Kanonen für Saint Helena

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Z serii: Falk-Hanson-Reihe #3
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»Nein, oder doch, ja, das stimmt alles und die Welt sieht es als großen Vertrauensbruch …« Der Professor zögerte. »Ich habe gewusst, dass er Elba verlassen will, aber er hatte seine Gründe, man hat ihm nach dem Leben getrachtet. Irgendwann wären seine Feinde auf die Insel gekommen und hätten ihn ermordet.«

»Ich weiß davon nichts und Sie müssen verzeihen, dass ich so etwas nicht glauben kann. Die Briten hätten sich an den Vertrag gehalten.«

»Es gefällt mir, dass Sie ehrlich sind, dennoch, glauben Sie mir, ich weiß mehr über all das, aber jetzt ist es zu spät, jetzt hat man ihn wieder festgesetzt. Glauben Sie, er kehrt nach Elba zurück?«

»Ich glaube es eher nicht«, antwortete ich zögerlich. »Ich fürchte, es gibt andere Pläne.«

»Von wem haben Sie das?« Der Professor klang empört. »Wir haben noch viel zu tun auf Elba, aber ohne den Kaiser fehlt uns der Rückhalt. Was wissen Sie über das, was die Briten mit Napoléon vorhaben? Oder sind es die Russen oder gar die Österreicher selbst? Sie wissen, was die Österreicher unternehmen wollten, was den Kaiser zum Handeln gezwungen hat?«

»Die Briten haben Napoléon in Gewahrsam genommen und ich fürchte, sie lassen ihn nicht nach Elba zurückkehren. Die Briten denken, dass Elba nicht geeignet ist, einen Napoléon Bonaparte auf Dauer zu halten.« Ich beugte mich etwas zu dem Professor vor. »Was ist mit den Österreichern, ich weiß von nichts?«

Professor Bonnet zuckte mit den Schultern. »Dann kann ich auch nicht darüber sprechen, es steht mir nicht zu ...«

Der Professor zögerte und mir fiel ein, was Arnauld gesagt hatte. Die Österreicher hatten einen Mörder geschickt, weil sie mich für einen Verbündeten Napoléons hielten. Vielleicht war dieser Mann zunächst auf den Kaiser angesetzt gewesen. Aber war es denkbar, dass die Österreicher ein solches Spiel spielten?

Der Professor räusperte sich. »Bei den Briten ist der Kaiser bestimmt gut aufgehoben. Ich denke Sie werden ihn irgendwann gehen lassen, vielleicht in einem Jahr und dann werden wir ihn besuchen, sobald Bellevie wieder gesund ist.«

»Was sagen Sie da, Ihre Tochter ist erkrankt?« Ich zögerte. »Ich habe gehofft, sie hier zu treffen, sie wiederzusehen, mit ihr zu sprechen.«

Professor Bonnet sah mich an, senkte dann den Blick. »Seit zwei Tagen ist sie nicht mehr ansprechbar. Es hat ganz harmlos begonnen, eine Erkältung, die sie sich auf dem Schiff zugezogen haben muss.«

»Aber wann sind Sie denn von Elba zurückgekehrt?«, fragte ich.

»Wir sind vor genau fünfzig Tagen aufgebrochen, aber erst letzte Woche hier in Paris angekommen. Es war eine Odyssee.«

Ich nickte. Der Professor faltete die Hände, als wenn er beten wollte. Unvermittelt lehnte er sich in seinen Sessel zurück, schloss kurz die Augen und sah mich dann wieder an.

»Wir wollten über Italien und auf dem Landweg reisen, weil die Briten bereits mit ihren Kriegsschiffen im Mittelmeer patrouillierten. Die Italiener haben uns aber nicht in ihre Häfen gelassen. Wir mussten wieder aufs Meer hinaus, sind in einen Sturm geraten, noch bevor wir die französische Küste erreicht hatten. Unser Kapitän wollte nicht umkehren und auch nicht in Spanien anlanden. Dann hat uns doch noch ein Brite aufgebracht. Wir mussten unter Geleit nach Gibraltar segeln. Dort fing Bellevies Krankheit an. Während des Sturms war Wasser in unsere Kabine eingedrungen. Die nasse Kleidung, die wir tagelang nicht wechseln konnten hat es ganz sicher ausgelöst. Philippe und ich hatten Glück.«

»Sie hätte doch in Gibraltar ins Hospital gehen können?«

»Wir durften nicht vom Schiff, eine ganze Woche lang nicht. Bellevie hat sich aber wieder erholt und als wir endlich entlassen wurden und in den Atlantik gefahren sind, schien die Erkältung bereits überstanden zu sein.«

»Aber das war offensichtlich nicht der Fall«, folgerte ich.

Der Professor nickte. »Bellevie hat nicht mehr über ihren Zustand geklagt, obwohl wir noch eine lange Reise vor uns hatten. Ich wäre gerne mit ihr und Philippe in Lissabon oder Porto von Bord gegangen. Ich habe Freunde in Portugal und wir hätten ein paar Wochen Zeit gehabt, uns zu erholen. Es ging nicht. Wir sind gar keinen Hafen mehr angelaufen. Schließlich lag die Biskaya vor uns. Der Kapitän ist auf direktem Kurs nach Brest gesegelt. Dort gingen wir endlich an Land. Inzwischen gab es aber Unruhen. Die Lage war undurchsichtig. Heute weiß ich, dass der Kaiser bereits abgedankt hatte, als wir von Brest aufgebrochen sind. Bis nach Rennes haben wir in einer gemieteten Kutsche vier Tage gebraucht. Mit dem Aufenthalt dort waren wir weitere sechs Tage bis nach Paris unterwegs. Auf halbem Weg ging es Bellevie wieder schlechter. Endlich hat sie mir gebeichtet, wie krank sie wirklich ist. Sie hat vor Fieber geglüht, so dass ich die letzte Etappe nicht mehr fahren wollte. Auf der anderen Seite erhoffte ich mir ärztliche Hilfe, sobald wir in Paris sein würden. Und so sind wir hier angekommen. Seither liegt Bellevie zu Bett. Drei Ärzte haben sie angesehen, Medikamente verschrieben, obwohl mir schien, dass keiner von ihnen eine Ahnung hatte, unter welcher Erkrankung Bellevie leidet. Erst der vierte Medicus hat von der Gerberkrankheit gesprochen.«

»Die Gerberkrankheit?«, fragte ich.

»Der Arzt hat mir erklärt, dass er dieselben Symptome, wie sie Bellevie aufweist, auch bei Gerbern beobachtet habe. Es ist ein übles Leiden.«

»Aber wo soll Bellevie sich angesteckt haben?«

»Das habe ich den Arzt auch gefragt, aber er konnte es mir nicht sagen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in den letzten Wochen auch nur in der Nähe einer Gerberei waren. Gut, die Plätze und Orte, an denen wir auf dem Weg nach Paris übernachtet haben, waren nicht immer sauber, aber sie wird sich ihre Krankheit noch an Bord des Schiffes geholt haben. Leider wird es nicht besser.«

»Ich würde sie gerne sehen, natürlich nur, wenn sie wach ist«, bat ich.

Der Professor presste die Lippen aufeinander. »Man wird mich informieren, wenn sie erwacht. Es ist ständig jemand bei ihr. Es ist aber nicht Julie oder ein anderes Dienstmädchen, sondern eine Benediktinernonne aus der neugegründeten Kongregation in der Rue Neuve Sainte-Geneviève. Meine Schwester hat dem Kloster schon viel Geld gespendet, so dass die Vorsteherin es als ihre Pflicht ansah …« Er erhob sich unvermittelt. »…aber was rede ich, gehen wir einfach zu Bellevie.«

Ich folgte dem Professor aus dem Salon. Er rief nach Julie, trug ihr auf, unser Kommen der Nonne mitzuteilen, die an Bellevies Bett Wache hielt. Das Dienstmädchen eilte uns voraus. Wir stiegen in den zweiten Stock des Hauses, liefen noch durch einen langen Flur und blieben schließlich vor einer schlichten Zimmertür stehen.

»In diesem Teil des Gebäudes ist es am ruhigsten«, erklärte der Professor. »Die Fenster gehen auf einen kleinen Hof, der geräumt ist und zur Zeit von niemandem betreten wird. Außerdem hat jeder, der im Haus arbeitet, Anweisung, sich ruhig zu verhalten.«

Wir warteten ein, zwei Minuten, bis Julie aus dem Zimmer trat und nickte. Sie trug ein weißes Leinentuch über Mund und Nase. Der Professor nahm zwei solcher Tücher von einem Stuhl, der neben der Zimmertür stand, und reichte mir eines. Er deutete auf die Bänder an den Tuchzipfeln und ich verstand sofort, wie die Anwendung zu erfolgen hatte. Julie musste uns helfen, aber dann waren wir ausgerüstet.

»Kommen Sie«, sagte Professor Bonnet zu mir und ließ mir den Vortritt.

Ich war überrascht, weil der Raum, den ich betrat, so hell war. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zurückgezogen, die Fensterflügel standen einen Spalt offen. Trotz der fortwährend frischen Luft roch es nach aromatischen Salben. Ich blickte mich im Zimmer weiter um. Ganz in der hintersten Ecke stand ein schmales Bett, davor ein Stuhl, neben dem die Benediktinernonne mit gefalteten Händen stand. Ihr nach unten gebeugtes Gesicht verschwand in der Kopfbedeckung, die wie ihr Gewand aus tiefschwarzem Stoff bestand, während das weiße Gesichtstuch, das sie ebenfalls trug, daraus hervorstach. Dennoch erschreckte mich das dominierende Schwarz ihres Umhangs, ohne dass ich sagen konnte warum.

Dann richtete sich mein Blick auf das Bett. Die Nonne trat noch einen Schritt zur Seite und da sah ich Bellevie liegen. Das weiße Laken verhüllte ihre Gestalt, die mir merkwürdig schmal vorkam. Die dünnen Arme lagen neben dem Laken, Bellevies Kopf ruhte auf einem flachen Kissen. Ihr schwarzes Haar hatte den Glanz verloren und war zu zwei dicken Zöpfen geflochten, die links und rechst auf Kissen und Laken gebettet waren.

Ich ging vorsichtig zwei Schritte auf das Bett zu, bis ich in Bellevies Gesicht blicken konnte. Stirn und Wangen waren blass, die Lippen spröde und die Augen geschlossen und eingefallen. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. Die Nonne sah es, beugte sich in einer schnellen Bewegung über die Kranke und tupfte ihr das Gesicht ab. Dann gab die Schwester den Blick wieder frei und erneut erschrak ich bei Bellevies Anblick. Der Professor war inzwischen neben mich getreten. Wir blieben einige Minuten still vor Bellevies Bett stehen, bis mich der Professor sanft am Arm zupfte und gleichzeitig der Nonne zunickte.

Wir verließen das Zimmer, nahmen draußen sofort die Leinentücher von Mund und Nase und atmeten beide erleichtert aus. Die Benediktinernonne war uns gefolgt, schloss hinter sich vorsichtig die Tür, nahm ebenfalls ihr Tuch ab und trat mit gesenktem Kopf vor uns.

Professor Bonnet griff die rechte Hand der Nonne. »Ich bin Ihnen so dankbar, Schwester Firmata.«

»Monsieur, ich bin Schwester Acutina.«

Der Professor stutzte. »Natürlich gilt mein Dank Ihnen beiden.«

Die Nonne senkte kurz den Kopf. »Es ist doch unsere Pflicht zu helfen, das ist doch selbstverständlich.«

 

»In diesen Zeiten ist nicht vieles selbstverständlich und ich weiß auch, dass man der Kirche in den letzten zwanzig Jahren übel mitgespielt hat, ihre Klöster wurden geschlossen und Mönche und Nonnen und alle Kirchenleute zum Teufel gejagt … Entschuldigen Sie, so wollte ich das nicht sagen, aber Sie verstehen?«

Die Schwester nickte. »Wir haben längst vergeben und die Zeiten haben sich ja auch geändert, aber was rede ich, es steht mir nicht zu, etwas zu verurteilen, es steht mir nicht einmal zu, etwas zu vergeben.« Sie senkte erneut den Kopf.

Der Professor ließ einige Sekunden verstreichen. »Sagen Sie mir ganz ehrlich, wie es um meine Tochter steht.«

Die Schwester faltete die Hände vor der Brust. »Unsere Gebete sind stark, dennoch wissen wir nicht, welche Wege der Herr für seine Kinder vorgesehen hat. Wir führen aber die Anweisungen des Doktors aus. Sie müssen diese schwierige Frage daher an ihn richten.«

Der Professor machte ein besorgtes Gesicht. »Das weiß ich wohl, aber Sie und Ihre Mitschwester sind die ganze Zeit bei meiner Tochter, bitte trauen Sie sich, ein Urteil abzugeben.«

Die Schwester nickte erneut, drückte die gefalteten Hände stärker gegen ihre Brust und sah den Professor mit starrem Blick an, bevor sie sprach. »Es kann nicht die Gerberkrankheit sein. Das Fieber frisst sich zu schnell in den Körper. Die Arzneien, die der Doktor verschrieben hat, lindern, aber sie heilen nicht. Ich habe in einem Konvent in Übersee gedient, dort hatten wir viele Soldaten, die an solch einem Fieber gelitten haben.«

»Ein tropisches Fieber?«, fragte der Professor und sah mich an. »Wo sollte sich meine Tochter mit einem tropischen Fieber angesteckt haben?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Sie überlegte. »Vielleicht hat sie sich bei jemandem angesteckt, der aus Übersee gekommen ist. Es gibt Fälle, da bricht das Fieber nicht aus, es überträgt sich aber dennoch.«

»Ich habe für dies alles keine Erklärung«, sagte Professor Bonnet. »Aber ich will Ihnen glauben, Schwester. Ein tropisches Fieber also, was würden Sie verordnen, wenn Sie der Arzt wären.«

»Oh nein, das dürfen Sie nicht von mir verlangen. Ich würde mir so etwas nie anmaßen.«

»Aber nein, so meine ich es nicht. Was haben Sie in Übersee mit Ihren Patienten gemacht, was haben Sie getan, damit sie wieder gesundwerden?«

Die Nonne zögerte, wandte ihren Blick kurz ab. Sie schluckte, bevor sie antwortete. »Es hat niemand überlebt, der bereits die Symptome zeigte, die Ihre Tochter aufweist. Entschuldigen Sie, aber ich darf nichts Anderes auf Ihre Fragen antworten, es ist die Wahrheit und ich bete zu Gott, dass ich in diesem Fall im Unrecht bin. Aber es gibt noch Hoffnung, denn so lange sie schläft, kämpft ihr Körper gegen die Krankheit. Sie muss weiterschlafen, nur dann gibt es Hoffnung, ein klein wenig Hoffnung.«

Der Professor nickte. »Gehen Sie, gehen Sie wieder hinein. Ich will Sie mit meinen Fragen, mit meinem Flehen, nicht in Gewissenskonflikt bringen.«

Die Schwester bekreuzigte sich, senkte noch einmal den Kopf, wandte sich um und kehrte zurück ins Krankenzimmer. Der Professor ging bis ans Ende des Flurs zu einem Fenster und öffnete es. Ich folgte ihm.

»Ich brauche jetzt frische Luft«, sagte er.

Er schloss die Augen und ich legte ihm zum Trost die Hand auf die Schulter. Daraufhin drehte er sich zu mir um und schüttelte den Kopf.

»Ist es richtig, was diese Frau sagt? Der Arzt ist anderer Meinung. Er sagt, Bellevie muss unbedingt wieder zu Bewusstsein kommen. Es ist nicht normal, dass ein Mensch so lange schläft. Das hat der Arzt gesagt. Er will in der Apotheke ein Medikament herstellen lassen, damit meine Tochter wieder erwacht. Er kann sie nur richtig behandeln, wenn sie wach ist und die Behandlung annimmt, das hat er mir zumindest erklärt.«

Wir schwiegen ein, zwei Minuten. Professor Bonnet hatte den Kopf gesenkt, dann raffte er sich auf und bat mich, ihm zurück in den Salon zu folgen. Wir betraten den Raum, der mir jetzt noch düsterer vorkam.

»Es wird schon alles wieder gut und als erstes sollten wir es hier etwas heller machen. Dieses Dunkel drückt uns ja noch mehr auf die Stimmung.«

Ohne eine Antwort abzuwarten ging ich zu den Fenstern, um die Vorhänge zurückzuschlagen. Draußen hatte es sich zwar zugezogen, aber es wurde dennoch deutlich heller und freundlicher im Salon. Wir setzten uns wieder.

»Was ist mit Philippe, wie geht es ihm bei all dem?«, fragte ich schließlich.

»Den Jungen habe ich aufs Land geschickt. Er ist bei einem alten Freund von mir. Dort bekommt er etwas zu tun und ist abgelenkt, auch von all dem, was in den letzten Wochen geschehen ist. Es war auch für ihn nicht immer leicht, der Aufbruch von Elba, die Flucht auf dem Schiff und überhaupt.«

»Er könnte hier in Paris doch wieder eine Schule besuchen«, schlug ich vor.

»Die Schulen in Paris öffnen erst im Herbst«, erklärte der Professor. »Seine Mutter wollte eine Anstalt aussuchen, aber dazu ist sie ja derzeit nicht in der Lage. Wir hatten auch an ein Internat gedacht, eines außerhalb von Paris. Ich denke nämlich, dass es in den nächsten Wochen durchaus turbulent in der Hauptstadt zugehen kann.«

»Und was ist mit Versailles, wollen Sie denn nicht nach Versailles zurückkehren, also wenn es Bellevie wieder bessergeht?«

Der Professor schüttelte den Kopf. »Da bin ich nicht mehr gern gesehen, da haben andere Herren das Zepter in die Hand genommen. Man nimmt mir die Nähe zum Kaiser übel, fürchte ich.«

Ich nickte. »Die Zeiten ändern sich schnell.«

*

Mein Besuch im Hause Bonnet-Durant war also nicht sehr erfreulich. In der kommenden Woche versäumte ich es nicht, mich mehrmals täglich nach Bellevies Befinden zu erkundigen. Einmal sprach ich sogar kurz mit dem Arzt, der einen sehr gehetzten Eindruck auf mich machte. Wir konnten nur froh sein, dass sich die barmherzigen Schwestern so aufopferungsvoll um Bellevie kümmerten.

Am Freitag war ich ebenfalls am Vormittag zu Besuch beim Professor und seiner Schwester, hatte dann einiges an Post zu erledigen, um mich vor dem Abendessen noch einmal nach Bellevie zu erkundigen. Julie empfing mich. Sie war ganz aufgeregt, brachte mich sofort in das abgeriegelte Stockwerk des Hauses zum Zimmer der Kranken. Julie ließ mich eintreten, blieb selbst aber draußen auf dem Flur zurück und schloss die Tür hinter mir.

Ich war sehr überrascht, das Zimmer angefüllt mit Besuchern vorzufinden. Der Professor und seine Schwester, die beiden Nonnen. Und sogar Philippe war anwesend, den ich solange nicht mehr gesehen hatte. Die Begrüßung fiel gedämpft aus, obwohl ich in Philippes Gesicht große Freude über mein Erscheinen zu erkennen glaubte, und dies, obwohl er eine Tuchmaske vor Mund und Nase trug, wie übrigens alle Anwesenden. Deshalb wandte sich der Professor auch sofort an mich, gab mir ein frisches Tuch, das ich mir sogleich umband.

So ausgerüstet wurde mir der Blick auf das Krankenbett freigemacht. Und dort lag Bellevie, aber ganz anders, als noch an den Tagen zuvor. Die Pflegerinnen hatten ihr ein großes Kissen unter Schulter und Kopf geschoben, so dass sie jetzt höher lag. Sie hatte aber immer noch die Augen geschlossen. Ich trat näher und da bewegte sie den Kopf in meine Richtung. Ihre Augenlieder flackerten, sie öffnete den Mund, um ihn gleich wieder zu schließen. Eine der Nonnen beugte sich zu Bellevie, richtete noch einmal das Kissen. Ich ging ein Stück zur Seite, so dass ich jetzt am Fußende neben dem Bett stand. Und in diesem Moment öffnete Bellevie vollends die Augen und sah mich an.

Sie verharrte so ein paar Sekunden und dann begann sie zu lächeln und sofort wirkte das zunächst matte Blau ihrer Augen strahlender. Ich lächelte ebenfalls, wollte näher zu ihr und ihr die Hände halten, doch ich zögerte. Dafür versuchte Bellevie ihren Arm zu heben, ihn mir entgegenzustrecken, was ihr nicht gelang. Sie zitterte und sofort waren beiden Nonnen um sie herum, ließen es nicht zu, dass Bellevie sich mehr bewegte und anstrengte, als es für die Kranke ratsam war.

»Reden Sie mit ihr«, forderte mich Professor Bonnet auf. »Ich habe ihr erzählt, dass Sie jetzt in Paris sind und sich die ganze Woche um sie bemüht haben.«

Ich sah den Professor kurz an, nickte und wandte mich wieder Bellevie zu, die erneut kurz die Augen schloss, mich dann aber umso fester ansah. Ich schluckte, suchte nach Worten, überlegte, wie ich beginnen sollte. Es musste etwas sein, das sie aufmunterte, ihr Zuversicht gab. Wer ans Bett gefesselt ist, dessen heißer Wunsch muss es sein, sich wieder zu erheben, in die Welt hinauszukönnen.

»Bellevie, ich möchte Dir meine Heimat zeigen, ich möchte, dass wir bald nach Schweden aufbrechen. Ich bin dort längst überfällig und dir wird das Klima gefallen, jetzt im späten Sommer, bevor der Schnee kommt.«

In dem Moment, wo ich es ausgesprochen hatte, kamen mir meine Worte sinnlos vor. Philippe sah mich an und nickte.

»Ich will aber auch den Schnee sehen«, sagte er sofort.

Ich lächelte ihn an. »Ja, den Schnee und davor das Fallen der Blätter und dann das weiße Kleid in das das Land im Winter gehüllt ist.«

Bellevie begann heftiger zu atmen. Ich befürchtete, sie würde sich zu sehr erregt zu haben, doch die beiden Nonnen rührten sich nicht, griffen nicht ein. Dies ermunterte mich, jetzt doch Bellevies Hände zu nehmen und als ich sie hielt, musste ich mich verstellen, denn ich erschrak sehr. Nie zuvor waren mir Hände einer Lebenden so eiskalt vorgekommen. Im nächsten Moment hielt ich es für ein gutes Zeichen. Das Fieber musste vorüber sein. Der Brand im Köper war erloschen. Bellevie bewegte die Lippen.

Ich drückte ihre Hände fester. »Du brauchst nicht zu antworten«, sagte ich.

Sie versuchte mit der Zunge ihre Lippen zu befeuchten, aber es gelang ihr nicht. Sie schluckte, bewegte den Kopf, reckte ihn mir noch ein Stück entgegen, doch bevor die Nonnen sie stützen konnten, sank sie wieder zurück auf das Kissen.

»Phi-lippe«, war das einzige Wort, das sie mit einer schwachen Stimme hauchte.

Sie hatte mich also gar nicht erkannt, schoss es mir sofort in den Sinn. Und schon hatte sie die Augen wieder geschlossen. Ein Räuspern erklang hinter uns. Wir drehten uns um und da stand der Doktor in der Tür. Er suchte mit uns allen Blickkontakt und wir verstanden den stillen Befehl sofort. Eine der Nonnen blieb als einzige im Krankenzimmer zurück, während der Arzt uns andere vor der Türe versammelte.

»Sie handeln sehr unvernünftig, wenn sie die Patientin so bedrängen. Auch wenn sie wach ist, gilt weiterhin höchste Aufmerksamkeit. Die Krise ist noch lange nicht überstanden.«

Die Tür des Krankenzimmers öffnete sich. Die verbliebene Nonne erschien und trat dicht vor den Doktor. »Sie klagt über starke Schmerzen im Leib, im Unterleib, seitlich, und ihr ist übel.«

»Ich komme sofort.« Er wandte sich noch kurz an uns. »Sie sehen jetzt, was ich meinte.«

Die beiden Nonnen und der Doktor verschwanden im Krankenzimmer und ließen uns ratlos zurück.

»Wenigstens ist sie wach«, sagte ich schließlich. »Das muss doch ein gutes Zeichen sein.«

*

In den kommenden Tagen setzte ich meine Besuche zwar fort, wagte mich aber nicht in die Nähe des Krankenzimmers. Ich sprach nur mit dem Professor und einmal mit seiner Schwester, erfuhr aber nicht so recht, ob die Patientin Fortschritte machte. An jenem Tag, an dem ich Bellevies Hände gehalten hatte, versäumte ich es hinterher, mich mit Philippe zu unterhalten, der Paris schon am nächsten Tag wieder verlassen hatte. Ich erinnerte mich aber an seinen Wunsch, die Sterne mit Hilfe eines Teleskops zu beobachten. Ich sah mich in Paris um, fand dort aber nur sehr wenige Geräte, die zum Kauf standen und zudem noch überaus teuer waren. Ich fasste einen Brief an meinen alten Freund Karl Johann Müller ab, der in München lebte und dort für einen Hersteller optischer Geräte arbeitete.

Karl und ich hatten uns Jahre zur vor in Stockholm kennengelernt, wo ich ihm half, die berühmten Teleskope der Münchner Manufaktur zu verkaufen. Als Karl schließlich wieder in seine Heimat zurückkehrte, machte er mir mit meinem Utzschneider Fernrohr ein wunderbares Abschiedsgeschenk. Dieses Instrument führte ich seither bei mir und es hatte bereits große Schlachten und die Landschaften halb Europas gesehen. Mein Brief an Karl wurde länger als ich beabsichtigt hatte. Einmal im Fluss schrieb ich ihm über fast alle meine Abenteuer der vergangenen drei Jahre.

Ich ging daher erst spät zur Post, um den Brief aufzugeben. Der Stationsvorsteher wollte schon abschließen, als ich mich noch in seine Stube drängte. Er beäugte meine Uniform, nachdem ich die Beförderungsgebühr entrichtet hatte.

 

»Es könnte sein, dass ich nach Ihnen geschickt habe«, sagte er. »Sie sind doch schwedischer Offizier und heißen zufällig …« Er suchte nach einem Zettel auf seinem Pult, fand ihn und versuchte die Schrift zu entziffern. »A-n-s-o-n oder wie spricht man das aus, Herr Major?«

»Hanson, Falk Hanson ist mein Name, Major Hanson, um genau zu sein. Und Sie haben etwas für mich?«

»Ja, obwohl ich es gar nicht dürfte. So etwas bekommt normalerweise die Stadtverwaltung, wir sind für diplomatische und militärische Angelegenheiten nicht zuständig.«

»Verstehe«, sagte ich erwartungsvoll.

»Einen Moment, ich hole es, Sie müssen es aber quittieren, ansonsten gebe ich nichts heraus.«

Er ging in das Hinterzimmer, kam aber nach wenigen Sekunden zurück. Der verschmutzte Umschlag deutete daraufhin, dass die Depesche mit einem Meldereiter unterwegs war, dies zumindest auf einem Teil der Reise. Mir wurde sofort das Unterschriftsformular vorgelegt, das ich ausfüllte, mich aber ansonsten nicht legitimieren musste. Die Depesche wurde mir schließlich über das Pult gereicht, dann klimperte der Stationsvorsteher mit seinem Schlüsselbund, womit er mich aufforderte, zu gehen.

Ich wollte den Umschlag noch auf der Straße öffnen, besann mich aber und ging zurück zu meiner Unterkunft. Auf meinem Zimmer betrachtete ich zunächst die Adresse. Das Schreiben sollte im ehemaligen Schwedischen Hauptquartier in Paris abgegeben werden. Da dieser Ort bereits in anderen Händen war, wie ich mich vor wenigen Tagen selbst überzeugt hatte, musste der Bote wohl den offiziellen Postweg gegangen sein. Drei, vier Stempel bewiesen, dass die versiegelte Depesche sowohl durch zivile als auch militärische Hände gegangen war, um schließlich in einer einfachen Poststation zu landen.

Es war aber kein Zufall, dass diese Poststation in dem Stadtteil lag, in dem ich momentan wohnte. Bei meiner Ankunft in Paris hatte man mir geraten, mich bei den Behörden anzumelden, was Voraussetzung dafür war, dass ich auch weiterhin meine in Frankreich ausländische Uniform trug. Wenn ich die Depesche also nicht selbst abgeholt hätte, wäre sie mir in der Tat an meine Unterkunft zugestellt worden.

Ich drehte den Umschlag und widmete mich jetzt dem Absender. Major Samuel Quidde. Ich musste etwas überlegen, doch dann konnte ich den Namen wieder einordnen. Es war im März 1814 auf dem Kongress von Châtillon. Während Napoléon Bonaparte noch immer einen militärischen Ausweg suchte, wollte ihm sein Außenminister Caulaincourt die nötige Zeit verschaffen, indem er mit den Alliierten zäh über einen Frieden verhandelte.

Major Quidde gehörte zu dieser Zeit der schwedischen Delegation um Generallöjtnant Carl Axel Löwenhielm an, unter dem er zu dieser Zeit auch in Wien diente, wie ich später erfahren sollte. Ich öffnete also die Depesche und begann zu lesen. Während ich bei seinem Namen noch überlegen musste, konnte Major Quidde sich offenbar noch sehr gut an mich erinnern, zitierte einige Ereignisse, die wir gemeinsam in Châtillon erlebt hatten, und kam dann zur Sache. Es ging um eine diplomatische Angelegenheit, die nach Napoléons erster Abdankung nicht vollzogen werden konnte, da man den neueingesetzten französischen König damals nicht mit einer ausländischen Affäre zusätzlich belasten wollte.

In der Zwischenzeit sah dies aber anders aus und Schweden wollte endlich sein Recht einfordern. Es ging um Handels- und Kriegsschiffe, die sich entweder durch unlauteren Vertrag oder durch Kriegshandlungen noch in französischer Hand befanden. Major Quidde hatte mich vorgeschlagen, weil er sich erinnerte, dass ich mich mit maritimen Angelegenheiten auskannte. Genauso oder ähnlich lauteten die Worte, die ich der Depesche entnahm. Der Major kündigte weiter an, dass er sich in absehbarer Zeit mit mir in Paris treffen wolle, was für mich hieß, dass ich jetzt Befehl hatte, in der Stadt zu bleiben. Ich schaute auf das Datum und stellte fest, dass Major Quiddes Ankunft in Paris bereits in den nächsten zwei Tagen zu erwarten war.

Ich war also nicht genötigt, eine Antwort auf die Depesche zu verfassen, sondern musste alles vorbereiten, damit der Major in der französischen Hauptstadt Unterkunft fand. Mir war schnell klar, dass ich damit ebenfalls umziehen musste, weil meine mir von den Briten gestellte Pension für die geplante Mission kein geeignetes Hauptquartier war. So kam es, dass ich in den nächsten vier Tagen keine Zeit mehr hatte, mich nach Bellevies Befinden zu erkundigen, geschweige denn, der Kranken einen Besuch abzustatten. Ich war nicht sehr besorgt darum, da ich ja glaubte, Bellevies Gesundheit sei auf dem guten Wege der Besserung. Ich sollte dies noch bitter bereuen, in der Zwischenzeit ahnte ich aber noch nichts von dem Unheil.

Ich mietete uns in einem Bürgerhaus ein, sorgte für Verpflegung, die uns zu den Essenszeiten ins Haus gebracht wurde, und schloss mit einem Mietstall einen Kontrakt zur Nutzung von Reitpferden und einer kleinen Kutsche ab. Ich war gerade mit meinen Vorbereitungen fertig, als ich eine Nachricht von Major Quidde erhielt, in der er seine baldige Ankunft in Paris ankündigte. Aus dem Vorjahr, während der Schlacht um Paris kannte er sich in der Umgebung aus und bat mich, ihn und seine Begleiter in Pantin, nordöstlich der Hauptstadt zu treffen.

Ich war rechtzeitig zur Stelle, wartete den halben Vormittag im Garten einer Schankwirtschaft, bis ich eine Gruppe von Reitern kommen sah, deren Uniformen staubbedeckt waren. Die schwedische Delegation war fast drei Wochen unterwegs gewesen, um von Wien nach Paris zu gelangen. Bevor wir das letzte Stück in die Stadt hinein in Angriff nahmen, spendierte ich zunächst eine gute Mahlzeit im Gasthof. Erst gegen Abend ließ ich den Major und seine vier Männer Quartier beziehen. Die Unterkunft schien ihnen zu gefallen. Der Major bezog das Zimmer, das ich für ihn vorgesehen hatte, während sich die Löjtnants auf die zwei anderen Räume im ersten Stock des Hauses verteilten.

Ich selbst kehrte in der ersten Nacht noch einmal in mein altes Quartier zurück, zog aber am nächsten Morgen auch zu meinen Kameraden. Major Quidde setzte dann nach dem Frühstück gleich die erste Besprechung an. Er legte seine Dokumentenmappe auf den Tisch, an dem wir alle Platz genommen hatten, und zog ein mehrseitiges Papier daraus hervor.

Er sah mich an. »Sie haben Ahnung von Schiffen?«

»Was verstehen Sie darunter?«, stellte ich die Gegenfrage.

»Lomma, die Werft in Lomma, die Ihre Familie betreibt. Sie werden es nicht glauben, aber ich kenne den Ort und auch den Betrieb dort, ansonsten habe ich mit Schifffahrt nicht viel zu tun.«

Ich nickte. »Mit Schiffbau kenne ich mich aus, wenn Sie das meinen?«

»Ja, das könnte ich meinen«, sagte der Major nur und schob mir eins der Blätter über den Tisch.

Ich nahm es und las die ersten Zeilen darauf. Hattoon, dreihundertsieben Tonnen, Baujahr 1807, Verlust 1809, Beschreibung: Takelung Brigg, Länge einundneunzig Fuß, Breite sechsundzwanzig Fuß, Tiefgang zwölf Fuß, Bewaffnung acht Neunpfünder Kanonen, zwei Achtundzwanzigpfünder Karronaden. Im nächsten Abschnitt folgte ein weiterer Schiffsname, insgesamt acht Schiffe auf der ersten Seite, alle in gleicher Weise beschrieben.

»Die Hattoon ist ein Frachtsegler«, sagte ich.

»Kennen Sie das Schiff? Wie ist es mit den anderen?« der Major reichte mir schon das zweite Blatt.

Ich nahm es, schüttelte aber den Kopf. »Ich kenne die Hattoon nicht und auch die anderen Namen hier sagen mir so nichts. Oder warten Sie, die Dristigheten ist mir natürlich bekannt. Ich habe sie mal in Malmö vor Anker liegen sehen, aber das ist schon sehr lange her.«