann, dem »Photoberichterstatter der Reichsleitung der NSDAP«, ein sehr erfolgreiches Propagandabuch, das anhand von hundert Fotos von Hoffmann sowie Texten und Bildunterschriften von Schirach den Mythos Hitler nachhaltig in breite Gesellschaftsschichten kommunizierte. Hitler wie ihn keiner kennt. 100 Bilddokumente aus dem Leben des Führers wurde eine der erfolgreichsten Imagebroschüren Hitlers, die vielfache Auflagen erfuhr. 1935 waren bereits 420.000 Stück – den Angaben im Impressum zufolge – gedruckt worden:

Es folgten weitere aufwendig illustrierte Propagandabroschüren mit Geleitworten von Baldur von Schirach wie Der Triumph des Willens. Kampf und Aufstieg Adolf Hitlers (1933), Jugend um Hitler (1935) oder Hitler in seinen Bergen (1935). Der Berliner Zeitgeschichte-Verlag Wilhelm Andermann, in dem diese bebilderten Broschüren erschienen, gründete im Herbst 1932 überdies mit »Der braune Buchring« eine eigene Buchgemeinschaft, die 1938 immerhin 70.000 Mitglieder zählte. Er schuf sich damit eine zusätzliche Vertriebsmöglichkeit.170

Baldur von Schirach, der sich seit dem Frühjahr 1930 im Umfeld von Henny Hoffmann aufhielt und ihre private Nähe zu Hitler zu nutzen wusste, schaffte es bereits 1931, sich aus dem umkämpften Intrigenfeld der Studentenbewegung und Hitler-Jugend abzusetzen. Entscheidend für seine weitere Karriere wurde, so Schirach, ein privates Abendessen mit Hitler im Oktober 1931. Er hatte den »Führer« zu sich in die Wohnung eingeladen, in seinen Erinnerungen171 präsentiert er zwei Varianten dieses Treffens, das ein Meilenstein für seine weitere politische Karriere werden sollte – letztlich führte, so Schirachs Darstellung, dieses Abendessen mit dem »Führer« zu seiner Ernennung zum Reichsjugendführer am 30. Oktober 1931. Schirachs stetige Arbeit war also erfolgreich gewesen und er konnte Hitler überzeugen, dass sein Konkurrent Kurt Gruber trotz diverser Aufmarscherfolge der Hitler-Jugend nicht der richtige Mann für die Mobilisierung der deutschen Jugend war. Hitler selbst hatte Zweifel, ob der proletarische Kurt Gruber aus Sachsen reichsweit eine anerkannte Figur der HJ werden könnte. Insgesamt war die NSDAP in Sachsen »nationalrevolutionär« ausgerichtet.172 Gruber sah die Wurzeln der HJ im Arbeitermilieu, in direkter Konkurrenz mit Sozialdemokraten und Kommunisten: »Diejenigen, die heute noch […] als Marxisten demonstrieren, machen es entweder aus Dummheit oder aus Gewohnheit […] heute marschiert eine andere Armee auf den Straßen. Die braunen Bataillone der nationalsozialistischen Freiheitsbewegung. Schaffende deutsche Arbeiterjugend, die unter den blutroten Hakenkreuzfahnen […] sich auf ihre völkische und rassische Kraft besonnen hat, und bereit ist, die Herrschaft des Untermenschentums auf der Straße zu brechen.«173

Stolz kann Schirach 1936 eine erste Bilanz seiner Arbeit ziehen: Noch nie hätte sich ein Bild »so tief und beherrschend« in »Millionen und aber Millionen Herzen« eingebrannt wie das Antlitz Hitlers. Seite aus dem 1939 von Heinrich Hoffmann herausgegebenen Sonderheft »Adolf Hitler. Ein Mann und sein Volk« mit einem Text von Baldur von Schirach.

 


Beim Hochzeitsessen in der Wohnung Hitlers am Prinzregentenplatz war die Stimmung nicht gerade ausgelassen (oben). Angeblich mokierte sich der »Führer« über den großen Rinderbraten, den die Köchin servierte. Unten: Henriette »Henny« Hoffmann, hier in Badekleidung, ist neunzehn, als sie Baldur von Schirach heiratet. Fotos: Heinrich Hoffmann.

Trotz des Erfolges der NSDAP bei den Reichstagswahlen am 14. September 1930, als sie mit 107 Reichstagssitzen und 6,4 Millionen Stimmen zweigrößte Fraktion wurde, blieb die »Bündische Jugend«174 bei 50.000 Mitgliedern, die HJ lediglich bei 18.000 Mitgliedern.175 Nach seiner Ernennung zum Reichsjugendführer erhielt Baldur von Schirach den Rang eines Gruppenführers der SA. Am 29. Oktober 1931 war bereits der Rücktritt des sozialrevolutionär bewegten Gruber, der in die Reichsleitung der NSDAP weggelobt wurde, bekannt gemacht worden. Doch vorerst sollte Schirach nicht direkt die HJ leiten, sondern erhielt innerhalb der obersten SA-Führung eine neue Dienststelle als »Reichsjugendführer« (R.J.F.) und unterstand der Obersten SA-Führung. Die HJ sowie der NS-Schülerbund blieben vorläufig unter der Führung von Theodor Adrian von Renteln, einem Deutsch-Balten, der seit 1917 in Deutschland lebte und Gruber nachfolgte.

Die Begeisterung des Berliner Gauleiters Joseph Goebbels für Schirach riss indes nicht ab, am 22. November 1931 notierte er in sein Tagebuch: »Schirach ist da. Nobler, tapferer Junge. Und voll Geist, mit bravem Charakter.«176

Zwar war die HJ auch 1932 – trotz des Zuwachses auf 40.000 Mitglieder – noch ein kleiner Jugendverband in Deutschland, verglichen mit zwei Millionen Mitgliedern in Sportjugendverbänden, einer Million Kinder und Jugendliche in Katholischen Jugendverbänden oder 600.000 Mitglieder, die in Evangelischen Jugendverbänden organisiert waren – selbst der Kommunistische Jugendverband (55.000), die Bündische Jugend (70.000), die Sozialistische Arbeiterjugend (90.000) und die Gewerkschaftsjugend (400.000) wiesen zumindest auf dem Papier mehr Mitglieder auf.177

Im Verlauf des Jahres 1932 baute Schirach seine privaten und politischen Beziehungen zu Adolf Hitler und anderen Spitzenfunktionären der NSDAP weiter aus. Schirach hatte nicht zufällig sein erstes Quartier in München in der Schellingstraße 29 bezogen, wo er in seiner Wohnung die Geschäftsstelle des Nationalsozialistischen Studentenbundes eingerichtet hatte. Weitere Mieter in dem Haus waren 1932 der erwähnte Theodor Adrian von Renteln und Kurt Gruber.178 Ganz in der Nähe, in den Hinterhofräumen der Schellingstraße Nr. 50, hatte sich die Reichsgeschäftsstelle der NSDAP etabliert, gegenüber befanden sich die Redaktion und Druckerei des Völkischen Beobachters, auf Nr. 62 die »Osteria Bavaria«, das von Hitler bevorzugte Restaurant.179 Schirach wusste – auch aufgrund seiner adelig-großbürgerlichen Herkunft –, wie wichtig die logistische Nähe zu den Schaltstellen der politischen Macht war.

In der Geschäftsstelle des Studentenbundes traf er wie erwähnt auch erstmals seine spätere Ehefrau Henny Hoffmann, die für ihn ganz den »mondänen« Mädchentyp verkörperte: »Kastanienbrauner« Bubikopf, ein für damalige Verhältnisse ungewöhnliches Make-up, modische Pullover und kurze, enge Röcke, Seidenstrümpfe und hochhackige Schuhe – der junge Gefolgsmann des »Führers« war fasziniert.180

Über Heinrich Hoffmann, Hitlers Freund und Fotograf, der ein Quasi-Monopol auf Porträtbilder und meist inszenierte Privataufnahmen von Adolf Hitler hatte, lernte er schließlich Henny persönlich näher kennen. Bei Hoffmann, der ein international bestens ausgebildeter und vernetzter Fotograf war und zahlreiche Persönlichkeiten geschickt vor der Kamera in Szene setzte, traf Schirach eine weitere »Schöne« – es war Eva Braun, die Hoffmanns Postkartenabteilung betreute und später zur Geliebten Adolf Hitlers werden sollte.

Nach der Hochzeit mit Henriette Hoffmann am 31. März 1932 und einem Skiurlaub in Tirol bezog das junge Paar eine luxuriöse Wohnung in der Königinstraße 31 am Englischen Garten, die es mit finanzieller Unterstützung des wohlhabenden Schwiegervaters Heinrich Hoffmann finanzieren konnte.

Bereits zwölf Tage nach der Hochzeit besuchte Hitler am Abend Schirach in seiner Wohnung – um über die Affäre Röhm zu sprechen, dessen intimer Briefwechsel mit dem ebenfalls homosexuell veranlagten Mediziner Dr. Karl-Günther Heimsoth in Kopie dem sozialdemokratischen Publizisten Helmuth Klotz zugespielt und veröffentlicht worden war. Noch versuchte Hitler, Röhm zu halten, der über ausgezeichnete Kontakte zu rechtskonservativen und bürgerlichen Parteikreise verfügte. Zur Lösung des »Problems« Ernst Röhm, der eben für ihn als Trauzeuge fungiert hatte, konnte Schirach wohl kaum etwas beitragen. Heimsoth, der publizistisch für die Rechte der Homosexuellen eingetreten war, verschwand im März 1934 auf mysteriöse Weise, nachdem ihn die Gestapo in »Schutzhaft« genommen hatte.

Im Mai 1932, im Alter von 25 Jahren, wurde Schirach von Hitler zum Reichsleiter der NSDAP für Jugenderziehung ernannt. Dieser übernahm im Juni die Führung der HJ und zog sich gleichzeitig vom Studentenbund, der ihn eigentlich nie wirklich interessiert hatte, zurück.

Schirach versuchte einerseits – zur Stärkung der emotionalen Bindung der Mitglieder –, bündische Elemente in die Jugendarbeit der HJ einzubringen, andererseits wurde die Brutalität des Straßenkampfes weiter in die HJ hineingetragen, die immer wieder den Saalschutz übernahm und auch bei Demonstrationen aktiv war.181 1932 kamen bei derartigen Aktivitäten 21 Jugendliche der HJ ums Leben – für Schirach der Anlass, dazu in Schriften und Reden einen neuen Blutopfermythos zu entwickeln. Als typisches Beispiel dafür mag folgendes Gedicht Schirachs gelten, verfasst auf den 15-jährigen Hitlerjungen Herbert Norkus, der am 24. Jänner 1932 beim Verteilen von NS-Flugblättern in Berlin-Moabit von jungen Kommunisten zusammengeschlagen und erstochen worden war:

Gemeinsam mit Schwiegervater Heinrich Hoffmann arbeitete Schirach erfolgreich am Image des »Führers«: Der von ihm eingeleitete Band »Hitler wie ihn keiner kennt. 100 Bild-Dokumente aus dem Leben des Führers« (unten links) und ähnliche Nachfolgewerke fanden zu Hunderttausenden Verbreitung.

Mein Herz brennt heiß und Deine fahle Hand

und Deine Stille stört mir jede Stunde,

und Deine Augen, die ich nie gekannt,

sind stets vor mir. Ich bin von Dir gebannt,

Du Ewiger. Du sprichst mit stummem Munde.

O bleib mit mir, Geläuterter, im Bunde

und quäle mich, dass ich nichts andres weiss,

als Deine Größe bis zum tiefsten Grunde

in Not und Kampf und mit der Todeswunde.

Und was ich tue, sei auf Dein Geheiss [ ]182

Zum dritten Jahrestag des Mordes an dem Berliner Hitlerjungen, am 24. Jänner 1935, hielt Schirach bei einer Fahnenweihe für das »Deutsche Jungvolk« auf der ostpreußischen Marienburg eine Gedenkansprache, in der er Selbstlosigkeit und Treue als Grundtugenden der nationalsozialistischen Jugend einforderte.183

Nach dem deutlichen Wahlerfolg bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 wurde Schirach trotz seiner Jugend eines der 230 Mandate der NSDAP anvertraut, die zur stärksten Partei in der Geschichte der Weimarer Republik geworden war. Nur 75 Mandate fehlten auf die absolute Mehrheit. Die NSDAP hatte 37,3 Prozent der Stimmen erzielt, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 21,6 Prozent und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 14,3 Prozent. Die NSDAP hatte übrigens den höchsten Adelsanteil unter ihren Abgeordneten – mit Schirach weitere elf Abgeordnete aristokratischer Herkunft, die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) stellte nur neun.184 Auch im Preußischen Landtag waren zehn Adelige in der NSDAP-Fraktion vertreten.

Aus seiner Ablehnung der parlamentarischen Demokratie machte Schirach keinen Hehl. In einer Rede am 31. Mai 1932 in der Grazer Industriehalle vor Tausenden Anhängern der NSDAP umriss er bereits vor den Wahlen – ausgehend von einer sehr dramatischen Schilderung des Mordes an dem Hitlerjungen Herbert Norkus – unmissverständlich das eigentliche politische Ziel: Selbst der Eintritt in eine Koalitionsregierung »sei aber nur der Anfang. Das wirkliche Ende heißt: Die nationalsozialistische Diktatur«.185 Bemerkenswert die eher untypische Schlussbemerkung Schirachs, die offensichtlich auf das katholische Publikum in der Steiermark ausgerichtet war: »Mit uns kämpfen nicht die Lebendigen und die Toten, sondern Gott im Himmel. Dieser Gott wird es fügen, daß wir sagen können, wir sind nicht Österreicher, nicht Reichsdeutsche, nicht Sudetendeutsche usw., wir sind das deutsche Volk.«186

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