Kanonen für Saint Helena

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Z serii: Falk-Hanson-Reihe #3
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Ich las den entsprechenden Eintrag auf der Liste des Majors und stellte fest, dass die Kriegsfregatte bereits 1804 verloren ging. Dann wurde mir erst bewusst, was der Begriff Verlust bedeutete. Die Schiffe waren nicht untergegangen, sondern zur Kriegsbeute Frankreichs geworden.

»An der Dristigheten soll auch Amiral von Stedingk interessiert sein. Kennen Sie den Bruder von Fältmarskalk Graf von Stedingk?«

»Ich kenne nur den Bruder«, erwiderte ich.

»Bitte?«

»Ich bin dem Fältmarskalk von Stedingk ein paar Mal begegnet. Dem Befehlshaber unserer Schärenflotte allerdings noch nicht. Wenn ich die Dristigheten finden sollte, bestünde dann die Möglichkeit, den Amiral zu treffen?«

Major Quidde überlegte. »Falls Sie mit der Mission erfolgreich sind, wird sich Amiral von Stedingk ganz sicher erkenntlich zeigen.«

»Das wäre ja noch besser. Ich hätte ihm nämlich einen Vorschlag zu machen …«

»Warten Sie, warten Sie, jetzt fällt es mir auch wieder ein. Natürlich, Sie sind der mit den Raketen.«

Ich war überrascht und nickte. »Woher wissen Sie von der Sache. Ich dachte nämlich, es wäre ein Geheimprojekt.«

»Ist es ja auch, aber gewisse Kreise erfahren davon, müssen davon erfahren, und in diesen Kreisen ist Stillschweigen selbstverständlich.«

»Dann gehören Sie zu diesen Kreisen?«

»In gewisser Weise ja«, antwortete der Major und lächelte.

»Also, sagen Sie es schon, was denken andere Leute über meine Idee, die Stedingk’sche Schärenflotte mit der Congreve’schen Rakete auszurüsten?«

»Ein interessanter Vorschlag. Ich muss allerdings sagen, die Leute, die sich ein Urteil über die Sache erlaubt haben, kennen diese Rakete gar nicht, mich eingeschlossen, wobei ich mir niemals ein Urteil erlaubt habe.«

»Ich könnte einige Congreve’sche Raketen bauen und sie auf den Schiffen montieren, die ich wiederzufinden beabsichtigte. Ja, ich könnte sie sogar auf der Dristigheten installieren. Das würde den Amiral sicher beeindrucken.«

»Das mag sein, es wäre aber nicht Ihr Auftrag. Sie sollen die Schiffe lediglich finden, eindeutig identifizieren und den Anspruch der schwedischen Regierung, sprich den Anspruch des Königs proklamieren.«

»Ich soll also nicht mit meiner Beute heimreisen?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.

»Sicherlich dürfen Sie auf einem der Schiffe heimreisen, wahrscheinlich auch auf der HMS Dristigheten. Ich fürchte nur, Sie werden Schweden dann nicht so schnell wiedersehen. Wir wissen, dass sich Frankreich gegen die Herausgabe der Flotte wehrt. Es kann sein, dass es zu juristischen Auseinandersetzungen kommt, wobei das wieder davon abhängt, wie gut die Beweise sind, die Sie beschaffen.«

»Welche Beweise?«, fragte ich. »Ein Schiff trägt seinen Namen und lässt sich darüber identifizieren. Die Sache ist also eindeutig. Was wollen da noch die Advokaten mitmischen?«

Major Quidde lachte. »Selbst wenn das Schiffsholz aus schwedischen Wäldern stammt und die Besatzung noch an Bord ist und nur Schwedisch spricht und wenn auch alle Logbücher das Schiff als unseren Besitz ausweisen, werden die Anwälte immer etwas anzuführen haben, das eine Entscheidung verhindert oder doch zumindest verzögert.«

»Lassen wir das. Ich verstehe schon. Ich will mich ja gar nicht mit dem Nachspiel befassen. Ich finde also unsere Schiffe, melde unsere Ansprüche dem Gericht oder der Obrigkeit, erhalte einen offiziellen Titel, den ich an meine Vorgesetzten weitergebe.«

»An unsere Vorgesetzten«, erklärte der Major. »In der Praxis übergeben Sie mir die Titel, den Rest veranlasse ich.«

»Wie lange habe ich Zeit?«

»So lange, bis Frankreich sich nicht mehr als Verlierer der letzten Episode des Herrn Napoléon Bonaparte empfindet. Das kann bis Ende des Jahres sein.«

»Und Sie meinen, danach wird es schwieriger werden, unsere Ansprüche geltend zu machen?«

»Nicht schwieriger, aber es wird fast unmöglich sein, Recht zu bekommen, wenn Ludwig XVIII. wieder auf gleicher Höhe mit den alliierten Souveränen agiert.«

»Gut, Schluss damit.«

Ich nahm noch einmal die Liste zur Hand, überflog die restlichen Seiten. Einige Schiffe glaubte ich zu kennen, fand jedoch keines, das auf der Werft meines Vaters gebaut worden war. Ich gelangte zum letzten Blatt, auf dem Ortsnamen oder vielmehr die Namen von Häfen gelistet waren.

»Rochefort«, zitierte ich. »Dort war ich vor zwei, drei Wochen.«

»Und, haben Sie eines oder mehrere unserer Schiffe gesehen?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich hatte kein Auge dafür. Mir sind nur zwei französische Schiffe aufgefallen, die aber auch echte Franzosen waren, denke ich. Jedenfalls keine Schweden.«

»Dann müssen Sie Rochefort auf Ihrer Liste belassen«, stellte der Major fest.

Ich ging die Einträge von oben beginnend durch. Boulogne-sur-Mer, Dieppe, Granville, Saint-Malo. Dann wanderte mein Blick ans Ende der Liste. Bordeaux und schließlich Bayonne.

»Das ist nur die Atlantikseite«, stellte ich fest.

»Stimmt! Die Seite links von Gibraltar übernehmen die Briten. Sie vermissen auch noch einige Schiffe.«

»Dann soll ich auf meiner Seite auch nach britischen Kriegs- und Handelsschiffen suchen?«

»Das haben die Briten selbst schon gemacht, in der Zeit, als Napoléon noch auf Elba weilte. Wir wollten in diesen Monaten eigentlich auch tätig werden, aber es war nicht gut, dass wir uns an Recht und Gesetz gehalten haben. Die Franzosen haben uns abblitzen lassen …«

»Was sich die Briten nicht haben bieten lassen«, unterbrach ich Major Quidde.

Er nickte. »Bernadotte, verzeihen Sie, unser Kronprinz mochte nicht zu massiv gegen seine ehemaligen Landsleute vorgehen oder besser gesagt vorgehen lassen. Er hat uns im wahrsten Sinne des Wortes zurückgepfiffen.«

»Ist die Situation denn jetzt eine andere?«, fragte ich.

»Ich will es einmal so formulieren«, sagte der Major. »Schwäche zu zeigen ist kein guter Rat für einen Mann, der im nächsten Jahr vielleicht schon König von Schweden und Norwegen ist.«

*

Major Quidde und ich konferierten noch zwei weitere Stunden und besprachen die Details meines Einsatzes. Ich sollte nicht auf mich alleine gestellt sein, sondern bekam eine kleine Truppe unterstellt. Offenbar kannte man meine Aktivitäten in Lübeck sehr genau, denn drei Namen, zwei Serganten und ein Soldat, wurden mir zugeteilt. Die Männer waren mir wohl bekannt. Ludwig Ek und Sten Nordin hatten mich von Beginn an bei dem Projekt mit der Congreve’schen Rakete unterstützt. Und auch der Zimmermann Viktor Anderson gehörte später zu dem Trupp, mit dem ich das erste Raketenboot baute. Meine Freude war groß, obwohl ich die drei erst in Boulogne-sur-Mer treffen sollte. Bis dahin hatte ich noch fast vier Wochen Zeit. Dennoch plante ich mit Major Quidde die Route an der Atlantikküste, die ich absolvieren musste.

Boulogne-sur-Mer lag gut hundertdreißig Meilen von Paris entfernt, eine mehrtägige Reise zu Pferd. Und auch danach sollte ich weiterhin von der Landseite die französischen Häfen erreichen, da ein einlaufendes Schiff zu viel Aufmerksamkeit bedeutete. Ich diskutierte mit dem Major zwar die Vorteile, wenn man die Küste per Schiff absegelte, dann aber akzeptierte ich seine Bedenken. Wir saßen über der Karte, gingen jeden Ort durch und ich machte mir Notizen und nahm mir vor, weitere Recherchen anzustellen. Es galt sich auf die Gegebenheiten vorzubereiten. Zwischen Boulogne-sur-Mer und Bayonne, dem letzten Ziel, lagen neunhundert bis tausend Wegmeilen, immer der Küste entlang.

Am nächsten Tag hatte ich einen Termin in der jetzt wiederbesetzten Vertretung des britischen Königreichs in Paris. Ich kann nicht sagen, ob den Franzosen bekannt war, dass dort einiges an Kartenmaterial lagerte. Beschreibungen der Grenzregionen zu anderen Ländern, die bis vor kurzem noch unter Napoléons Herrschaft standen. Frankreich hatte lange gar keine Außengrenzen, lediglich Grenzen zu Verbündeten oder unterworfenen Staaten. Mehr noch als das Landesinnere waren für die Briten die Küsten von Bedeutung. Vor allem die atlantische Küste war hierbei für mich von Interesse.

Ich hatte genug Zeit, alles durchzusehen. Ich entschied mich für zwei, drei Karten, die einen Gesamtüberblick über den Küstenverlauf und die Küstenstraßen bot. Dann konzentrierte ich mich auf die Orte, die Ziel meiner Suche sein würden. In den Stadtübersichten waren selbstverständlich die militärischen Belange besonders berücksichtigt. Befestigungen der Hafeneinfahrten, Stützpunkte der Hafenverteidigung und der französischen Marine. Die Beschaffenheit der Liegeplätze, Quais, Anleger, Lagerhäuser und vieles mehr. Es gab aber auch Hafenstädte, die offenbar nur untergeordnet waren und gar nicht militärisch genutzt wurden, sondern ausschließlich der Handelsschifffahrt dienten. Hier sollte mein besonderes Augenmerk liegen, denn es waren weit mehr schwedische Frachtsegler als Kriegsschiffe, die auf der Verlustliste standen. Am Ende des Tages kam einiges an Kartenmaterial zusammen, allerdings durfte ich keines der Originale mitnehmen, aber auch dafür gab es eine Lösung.

Ich wurde in das Kellergewölbe des Stadthauses geführt in einen recht großen Raum mit niedriger Decke. Dort gab es vier, fünf Schreibtische an denen Zeichner saßen und Landkarten kopierten. An den Wänden des Raumes hingen Spiegel und davor standen Batterien von Kerzen, so dass ein beinahe gleißendes Licht auf jeden der Schreibtische geworfen wurde. Ich ging weiter in einen zweiten, wesentlich kleineren Raum, in dem ein einzelner Kerzenständer nur schwaches Licht auf ein Stehpult warf. Ich lud meinen Stapel ab. Der Bürovorsteher stand mit dem Rücken zu mir und sortierte gerade etwas in ein Regal ein. Er drehte sich um, begrüßte mich, trat zu dem Stapel auf dem Pult und sah sofort alles durch.

 

Er kratzte sich schließlich am Kopf. »Eine Kopie der Übersichtskarten können Sie in zwei Tagen bekommen, die sind einfach zu erstellen. Die Stadtansichten sind da schon um einiges aufwendiger.«

»Die sind mir aber besonders wichtig«, erwiderte ich.

»Ja, ja, das ist mir schon klar. Wenn ich weiß, was Sie zuerst benötigen, würde ich das vorziehen und Ihnen den Rest später zur Verfügung stellen. Leider versenden wir nicht, dürfen es gar nicht. Sie müssen sich das Material dann jeweils schon selbst abholen.«

»Ich habe noch etwas Zeit.«

»Wie lange?«, fragte der Bürovorsteher und kratzte sich erneut am Kopf.

»Zwei Wochen. Oder sagen wir achtzehn Tage, dann spätestens müsste ich zu meiner ersten Station aufbrechen. Wenn ich einmal unterwegs bin, kann ich nur sehr schlecht nach Paris zurückkehren, zumindest wäre es ein großer Umweg.«

»Achtzehn Tage«, wiederholte er. »So lange brauchen wir dann doch nicht. Ich meine wohl, Sie können auch die Stadtkarten in einer guten Woche abholen. Ich kann drei meiner Leute daransetzen, ja drei.«

Ich bedankte mich, stieg wieder aus dem Gewölbe auf und dachte noch, dass ich in einer derartigen Umgebung keine so anstrengende Aufgabe wie das Kopieren von Landkarten ausführen könnte. Ich atmete tief ein und stellte fest, dass es längst Zeit für das Abendessen war. Ich musste mich sogar beeilen, da es sich um Major Quiddes letzten Abend handelte. Er und sein Gefolge wollten bereits am nächsten Morgen Richtung Brüssel aufbrechen. Die Zusammenkunft hatte somit keine drei Tage gedauert, wobei ich das Haus für den ganzen Monat gemietet hatte, in der Annahme, dass sich eine schwedische Delegation für länger in Paris einfinden würde.

Wenigstens konnte ich alles bezahlen, denn Major Quidde hatte mir reichlich Geldmittel zukommen lassen, damit auch meine Mission in den nächsten Monaten finanziert war. Es handelte sich um Papiere, aber auch um reines Gold, damit ich die laufenden Kosten begleichen konnte. Den größten Teil dieses Schatzes brachte ich zu einem Notar, einen weiteren Teil trug ich fortan bei mir. Nachdem ich die Geschäfte geregelt hatte, befand ich mich auf dem Weg zurück zu meiner Unterkunft, als hinter mir jemand meinen Namen rief.

»Monsieur Anson?«

Ich drehte mich um. Vor mir stand ein Junge, vom Laufen noch außer Atem. Ich nickte.

»Wenn Sie Monsieur Anson sind, habe ich eine Nachricht für Sie, eine Nachricht von Professor Bonnet.«

»Eine Nachricht?«, wiederholte ich und sofort wurde mir meine Schuld bewusst. Ich hatte in den letzten Tagen nicht einen Gedanken an Bellevie oder ihre Familie verloren. Ich war zu sehr mit meinen Angelegenheiten beschäftigt gewesen und Major Quidde hatte mich zu sehr in Beschlag genommen.

»Was für eine Nachricht?«, fragte ich hastig. »Junge, sprich.«

»Man schickt nach Ihnen, Monsieur.«

»Das ist alles? Wie geht es Madame Durant?«

»Madame Durant? Ich weiß nicht wer das ist. Die Magd hat mir befohlen, nach Ihnen zu suchen. Ich soll Ihnen ausrichten, Professor Bonnet bittet Sie zu sich. Das ist die Nachricht, der Professor Bonnet bittet Sie zu sich in die Rue Magarithe. Die Magd hat gesagt, Sie wüssten wo das ist, ich kann Sie aber auch hinführen.«

»Nein, nein, ist schon gut. Der Professor will mich also sprechen?«

Der Junge nickte. Ich gab ihm eine Kupfermünze, ließ ihn stehen, schlug eine andere Richtung als zu meiner Unterkunft ein und musste mich auf dem Weg mehrmals orientieren, fand dann aber den Stadtteil, war schnellen Schrittes unterwegs und erreichte eine halbe Stunde später das Haus in der Rue Magarithe. Ich blieb noch eine Minute regungslos vor der Eingangstür stehen. Eine Nachricht von Professor Bonnet, er wollte mit mir sprechen, er bat mich zu sich. Es konnte nur um Bellevie gehen oder um Philippe. Ich klopfte schließlich an der Tür.

Es dauerte nicht lange und mir wurde aufgemacht. Julie stand vor mir, mit gesenktem Kopf, dann sah sie mich an.

»Hat der Junge Sie gefunden?«

Ich nickte.

»Professor Bonnet wartet auf Sie.«

Julie senkte wieder den Kopf, wandte sich um und ging voran. Ich folgte ihr dicht, die Treppe hinauf, über den Flur in den Salon, dessen Türen offenstanden. Professor Bonnet saß in einem der Sessel, die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, leicht vorgebeugt. Als er mich sah erhob er sich sofort und das mit einer verblüffenden Schnelligkeit. Er ging mir entgegen, griff nach meinen Händen und hielt sie fest umschlossen.

»Sie wollte Sie sehen«, sagte er mit einer seltsamen Stimme.

»Ja, Bellevie, sie will mich sehen? Wollen wir zu ihr gehen. Es tut mir leid, dass ich sie in den letzten Tagen nicht besuchen konnte.«

Professor Bonnet presste die Lippen aufeinander und nickte. »Wir gehen zu ihr.«

Er gab meine Hände frei, wir verließen den Salon, gingen den bekannten Weg hinauf in den abgelegenen Flügel des Hauses. Wir blieben vor der Tür stehen, hinter der sich Bellevies Krankenlager befand. Der Professor drehte sich zu mir um.

»Die Nonnen sind abgezogen, aber der Doktor wird später noch einmal vorbeikommen. Sie können mit ihm reden, er wird es Ihnen vielleicht erklären.«

Die Worte des Professors waren eigenartig formuliert. Was sollte mir der Doktor erklären. Plötzlich überfiel mich ein merkwürdiges Gefühl, doch bevor ich weiter nachdenken konnte, öffnete Professor Bonnet die Zimmertür und ließ mich eintreten. Der Raum war hell, die Vorhänge vor allen Fenstern zurückgezogen. Und es war kühl, obwohl draußen noch die Sonne schien, die aber bereits seit Stunden nicht mehr den Innenhof erreichte, zu dem Bellevies Zimmer lag.

Ich sah mich um, schaute zu Bellevies Krankenlager. Der Stuhl, auf dem die Nonnen Wache gehalten hatten, war fort. Ein frisches Laken schaute unter der ebenfalls frischen und weißen Bettdecke hervor, die sich flach über Bellevies Beinen wölbte. Die Decke war in Höhe der Hüfte umgeschlagen. Mein Blick wanderte weiter nach oben, noch hatte ich es nicht gewagt, Bellevie ins Antlitz zu schauen. Sie hatte ihre Hände über der Brust gefaltet.

Jetzt begann ich zu ahnen. Es kam ganz langsam, eine schmerzliche Kühle durchfuhr meinen Körper. Bellevies schwarzes Haar war glattgekämmt und reichte ihr über die Schultern hinunter zu den Armbeugen. Ihr Gesicht war blass, die Augen geschlossen. Ich wollte es nicht glauben, nicht begreifen. Ich starrte auf ihren Brustkorb, suchte nach dem Heben und Senken, nach einem Zeichen, dass sie atmete. Dann blickte ich in ihr Gesicht, ging die zwei Schritte zu ihrem Bett und legte meinen Handrücken an ihre linke Wange. Die tote Kühle ihrer Haut traf mich so unendlich schwer.

*

Die Geschehnisse der vergangenen drei Tage erfuhr ich eine Stunde später. So lange hatte ich an Bellevies Bett gesessen. Der Professor hatte mich mit ihr alleine gelassen, hatte mich meinen Gedanken überlassen. Ich weiß bis heute nicht ob ich trauerte oder nur wütend war, weil ich das Leben für ungerecht hielt.

Im Salon, ein Stockwerk tiefer traf ich auf den Arzt, der Bellevie behandelt hatte, und auf den die beiden Ordensschwestern nicht gut zu sprechen waren. Dieses Vorurteil trug ich in mir, als ich dem Doktor die entscheidende Frage stellte.

»Woran ist Madame Durant gestorben, woran war sie erkrankt?«

Der Doktor sah den Professor an, der nickte und damit sein Einverständnis gab und signalisierte, dass ich in gewisser Weise zur Familie gehörte. Der Doktor räusperte sich daraufhin und sah mich wieder an.

»Am besten setzen wir uns erst einmal«, schlug er vor.

Wir taten es und bevor das Gespräch begann, kam Julie mit einem Tablett herein. Sie stellte kleine Gläser vor jedem von uns und schenkte aus einer Steingutflasche ein, die sie auf den Tisch abstellte, bevor sie den Salon wieder verließ. Wir nahmen jeder einen Schluck. Mir lag ein Trinkspruch zu Ehren Bellevies auf den Lippen, aber ich sagte nichts, keiner von uns sagte etwas, bis der Doktor fortfuhr.

»Die Zeit ist mir davongelaufen. Ich wurde durch Symptome der Patientin irritiert, die am Ende nicht für ihren schlechten Zustand und ihr bedauerliches Ableben verantwortlich waren.«

»Woran ist sie gestorben?«, wiederholte ich meine Frage. »Ihr ging es doch vor ein paar Tagen schon viel besser.«

»Genau das hat mich auch gewundert«, sagte der Doktor. »Ich hatte bereits einen Verdacht, was der Patientin fehlte, aber als sich ihr Zustand so hervorragend verbesserte … außerdem haben mich die ehrwürdigen Schwestern glauben lassen, sie hätten mit dem tropischen Fieber recht, welches sie dann auch gleich geheilt haben. Das war aber ein großer Irrtum und ich gebe mir die Schuld, nicht hartnäckiger meine eigene Meinung durchgebracht zu haben, aber in diesem Hause wurde viel Wert auf die Meinung der Schwestern gelegt.«

»Sie meinen also«, fragte ich, »dass zu viele Köche den Brei verdorben haben.«

Sofort bereute ich meinen respektlosen Vergleich. Der Doktor starrte mich an, hob die linke Augenbraue und nickte dann.

»Ich werde so etwas künftig nicht mehr zulassen. Ich begrüße es, wenn die Pflege eines Patienten von den ehrwürdigen Schwestern übernommen wird, sie dürfen aber nicht auch noch die Diagnose stellen. Das muss dem Arzt überlassen bleiben.«

»Und wenn der Arzt sich irrt?«

»Dann irrt er sich eben und Sie können einen anderen Kollegen konsultieren, nachdem ich entlassen bin oder meine Inkompetenz zugegeben habe.«

»Da machen Sie es sich aber sehr einfach«, entgegnete ich.

Der Doktor zuckte mit den Schultern. »Das können Sie gerne so sehen, aber seien Sie auch versichert, dass ich um das Leben meiner Patienten kämpfe. Es gibt allerdings Krankheiten, da ist auch der Arzt, da sind auch die ehrwürdigen Schwestern machtlos.«

»Und an solch einer Krankheit hat Madame Durant gelitten?«

»Danke, dass Sie mir jetzt endlich Gelegenheit geben, über den medizinischen Teil zu sprechen«, sagte der Doktor. Er zögerte kurz. »Jeder Arzt kennt aus seiner anatomischen Praxis den Appendix vermiformis, den Wurmfortsatz des menschlichen Verdauungssystems. Es gibt Studien, die den Appendix vermiformis auch bei bestimmten Tieren, zum Beispiel bei Affen, nachgewiesen haben. Wenn die Körpersäfte in Unordnung geraten, tritt eine Spannung, eine regelrechte Verletzung des Appendix vermiformis auf, deren Heilmethoden verschieden und manchmal auch umstritten sind. Ich bevorzuge Granatapfel, Ingwer oder Gelbwurz.«

»Aber es hat bei Madame Durant nicht gewirkt«, stellte ich fest.

»Ich habe ihr keines der Mittel mehr geben können. Meine Diagnose habe ich erst nach ihrem Tod gestellt.«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Ich sah den Professor an, der anscheinend nicht richtig zugehört hatte, denn sein leerer Blick war zum Fenster gerichtet. Der Doktor hatte ihm offenbar die Geschichte bereits erzählt. Mir war dies alles aber neu und ich wollte es nicht einfach so hinnehmen.

»Was haben Sie denn dann unternommen?«, fragte ich scharf.

Der Doktor zuckte zusammen. »Natürlich habe ich sie behandelt, das Übliche, Aderlass, Fiebermittel, Kompressen und einiges mehr. Aber es war zu spät, der wahren Krankheit auf die Spur zu kommen, weil die ehrwürdigen Schwestern die Symptome gelindert, ja verschleiert haben. Eine Krankheit muss ausbrechen, damit der Arzt eine Diagnose stellen und die richtigen Maßnahmen einleiten kann.«

»Ich weiß nicht, das klingt für mich …« Ich stutzte.

»Es ist oft der einzige Weg«, erklärte der Doktor.

»Aber nicht, wenn die Patientin bereits tot ist, noch bevor der Arzt weiß, woran sie gelitten hat«, warf ich sofort ein.

»Ich gebe zu, das muss Ihnen tragisch erscheinen, aber es ist oft nicht zu ändern. Alles was bleibt, ist aus dem Tod zu lernen, so dass am Ende immer mehr Patienten überleben als sterben.« Er machte eine Pause. »Ich habe daher eine Bitte. Meine Diagnose ist nicht gesichert, das gebe ich zu. Es kann der Appendix vermiformis gewesen sein, es gibt aber noch andere Möglichkeiten.« Er machte erneut eine Pause. »Ich möchte Sie daher bitten, mich den Körper von Madame Durant näher untersuchen zu lassen.«

»Näher untersuchen«, wiederholte ich. »Ich dachte, dass hätten Sie schon getan, als Sie ihren Tod festgestellt haben.«

Der Doktor nickte. »Das stimmt, aber ich würde gerne eine Leiböffnung vornehmen.«

Jetzt schreckte der Professor auf. Er sah zunächst mich an, dann den Doktor und begann den Kopf zu schütteln. »Auf keinen Fall, nicht meine Tochter.«

 

»Ich verstehe Ihren Schmerz, aber Sie sind doch auch Wissenschaftler. Wir könnten so viel lernen. Der Appendix vermiformis ist bisher nur einmal operiert worden und das ist siebzig, achtzig Jahre her. Es wäre so wichtig zu sehen, wie sich …«

»Ich sagte nein«, rief Professor Bonnet. »Es wird ganz sicher weitere Opfer dieser Krankheit geben, die Sie aufschneiden können. Der Körper meiner Tochter ist genug geschunden. Sie soll ihn so ins Grab nehmen, wie er jetzt ist.« Der Professor erhob sich. »Bitte gehen Sie. Lassen Sie mir Ihre Rechnung zukommen oder sagen Sie mir, was ich Ihnen schulde und ich bezahle es sofort.«

Der Doktor überlegte kurz, kam dann aber wohl zu dem Schluss, dass es nichts mehr gab, was er in der Angelegenheit noch erreichen konnte. Er würde die Leiche nicht bekommen. Und er verzichtete auch auf sein Honorar. Der Professor klingelte nach Julie. Fünf Minuten später saßen wir alleine im Salon. Wir sprachen zunächst nicht. Dann erhob sich Professor Bonnet und ging zum Fenster.

»Ich habe schon Bellevies Mutter beerdigen müssen. Erspart mir das Schicksal denn gar nichts?«

Darauf wurde keine Antwort von mir erwartet. Ich überlegte. »Wie wird es Philippe aufnehmen oder weiß er es schon?«

Der Professor schüttelte den Kopf.

»Soll ich dabei sein, wenn er seine Mutter das letzte Mal sieht?«, fragte ich.

»Nein, es wird keine Aufbahrung geben. Sie wird schon morgen früh ihr Grab auf dem neuen Friedhof erhalten, dort wo früher die Gärten des Père de La Chaise lagen. Philippe erfährt es erst übermorgen, aber das ist nicht Ihre Sache, Monsieur Hanson.«

Ich konnte dem nicht widersprechen. Der Professor musste seine Familienangelegenheiten selbst regeln. Eine Einmischung stand mir nicht zu, obwohl ich es für wichtig hielt, dass Philippe seine Mutter noch einmal sah, dass er Abschied nehmen konnte. Während ich diesen Gedanken nachhing, schwieg der Professor. Ich erhob mich schließlich und ging.

*

Den genauen Ort und die Uhrzeit der Beerdigung hatte mir Julie mitgeteilt. Der Friedhof lag außerhalb von Paris und schloss ein weitläufiges Gelände ein, auf dem es erst wenige Gräberfelder gab. Ich folgte dem Hauptweg, an dem links und rechts junge Bäume gepflanzt waren. Das Grab eines fünfjährigen Mädchens fiel mir auf, die im Jahre 1804 an diesem Ort ihre letzte Ruhe gefunden hatte. Ich blieb kurz stehen, denn keine hundert Yards entfernt sah ich den Professor und seine Schwester Charlotte an einem offenen Grab stehen. Ich ließ den beiden noch einige Minuten, bis ich hinzukam und Bellevie die letzte Ehre erwies.

Die Totengräber standen schon bereit und begannen ihre Arbeit, nachdem wir uns ein Stück entfernt hatten. Ich weilte nicht mehr länger, verabschiedete mich sofort wieder, weil ich es nicht ertrug, die Erde auf Bellevies Sargdeckel prallen zu hören. Ich musste mich ohnehin beeilen, denn ich hatte eine Reise geplant, die ich noch an diesem Vormittag antreten wollte und die mich auf andere Gedanken bringen sollte, so dass mir der eigentlich beschwerliche Weg über mehr als vierhundert Meilen nur recht war.

Ich schloss mich einer preußischen Kavallerieeinheit an und ritt mit den schweigsamen Männern zwei Tage nach Nancy. Ich übernachtete in der Stadt und bestieg schon früh am nächsten Morgen die Kutsche nach Strasbourg. Es war ein langsameres Fortkommen als zu Pferd, dafür aber weit weniger anstrengend. So gestärkt nahm ich für die letzte Etappe wieder selbst die Zügel in die Hand, diesmal aber ohne Begleitung. Zwei volle Tage bis nach Augsburg und die Hälfte des dritten Tages bis ich meinem eigentlichen Ziel näherkam.

Zunächst bewunderte ich jedoch den Park des Schlosses Nymphenburg, der mich an Versailles erinnerte. Sogleich musste ich wieder an Bellevie denken. Wie damals folgte ich den Parkwegen im leichten Trab. Zwei Parkwächter wollten schon protestieren, respektierten aber offenbar meine Uniform. Ich ritt schließlich an den Schlossgebäuden vorüber und befand mich wieder auf einer gut ausgebauten Landstraße. In der Ferne waren Kirchtürme und Häuserfluchten auszumachen.

München war eine große Stadt. Ich hatte eine Adresse, nach der ich mich bei Passanten erkundigte. Ich gab mein Pferd in einem Stall ab und ging zu Fuß weiter. Man wies mich durch einige Gassen, bis ich vor einem windschiefen Haus in der Münchner Altstadt stand. Eine Magd kam aus einem Seiteneingang mit einem Korb Wäsche im Arm. Auf meine Frage erfuhr ich, dass Professor Müller zu dieser Tageszeit noch in seinem Laboratorium weilte. Die Magd konnte mir keine Adresse oder Wegbeschreibung nennen und so zog ich wieder los und erkundigte mich ein paar Straßen weiter in einer Apotheke nach den Optisch-Mechanischen Werkstätten.

Nach einem Fußweg von gut zwanzig Minuten sah ich auch schon die mir beschriebene Kuppel des Instituts. Ich visierte deren Spitze noch an, als jemand meinen Namen rief. Und da stand er vor mir, Karl Johann Müller, den ich so viele Jahre nicht gesehen hatte und doch sofort wiedererkannte. Es war vielleicht etwas theatralisch, aber wir fielen uns in die Arme, klopften uns auf die Schultern, als wenn ein Vater und ein Sohn sich nach Jahrzehnten wiedersahen.

Der Weg zurück zu Karls Wohnung bot Gelegenheit für die ersten Erzählungen über das, was sich in unser beider Leben seit der gemeinsamen Zeit in Stockholm ereignet hatte. Wir unterbrachen das Gespräch damit ich als Untermieter bei meinem alten Freund einziehen konnte und Gelegenheit bekam mich etwas frisch zu machen. Zum Abend hin zogen wir wieder los und kehrten in ein Wirtshaus ein. Die erste Stunde saßen wir noch gemütlich im Biergarten, zogen dann aber in die Schankstube um und empfingen dort unsere dritte oder vierte Lage. Das Bier schmeckte außerordentlich gut und passte zu den Erinnerungen, die wir austauschten.

Karl musste zugeben, längst nicht so viel erlebt zu haben wie ich, dennoch beneidete ich ihn um die Ehre, mit großen Technikern und Physikern zusammengearbeitet und Experimente und Forschungen durchgeführt zu haben. Er berichtete mir von den Optischen Werkstätten, von Georg Friedrich von Reichenbach, Joseph von Fraunhofer und nicht zuletzt von Joseph von Utzschneider, um deren Bekanntschaft ich ihn beneidete.

Nicht weniger beeindruckt war Karl schließlich von meinen Kriegserlebnissen und von meinen Begegnungen mit Kaiser Napoléon Bonaparte. Ich kam schließlich zu den Ereignissen der letzten Wochen.

»Und so habe ich vor kaum einer Woche eine liebe Freundin begraben.«

»Eine liebe Freundin«, wiederholte Karl. »Da war doch mehr, wenn man dich so erzählen hört.«

»Das frage ich mich allerdings heute auch. Glaubst du, dass ich sie geliebt habe?«

»Wenn ich dir das jetzt bestätige, was nützt es dir dann noch, außer, dass du in tiefe Trauer fällst. Du hast sie doch verloren, für immer. Das Band ist durchtrennt. Es ist schon richtig, dass du dir nur eingestehst, sie sei eine liebe Freundin gewesen.«

Wir schwiegen einige Zeit, dann fand Karl als erster seine Worte wieder.

»Der Junge interessiert sich also für Astronomie?«

Ich nickte. »Zumindest wollte er vor einem Jahr noch ein Observatorium auf Elbas höchstem Berg errichten.«

»Man braucht keinen Berg, um mit einem anständigen Teleskop die Sterne zu beobachten.«

»Er will die Planeten sehen«, sagte ich.

»Die sind vielleicht noch interessanter. Hat er denn gewisse Vorkenntnisse? Ein Teleskop sollte man bedienen können, das ist nicht so einfach. Die Linsen müssen eingestellt werden, das Okular benötigt Fingerspitzengefühl. Was weiß er bereits über die Objekte, die er beobachten möchte?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Seine Wissensgier zeichnet ihn aus, aber ich fürchte, er hat noch nie ein echtes Teleskop gesehen, geschweige denn durch eines hindurchgeblickt.« Ich überlegte. »Sein Großvater besitzt eine umfangreiche Bibliothek. Neben der Botanik gibt es dort gewiss auch Literatur zur Astronomie. Ich glaube Philippe hat sich dort seine ersten Anregungen geholt, denn irgendwoher muss die Idee zur Sternwarte ja gekommen sein.«

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