Schirach

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Ein genauer Blick auf die Aufführungspraxis des Intendanten Carl von Schirach bis zum Ende der Monarchie bzw. bis zur Abdankung von Großherzog Wilhelm Ernst sowie der Entlassung Schirachs im Jänner 1919 zeigt, dass er ein konservatives Programm umsetzte und für diesen Posten als Theateramateur mit Hauptberuf Offizier nicht wirklich geeignet war. Ein enger Kontakt entstand damals bereits zum rechtskonservativ-völkischen Literaturkritiker Adolf Bartels, der wie die Vorfahren der Schirachs aus Schleswig-Holstein stammte. Obwohl Bartels keine abgeschlossene akademische Ausbildung hatte, sondern nur ein verbummeltes Studium vorweisen konnte, wurde er 1905 durch Großherzog Wilhelm Ernst zum Professor h. c. ernannt. Er galt mit seiner erstmals 1897 und dann mehrfach aufgelegten Literaturgeschichte Die Deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen als bedeutendster Vertreter der deutsch-völkischen und antisemitischen Literaturkritik, obwohl er in seiner Studienzeit eher philosemitisch eingestellt war. Eben dieses antisemitische Machwerk eines Dilettanten bezeichnete Baldur von Schirach im Rahmen der Nürnberger Prozesse als prägende Schlüsselliteratur seiner Jugend.

Bereits 1906 hatte Bartels eine »Feier des jüdischen Dichters«17 Heinrich Heine in Weimar verhindert. Er trat als Protagonist der »Heimatkunst« auf und nahm in seiner »Literaturgeschichte« eine »reinliche Scheidung« zwischen »Deutschen und Juden« vor, wobei er Thomas Mann unter die Juden und schlechten Literaten reihte – eine Einschätzung, die Baldur von Schirach im Übrigen nicht teilen sollte.18 Bartels vertrat im Ersten Weltkrieg deutsch-völkische Einstellungen, war im Beirat des einflussreichen antisemitischen »Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes« tätig und engagierte sich im Kreis um den Flensburger Pastor Friedrich Andersen und dem Bayreuther Laientheologen Hans von Wolzogen für das »Deutschchristentum«, das eine »Reinigung« von »volksfremden« jüdischen Einflüssen anstrebte.

Bartels Schüler und Sekretär in den Jahren 1922/23 war Hans Severus Ziegler (1893–1978), der als früher Nationalsozialist mit der Mitgliedsnummer 1317 von 1925 bis 1931 stellvertretender Gauleiter von Thüringen war und 1933 Generalintendant des Weimarer Nationaltheaters wurde. Bereits 1924 befürwortete Ziegler öffentlich nationalsozialistische Ideen und gründete die Wochenzeitung Der Völkische, aus der dann die Tageszeitung Der Nationalsozialist wurde. Für Carl von Schirach und seinen Sohn Baldur wurde der Nazi-Pionier und promovierte Germanist – Ziegler hatte seine Dissertation über »Friedrich Hebbel und Weimar« geschrieben – eine wichtige Kontaktperson.

Vorgänger Carl von Schirachs als Intendant in Weimar war der ebenfalls konservativ-national eingestellte Hippolyt von Vignau (1843–1926). Auch der um dreißig Jahre ältere Vignau war preußischer Offizier – im Rang eines Majors – gewesen und hatte in Berlin einen großen Salon19 geführt sowie das Dessauer Hoftheater geleitet. In der Diskussion um den möglichen Nachfolger fiel schließlich auch der Name von Schirach, der dann tatsächlich zum Intendanten bestellt wurde. Gerüchteweise soll ein Rittmeister von Stechow seinem Garde-Kürassier-Regimentskameraden die Stelle vermittelt haben.20 Bei der Präsentation des neuen Theaterchefs in der Presse wurde zur Unterstreichung der Musikalität auf Schirachs jüngeren Bruder Friedrich Wilhelm verwiesen, der in München als Komponist lebte, sowie auf Carls Tätigkeiten als Assistent am Kölner Stadttheater bei Direktor Max Martersteig.21 Was die Musikalität betraf, so lag man auch nicht ganz falsch – Carl von Schirach war ein passionierter Geigenspieler.

Schon vor Carl von Schirachs Amtseinführung im Oktober 1909 war die kulturpolitische Auseinandersetzung in Weimar im Sinne der antimodernen Richtung entschieden worden. Harry Graf Kessler, der von 1903 bis 1906 Direktor des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe war, und der belgische Architekt und Designer Henry Van de Velde, der seit 1908 die von ihm gebaute Kunstgewerbeschule leitete, hatten beispielsweise vor 1914 als Alternative zum rückwärtsgewandten Hoftheater einen modernen »Mustertheaterbau«22 gefordert. Hoftheaterintendant Vignau, der bereits 1900 dem kritischen Berichterstatter Professor Dr. Otto Francke amtlich die »unliebsame«23 Berichterstattung über die Neubaupläne untersagen wollte, gelang es, das moderne Baukonzept zu verhindern. Das neue, vom Architekten Max Littmann, dem Erbauer des Münchner Hofbräuhauses, entworfene Theatergebäude entsprach schließlich den ästhetischen und kulturpolitischen Vorstellungen der konservativen Kulturelite, die in dieser Architekturkontroverse offen die jüdische Herkunft des Museumdirektors Graf Kessler kritisierte. Das Verdienst Kesslers, die moderne Kunst und Architektur in das damals 33.000 Einwohner zählende, verschlafene Weimar gebracht zu haben, wusste man nicht zu würdigen.24

Schirachs Vater unterstützte bereits 1909 aktiv Bartels völkisches Projekt der »Nationalfestspiele für die deutsche Jugend«, die mit Friedrich Schillers Wilhelm Tell eröffnet wurden. Bartels schmiedete dazu Verse, die an der ideologischen Zielsetzung der »Nationalfestspiele«, die noch ganz in der Bismarckschen Tradition standen, keinen Zweifel ließen:

Ihr Söhne aller deutschen Stämme, hört!

Haltet des Deutschen Reiches heil’gen Bund!

Begraben sei die alte deutsche Schande,

Seid einig im geeinten Vaterlande! 25

Schirach senior blieb auch nach seiner Entlassung als Generalintendant des ehemals Großherzoglichen Hoftheaters im Jänner 1919 ein wichtiger Akteur im Weimarer Kunstverein sowie im Ausschuss und im Vorstand der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft.26 Wie andere Adelige und Großbürger gehörte er zu der von der Weimarer Republik und auch von der provisorischen Landesregierung des Freistaates Sachsen-Weimar-Eisenach enttäuschten Schicht selbsternannter Bildungsbürger, die bereits vor und im Ersten Weltkrieg konservativ-antidemokratische und nationalistische Ideen propagierten und die Moderne im Kunst- und Kulturbereich ablehnten und aggressiv bekämpften. So sind in weiterer Folge im April 1927 erste konkrete Beschlüsse auf Carl von Schirachs Initiative im Geschäftsführenden Ausschuss sowie im Vorstand der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft zurückzuführen, die das Verbot von politisch unliebsamen Theateraufführungen forderten.27 Eine wichtige Bühne der kulturpolitischen Tätigkeit war sein Vorsitz im Weimarer Kunstverein, dem überdies auch der schon erwähnte Germanist Hans Severus Ziegler angehörte, der mit seiner Zeitung Der Nationalsozialist eifrig die eigene Karriere förderte.28 Doch letztlich krachte es ziemlich – wohl aus persönlichen Gründen – zwischen Schirach senior und Ziegler: »Leider kann ich nun wegen der leidigen Partei-Rücksichten dem Dr. Ziegler nicht so beikommen, wie ich möchte. Denn erstens müßte man ihn eigentlich vor einen Ehrenrat zitieren und aus dem Künstlerverein werfen.«29 Ziegler sah sich als »ältesten Parteigenossen unter allen führenden Theatermenschen«.30

Carl von Schirach vertrat aber durchaus dieselbe »völkische« Linie wie Ziegler. So lehnte er im Mai 1929 die Einladung, Mitglied des neuen Franz-Liszt-Bundes zu werden, brüsk ab: »Aus grundsätzlichen Erwägungen möchte ich außer der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft nur dem ›Kampfbund für deutsche Kultur‹, zu dessen Vorstand ich gehöre, als Mitglied zugezählt werden. Die Erfahrung des Krieges- und namentlich der Nach-Kriegszeit lassen mir jede Entwicklung … auf irgend einer anderen als rein-völkischer Grundlage als aussichtslos erscheinen.«31 Schirach war dieser Verein zu international und noch dazu waren überdies, einige vorgeschlagene Vorstandsmitglieder jüdischer Herkunft. Der »Kampfbund für deutsche Kultur« verfolgte hingegen klar antisemitisch-rassistische Ziele.

»Lieb Vaterland erwache neu, auf dass Gott wieder mit uns sei!«: Die völkische Antimoderne mobilisierte die Jugend gegen die Weimarer Republik. Werbe-Ansichtskarte des Jungdeutschen Ordens, gestaltet von »Bruder Zickerow«.

2. PRÄGUNGEN UND BRÜCHE
Der Kampf gegen Kommunismus und Demokratie und die Suche nach dem »starken Mann«

Für ihren zweitgeborenen Sohn Baldur wählte das Ehepaar Schirach einen Ausbildungsweg, der als besonders modern und fortschrittlich galt: Sie schickten den Jungen, der von Ostern 1916 bis März 1917 das renommierte Wilhelm-Ernst-Gymnasium in seiner Heimatstadt32 besucht hatte, in das »Waldpädagogium« auf dem Hexenberg bei Bad Berka, etwa zehn Kilometer südlich von Weimar – für den Sohn aus adeliger Familie, der bisher liebevoll umsorgt worden war, tat sich eine neue Welt auf: ein spartanisch einfaches Leben, verbunden mit dem Erlebnis von Kameradschaft, Verantwortung, Pflichterfüllung und Unternehmungsgeist. Die Schultracht sah für die Buben »kurze Lederhosen, blaue Leinenjacken und scharlachrote Baskenmützen« vor, auf die die Dorfjugend von Bad Berka reagierte wie »der Stier auf das rote Tuch«: Bei Einkäufen im Dorf werden die Schüler regelmäßig mit einem Steinhagel empfangen – für Baldur ein »herrliches Abenteuer«.33

Eine Kurzbeschreibung des Waldpädagogiums am Hexenberg findet sich im Militär-Wochenblatt. Unabhängige Zeitschrift für die deutsche Wehrmacht, in dem 1917 eine Annonce geschaltet wurde, die insbesondere auf Kinder aus Offiziersfamilien abzielte: »Mit Einjährigenberechtigung, Realschule, Gymnasium, Realgymnasium, Erziehungsschule nach Godesberger Art: Lehrer und Hauseltern, Arzt und Erzieher arbeiten Hand in Hand zu allseitig tüchtiger Ausbildung der Jugend zur Förderung der Zurückgebliebenen, zur Pflege und Erstarkung der Starken. Eigene Landwirtschaft und Viehzucht sichern ausreichende Verpflegung.«34 Seinen Namen hatte der »Hexenberg« im Übrigen nach einer Frau erhalten, die hier 1673 als »Hexe« am Scheiterhaufen hingerichtet worden war.

 

Das Waldpädagogium Bad Berka, gegründet 1911 durch den Lehrer Dr. Emil Endemann, bestand aus mehreren Blockhäusern und existierte bis 1922. Es orientierte sich an den Ideen von Hermann Lietz zum Familienprinzip des Evangelischen Pädagogiums in Bad Godesberg.35 Das bedeutete, dass die Lehrer als »Hauseltern« mit den Schülern in eigenen Häusern untergebracht wurden. Durch das Einsetzen von »Präfekten«, d. h. älteren Schülern, die auch Strafen austeilen konnten, sollte ein letztlich streng autoritäres Unterrichtsregime umgesetzt werden. Lietz beschrieb 1910 das System folgendermaßen: »Wir führten streng die Einrichtung der Präfekten durch, welche uns Erzieher in unserer Arbeit zu unterstützen haben, so zur Selbständigkeit und Selbstbeherrschung heranwachsen und in der Pflichterfüllung und Sorge für Kleinere ernst und gewissenhaft werden; sie haben für Ordnung und Ruhe in den Schlaf-, den Arbeits-, Fahrrad-, Turngeräteräumen, der Werkstätte zu sorgen und sind für Befolgung der in Betracht kommenden Regeln verantwortlich. Durch letztere wird alles bis ins Kleinste bestimmt und Gewöhnung an feste, gut geordnete Lebensweise ermöglicht.«36

Hermann Lietz selbst scheute nicht vor Schlägen zurück, obwohl offiziell Körperstrafen als erzieherisches Mittel nicht vorgesehen waren. Lietz, ein deutscher Nationalist, der jeden Frieden im Ersten Weltkrieg ablehnte, vermeldete 1917 stolz, dass alle seine wehrfähigen Schüler der im September 1917 neu gegründeten Deutschen Vaterlandspartei (DVLP) beigetreten wären und einen militärisch kontrollierten Führerstaat anstreben würden. Im Konzept von Lietz zeigten sich durch die Einführung des »Arierprinzips« ab 1903 bereits früh klare Tendenzen zu einer rassistischen, deutsch-völkischen Eliteausbildung. Seine Schüler rekrutierten sich vor allem aus Kindern der Oberschicht, häufig waren Schüler dabei, die Probleme an anderen Schulen hatten und dort den Abschluss nicht schafften. Im Falle von Baldur von Schirach gibt es jedoch dazu keine Hinweise. In seiner Autobiografie verschweigt er konkrete Details zu seiner Schulbildung bzw. zu den Schulerfolgen.

Lehrer (»Hauseltern«) und Schüler leben zusammen in einer autoritär geordneten Gemeinschaft: Das Waldpädagogium Bad Berka, gegründet 1911, versuchte die Ideen des Reformpädagogen Hermann Lietz (oben) in die Tat umzusetzen.


Die Jugend soll für einen möglichen Krieg gerüstet sein: Generalfeldmarschall Wilhelm Leopold Colmar Freiherr von der Goltz gründete 1911 den Jungdeutschlandbund.


»Arbeitslager« des Kultur- und Rundfunkamtes der HJ in der Stadt Goethes und Schillers im Juni 1938: Der »alte Kämpfer« Hans Severus Ziegler spricht in der Weimarhalle zu den Teilnehmern.

Zwar fehlen Unterlagen oder Erinnerungen zur Situation im Waldpädagogium Bad Berka, die völkisch-nationalistische, antidemokratische und antisemitische Linie, die Lietz vorgab, ist jedoch bestens dokumentiert. Diese wurde aber von Schirach nie kritisch reflektiert, sondern höchst positiv dargestellt. Die Strategie von Hermann Lietz richtete sich gegen die drillartige Paukerschule in den Großstädten, seine Vorstellung blieb aber letztlich stark von einem evangelisch-christlichen, strengen und spartanischen Weltbild geprägt, das sowohl das wilhelminische Kaiserreich als auch den deutschen Nationalismus verherrlichte und von antisemitischen, antikapitalistischen und darwinistischen Vorstellungen beherrscht wurde.37

Ein kurzer Blick in seine Broschüre Des Vaterlandes Not und Hoffnung. Gedanken und Vorschläge zur Sozialpolitik und Volkserziehung, 1919 im Verlag des Waisenheims an der Ilse erschienen, reicht, um zu erkennen, dass Lietz bereits die »Rassenfrage« und den Antisemitismus vor dem Hintergrund einer Stärkung der deutschen Nation auch durch Maßnahmen im Bereich von »Rassenhygiene« thematisierte. Es ist daher kein Zufall, dass er auch in der NS-Zeit immer wieder zitiert wurde.

Alfred Andreesen, sein Nachfolger als Leiter der Lietz-Schulen, proklamierte 1934 etwas vollmundig, »daß alles, was Lietz in jahrelangem Kampfe anstrebte, im Nationalsozialismus zu einem großen politischen Wollen zusammengefasst« worden wäre.38 1935 schloss sich Baldur von Schirach im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Lebenserinnerungen von Lietz, die Alfred Andreesen neu herausgegeben39 und durch Briefe und Berichte ergänzt hatte, dieser Meinung an: »Ich sehe in Lietz die reinste und fruchtbarste Erziehungsgestalt unseres Volkes.«40

Schirach selbst erwähnt diese ideologischen Hintergründe und Untiefen von Lietz zwar nicht in seiner Autobiografie, dokumentiert aber ganz offen das antidemokratische kaisertreue Umfeld im Waldpädagogium Bad Berka. Als er als Elfjähriger eine rasch von Näherinnen des Heimes gebastelte schwarz-rot-goldene Fahne, die eigentlich an die 1848er-Revolution erinnerte und die Fahne der Weimarer Republik werden sollte, am Dach eines der Holzhäuser hisste, wurde er von Direktor Emil Endemann gerügt, da ja auch Schirachs Vater von den »Roten« davongejagt worden sei. Schnell holte der junge Schirach dieses »revolutionäre« Fahnenstück wieder vom Dach, denn vorerst galten in diesem Umfeld noch die kaiserlichen Farben Schwarz-Weiß-Rot.41

Baldur von Schirach passte sich rasch an und bewarf mit Internatskollegen berittene Soldaten der vorläufigen Reichswehr mit Schneebällen. 6.000 Mann sollten die Weimarer Nationalversammlung schützen, d. h. die 423 Deputierten (darunter erstmals 37 Frauen), welche die neue Verfassung ausarbeiteten.42

Die Zeit im Bubeninternat auf dem Hexenberg wurde für Schirach zur zentralen Erzählung seiner Jugend. Das gilt sowohl für seine Autobiografie aus dem Jahr 1967 als auch für sein langes Eingangsstatement bei der Hauptverhandlung der Nürnberger Prozesse 1946. Geschickt wusste er die Prinzipien des Reformpädagogen mit den Grundsätzen seiner Amtsführung als Chef der Hitler-Jugend in Einklang zu bringen: »Das ist eigentlich der Ort, wo zuerst in mir (sic!), als ich ein kleiner Junge war, dieser Gedanke der Selbstführung der Jugend in sich bildete. Denn, als ich auf dieses Landerziehungsheim kam, war ich ein Kind von 11 Jahren. Da war ein kleiner Raum in diesem Haus, der hieß der Kükenstall. In diesem Raum wohnte noch ein ganz kleiner Junge namens v. Wolzogen und ein kleiner v. Herff. Und mir wurde gesagt, Du bist nun der Stubenälteste und hast dafür zu sorgen, daß die sich morgens richtig waschen und die Ohren sauber sind usw.

Selbstführung der Jugend, Selbstverwaltung einer Jugend innerhalb einer Schulgemeinde, Verhältnis von Jugendlichen und Erziehern, ein Du, kein Sie, dasselbe, was ich nachher in der ganzen Jugend eingeführt habe. Da liegt der Ursprung. Nicht im Wandervogel so sehr, obwohl wahrscheinlich der Wandervogel wieder auf die Landeserziehungsheime einmal eingewirkt hat. Aber ich habe gar nichts mit der bündischen Jugend zu tun gehabt eigentlich.«43

Bereits in seiner ersten Aussage in der Hauptverhandlung beim Nürnberger Prozess am 23. Mai 1946 betonte Schirach diese in der Kindheit und Jugend erfahrenen Prägungen:

»Ich war zehn Jahre alt, als ich in die erste Jugendorganisation eintrat. Ich war also gerade so alt, wie die Jungen und Mädel, die später in das Jungvolk aufgenommen wurden. Es war dies der sogenannte Jungdeutschlandbund, eine Organisation, die Graf (sic! Freiherr) von der Goltz geschaffen hatte, eine Pfadfinderorganisation. Graf von der Goltz und Haeseler hatten unter dem Eindruck der britischen Boy-Scout-Bewegung Pfadfinderbünde in Deutschland geschaffen, und eine dieser Pfadfinderorganisationen war der eben erwähnte Jungdeutschlandbund. Er spielte eine bedeutende Rolle in der deutschen Jugenderziehung etwa bis 1918/1919 hinein.

Am 6. Februar 1919 trat im ehemaligen großherzoglichen Hoftheater die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung zusammen. Den 12-jährigen Baldur von Schirach zog es zu den Soldaten, die zum Schutz der Abgeordneten aufgeboten wurden.

Viel wesentlicher für meine Entwicklung war aber eine Zeit, die ich in einem Waldpädagogium verbrachte. Es war dies ein Landerziehungsheim, das ein Mitarbeiter des bekannten Erziehers Hermann Lietz leitete.

Die Idee von Lietz war, der Jugend eine Erziehung zu geben, durch die sie in der Schule ein Abbild des Staates erhielt. Die Schulgemeinde war ein Miniaturstaat, und es entwickelte sich in dieser Schulgemeinde eine Selbstverwaltung der Jugend. Ich will nur kurz andeuten, daß er auch Ideen weiterführte, die lange vor ihm Pestalozzi und der große Jean Jacques entwickelt haben. Irgendwie geht ja alle moderne Erziehung auf Rousseau zurück, ob es sich nun um Hermann Lietz oder die Boy Scouts, die Pfadfinderbewegung, oder den deutschen Wandervogelbund handelt. Jedenfalls, aus dieser Idee der Selbstverwaltung der Jugend in einer Schulgemeinde habe ich meine Idee von der Selbstführung der Jugend.

Mein Gedanke war, in der Schule die junge Generation mit Ideen zu erfassen, die 80 Jahre vorher Fröbel begründet hatte. Lietz wollte von der Schule aus die junge Generation erfassen.

Ich darf vielleicht ganz kurz erwähnen, daß, als 1898 Lietz mit seiner Erziehungsarbeit begann, im selben Jahre in einer südafrikanischen Stadt der britische Major Baden-Powell durch Aufständische eingeschlossen wurde und dort die Jugend zu Spähern in Wäldern ausbildete und daraus den Grund legte zu seiner eigenen Boy-Scout-Bewegung, und daß im selben Jahre 1898 Karl Fischer aus Berlin-Steglitz die Wandervogelbewegung gründete.«44

Ganz offensichtlich versuchte Schirach in der Darstellung in der Hauptverhandlung all jene Jugendorganisationen, denen er angehörte, in die Nähe der Pfadfinder zu rücken, um den nationalsozialistischen Sonderweg in Richtung der Militarisierung von Kindern und Jugendlichen infrage zu stellen. Tatsächlich war aber der »Jungdeutschlandbund«, dem er im Alter von zehn Jahren beitrat, durchaus bereits seit seiner Gründung 1911 darauf angelegt, die städtische Jugend körperlich auf den Wehrdienst vorzubereiten. Dessen Gründer, Freiherr Colmar von der Goltz, plante einen »Volkskrieg«, d. h. einen Krieg, der von der Zivilbevölkerung selbst nach dem Ende der militärisch regulären kriegerischen Auseinandersetzungen und Kämpfe fortgeführt werden sollte.45 Zu diesem Zweck wurden gemeinsam mit Kommunen und Sportvereinen eine Vielzahl von Sportplätzen ausgebaut und Sport- und Geländespiele veranstaltet. Es ist davon auszugehen, dass Schirachs Mitgliedschaft in diesem rechtskonservativen Jugendverband, dem 1914 750.000 Mitglieder46 angehörten, durch seinen autoritären Vater organisiert wurde.

Subjektiv noch wirksamer wurde die von Baldur von Schirachs privatem Umfeld getragene, totale emotionale Ablehnung der Weimarer Republik durch den Selbstmord seines geliebten älteren Bruders Karl Benedikt, genannt »Buddabu«, der sich im evangelischen Internat Roßleben, einer Klosterschule, das Leben nahm. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Eltern Baldur von Schirachs versuchten, ihm in dieser schwierigen Situation persönlich beizustehen: Die furchtbare Nachricht vom Suizid Karls überbrachte die Wirtschafterin des Haushalts in der Gartenstraße, Frau Junghans, die »ganz in Schwarz gekleidet und mit verweinten Augen« Baldur aus Bad Berka nach Hause holte.47

So kann es nicht verwundern, dass Baldur von Schirach in der Retrospektive auf seine Jugend – er war damals erst zwölf Jahre alt – diesen Selbstmord des 19-jährigen Abiturienten am 28. Oktober 1919 als Reaktion auf das Ende der Monarchie und als Verzweiflungstat gegen die neuen demokratischen und für seine Familie sozial unsicheren Verhältnisse deutete. Angeblich hatte Karl, der vermutlich Offizier beim Badischen Leibdragoner-Regiment werden wollte und den Baldur in seinen Memoiren als »Universalgenie« mit »außergewöhnlicher naturwissenschaftlicher Begabung« beschreibt, einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er davon sprach, das »Unglück Deutschlands« nicht überleben zu wollen. Er, der zwölfjährige Schüler, hätte sich daraufhin – ganz im Sinne des späteren Totenkults der Hitler-Jugend – veranlasst gesehen, in die Fußstapfen des Bruders zu treten: »Durch Karls Tod hatte ich mehr verloren als einen Bruder. Er war für mich ein Mensch, zu dem ich aufblickte und dem ich nacheifern wollte. Ich rückte mit meinen zwölf Jahren an seine Stelle. Ich hatte ein Erbe angetreten, das mich zu besonderer Liebe zum Vaterland verpflichtete.«48 Sohn Richard von Schirach hat diese Darstellung als Mythos entlarvt und diesen durch umfassende Recherchen fast zur Gänze dekonstruiert.49 So hätte es keine Hinweise darauf gegeben, dass Karl tatsächlich an der Niederlage des Kaiserreiches innerlich zerbrochen wäre, wie dies Baldur von Schirach so selbstverständlich annahm.

 

Für das subjektive Empfinden des Zwölfjährigen mag dies aber eine reale Deutung und Erfahrung gewesen sein. Aus einem »Dreiviertel-Amerikaner« wurde ein »nationalistischer Deutscher«.50 Es war wohl kein Zufall, dass ihn seine Eltern aus dem Waldpädagogium bald wieder nach Hause holten. Vielleicht fürchteten sie um den zweiten Sohn. Übrigens ist bemerkenswert, dass Baldur von Schirach zwar über seinen älteren Bruder Karl schreibt, aber seine um neun Jahre ältere Schwester Rosalind (1898–1981), die eine erfolgreiche Musikkarriere als Opernsängerin einschlagen sollte, nur beiläufig und nebenbei erwähnt.51

Die Dichterfürsten der Klassik werden als Schirmherren der nationalsozialistischen »Bewegung« missbraucht: Hitler mit Wilhelm Frick, Staatsminister für Inneres und Volksbildung, Fritz Sauckel, dem Gauleiter Thüringens, und seinem Adjutanten Wilhelm Brückner vor dem Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar, 1931.