Kanonen für Saint Helena

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Z serii: Falk-Hanson-Reihe #3
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Bellevie

Ich gab dem Proviantboot eine Nachricht für die HMS Myrmidon mit, kündigte an, nicht wieder auf das Schiff zurückzukehren. Meinen Seesack hatte ich bereits von Bord mitgenommen und holte ihn jetzt vom Anleger ab, wo ich ihn deponiert hatte. An der Mündung der Charente lagen einige Kähne, die flussaufwärts nach Rochefort hineinfuhren. Ich bezahlte für die Passage und ging an Bord. Ich wusste nicht, wie die Stimmung in der Stadtbevölkerung war. Ich hatte mich nach Napoléons Niederlage noch nicht in Frankreich aufgehalten und war auch auf der Île-d’Aix und an der Flussmündung der Charente erst wenigen Franzosen begegnet.

Der Fährmann hatte mich nur zögerlich mitnehmen wollen und auch sein Gehilfe ließ mich nicht aus den Augen, als ich jetzt im Bug stehend meinen Uniformrock auszog und gegen eine zivile Jacke tauschte. Mein Paar Hosen waren unauffällig und würden mich nicht als ausländischen Offizier entlarven. Meinen Säbel hatte ich in eine Decke gewickelt und der Länge nach in den Seesack gesteckt, mit dem Griff nach unten, so dass jetzt nur noch eine unauffällige Spitze aus dem Gepäckstück ragte. Ich hatte auch eine meiner Pistolen dabei, die ich gut unter meiner Jacke verbergen konnte. Das Baker Rifle, meine Ersatzuniform und andere kleinere Habseligkeiten hatte ich in Antwerpen gelassen, postlagernd, so dass ich sie mir jederzeit nachsenden lassen konnte.

Nach gut drei Meilen beschrieb der Fluss eine große Schleife. An seinen Ufern waren Felder zu sehen, einige Bauern standen vor ihren Pflügen, auf einer nahen Straße bewegte sich eine Kolonne von Fuhrwerken. Dann erreichten wir auch schon die Stadtgrenze von Rochefort. Wir segelten ganz sicher einmal im Bogen um die Stadt herum, bis wir zu einem kleinen Hafen kamen. Hier stieg ich aus, gab dem Fährmann und seinem Gehilfen noch ein anständiges Trinkgeld. Die Männer machten sich sofort wieder an die Rückfahrt, wendeten ihren Kahn auf dem Fluss und setzten Segel.

Es lag nur ein kurzer Fußmarsch vor mir und schon befand ich mich im Zentrum. Eine Poststation, verschiedene Krämerläden, das Rathaus und genau zwei Gasthäuser, in denen es Zimmer gab. Ich setzte mich erst einmal auf einen Mauervorsprung und ruhte aus. Ich fragte mich tatsächlich, was ich jetzt vorhatte. Es wäre vielleicht doch besser gewesen, auf der Myrmidon zu bleiben, die als Begleitschiff der Bellerophon nach England zurückkehrte. Ich fürchtete allerdings, wenn ich dort in Napoléons Nähe bliebe, auch weiterhin von Arnauld bedrängt zu werden. Ich musste dem entkommen, wusste aber nicht, wie ich von Rochefort nach Lübeck gelangen sollte, wo man mich ganz sicher irgendwann erwartete. An mein Zuhause und an eine Rückkehr nach Schweden, dachte ich zunächst überhaupt nicht.

Wie oft in meinem Leben, bestimmte schließlich der Zufall meine Geschicke. Ich beobachtete gerade die Menschen auf dem Platz vor dem Rathaus von Rochefort. Ein Lumpensammler ging vorüber, zwei Steinmetze vermaßen den Sockel links am Gebäude. Eine Frau zog einen kleinen Karren an mir vorbei, auf dem Blumen gestapelt lagen. Die Blüten verströmten einen angenehmen Duft, der aber schnell verflog, als sich der Karren immer mehr entfernte. Ich sah der Blumenhändlerin nach, wurde dann aber durch einen Ruf aufgeschreckt. Ein Befehl hallte über den Platz. Ich blickte sofort zum Portal des Rathauses, wo eine Wache aufmarschiert war.

Die große Eingangstür zu dem Gebäude öffnete sich, zwei Männer traten heraus. Die Silhouette des einen kam mir bekannt vor. Mit der Hand schirmte ich meine Augen vor der Sonne ab. Tatsächlich stand dort Ritmeester de Groot und verabschiedete sich gerade von einem Mann in zivil. Sie gaben sich die Hände und de Groot salutierte zum Abschied. Ich hatte mich inzwischen erhoben, um dem Ritmeester zuzuwinken, der aber gar nicht mehr in meine Richtung schaute, sondern mit strammen Schritten die Straße entlangeilte und in einer Gasse verschwand. Ich musste mich beeilen, schulterte den schweren Seesack und begann zu rennen.

Die Wachen am Rathausportal wurden auf mich aufmerksam. Zunächst trafen mich nur ihre Blicke, dann wurde mir nachgerufen. Ich wurde offenbar zum Stehenbleiben aufgefordert, was ich wohl überhört haben musste, denn plötzlich hallten schwere Stiefeltritte hinter mir auf dem Pflaster der Straße. Ein erneuter Ruf, ich wandte mich im Laufen um, sah plötzlich in die Mündung einer Muskete und kam beinahe ins Stolpern. Ich blieb stehen, reckte angesichts der Waffe, mit der man auf mich zielte, die Hände in die Höhe. Dabei rutschte mir der Seesack von der Schulter, fiel auf den Boden und kippte um. Das Tuch um die Säbelspitze hatte sich gelöst. Die beiden französischen Polizisten starrten einige Sekunden auf die jetzt sichtbare Waffe.

Ich wollte mich erklären, aber längst kamen weitere Wachen angerannt. Passanten blieben stehen, eine Traube von Menschen bildete sich um die Szene, in deren Mitte ich stand. Ein herbeigerufener französischer Offizier bahnte sich den Weg durch seine Leute und ließ sie die Waffen herunternehmen. Er gab weitere Befehle und ich wurde von zwei Wachen recht rüde gepackt und ein paar Schritte von meinem Seesack getrennt. Der Offizier machte sich an die Inspektion meiner Sachen, öffnete den Sack und zog meinen Säbel heraus. Er betrachtete sich kurz die Klinge, legte die Waffe auf den Boden und holte weitere meiner Sachen aus dem Seesack, fand neben meiner Kleidung auch die Pistole, deren Gegenstück ich immer noch unter meiner Jacke trug. Den Uniformrock fand er ganz unten, breitete ihn aus und betrachtete die Rangabzeichen. Er sah mich prüfend an und ich vermutete, dass er die Majorsuniform erkannt hatte.

»Wo hast du das gestohlen?«, fragte er mich auf Französisch und deutete sowohl auf meine Uniform, als auch auf den Säbel und die Pistole.

Bevor ich antworten konnte rief der Offizier seinen Leuten zu, mich zu durchsuchen, was sofort und recht schmerzhaft geschah. Natürlich förderte man die zweite Pistole zu Tage. Während sich der Offizier diesen ungeheuerlichen Fund ansah, blieben meine Papiere, die einer der Wachen seinem Vorgesetzten zusammen mit meinem Bargeld reichte, zunächst unbeachtet. Der Offizier nahm die Münzen, die aus Silber und ein wenig Gold bestanden und wog sie in der Hand. Dabei übersah er meine Legitimation, die er bereits achtlos auf den Kleiderhaufen geworfen hatte.

Erst jetzt begann ich zu protestieren. »Erlauben Sie, mich vorzustellen«, rief ich und beteuerte, dass es sich um ein Missverständnis handelte. Da mir die Arme festgehalten wurden, tippte ich mit der Fußspitze auf den schmutzigen Umschlag, in dem meine Papiere steckten. Ich wurde sofort grob zurückgerissen und beinahe niedergedrückt, als eine vertraute Stimme zu rufen begann.

»Hallo, was ist denn da los?«

Ritmeester de Groots Gestalt überragte alle Anwesenden. Er drückte die Männer zur Seite, die seiner Uniform dann sofort Platz machten. Der Offizier salutierte.

»Was ist denn da los?«, wiederholte de Groot.

Als er mich halb am Boden liegend sah, stutzte er.

»Was ist denn das?«, wandte er sich an den Offizier. »Wie können Sie es wagen, einen alliierten Offizier derart zu behandeln. Im Grunde steht auch Rochefort unter Kriegsrecht und wir können Ihnen allen die Waffen abnehmen lassen.«

Der Offizier hielt seine Salutstellung vor dem Ritmeester und begann etwas zu stammeln.

»Nichts da!«, rief de Groot. »Helfen Sie dem Mann auf und geben Sie ihm seine Sachen zurück. Und vor allem, entschuldigen Sie sich in aller Höflichkeit.«

Ich wurde bereits losgelassen, nachdem man mich wieder auf die Beine gestellt hatte. Ein Wachsoldat stopfte meine Sachen in den Seesack und bemühte sich, alles ordentlich zu machen. Den Säbel gab er seinem Offizier, der sich jetzt vor mich stellte und ihn mir reichte.

»Sie entschuldigen unser voreiliges Handeln, aber in den letzten Tagen … gerade wo die Anwesenheit des Kaisers Napoléon nicht verborgen geblieben ist … ich hoffe, Sie verzeihen mir.«

Ich nickte. »Es ist schon in Ordnung, vielleicht war es auch mein Fehler in Zivil aufzutreten.«

Ich sah kurz zu Ritmeester de Groot, der in voller Uniform und mit allen seinen Orden die Szene beobachtete. Der Offizier schwieg, übergab mir schließlich meinen Säbel und salutierte zum Abschied. Seine Männer standen längst wieder in Formation. Der Trupp setzte sich in Bewegung und keine Minute später stand ich alleine mit dem Ritmeester auf dem Platz, denn auch die Neugierigen Bürger Rocheforts hatten sich zurückgezogen oder gingen wieder ihren Geschäften nach.

»In diesen Zeiten ist es wirklich besser, Uniform zu tragen«, sagte de Groot und klopfte mir auf die Schulter. »Aber was machen Sie überhaupt hier. So viel ich weiß, wird die Bellerophon nicht mehr lange auf Reede liegen und in See stechen, sobald sie den Korsen eingesammelt hat.«

»Ich werde weder auf der Bellerophon noch auf der Myrmidon zurückreisen«, verkündete ich. »Mein Ziel ist der Norden, Lübeck, wo sehr wahrscheinlich mein Vorgesetzter schon längst meine Rückkehr erwartet. Oder glauben Sie, dass es auf dem Landweg bis zur nächsten Grenze zu gefährlich ist, wenn man mich schon hier beinahe verhaftet hätte?«

»Auf dem Landweg? Unmöglich, wie kommen Sie darauf?« De Groot schüttelte den Kopf. »Ich kann Sie mitnehmen, ich muss allerdings nach Paris. Die Bellerophon hatte Order für mich, die Zeiten sind unruhig, immer wieder neue Befehle.« Er stutzte. »Sie können mich also gerne begleiten und in Le Havre ein anderes Schiff besteigen. Es sei denn Sie suchen das Abenteuer, denn noch brodelt es im Inneren Frankreichs.«

»Nein, nein, vorerst keine Abenteuer. Ich dachte eben, auf dem Landweg wäre es einfacher. Ich habe es schon ausgerechnet, über Nantes und weiter nach Paris. Es sind keine vierhundert Meilen, in einer Woche zu bewältigen. Danach stelle ich es mir einfacher vor, im Geleit abziehender alliierter Truppen weiterzureisen.« Ich überlegte. »Das Schiff wäre natürlich schneller, aber die Bellerophon wird direkt nach Plymouth segeln und mich wohl kaum in Le Havre absetzen.«

 

»Sie brauchen mindestens zehn Tage nach Paris, es sei denn Sie reiten und reiten damit Wegelagerern, Royalisten oder Kaisertreuen direkt in die Arme, obwohl Sie in einer Kutsche auch nicht viel sicherer wären.« Der Ritmeester machte eine Pause. »Dann ist es doch wohl abgemacht, dass wir gemeinsam das Schiff nehmen.«

»Ich kann mich nur bedanken«, sagte ich und überlegte. »Vor Reede liegen doch nur zwei französische Kriegsschiffe sowie die Myrmidon, die Bellerophon und ihr Begleittross. Handelsschiffe sind mir nicht aufgefallen.«

Der Ritmeester nickte. »Das ist fein beobachtet. In der Tat bleibt uns nichts Anderes übrig, als auf einem Franzosen zu fahren, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Keinesfalls.«

»Gut«, der Ritmeester lächelte, »es ist die La Méduse. Ein Offizier aus Napoléons Gefolge hat mich mit ihrem Kapitän bekannt gemacht. Da das Schiff über kurz oder lang wieder in Diensten Ludwigs stehen wird, war er bereit mich aufzunehmen und bietet ganz sicher auch Platz für einen weiteren Passagier.«

Ich hatte die Fregatte vor Augen. Sie lag zusammen mit der kleineren Saale in der Bucht östlich der Île-d’Aix. Der britische Verband unter Führung der Bellerophon war den beiden Schiffen bei weitem überlegen. Das mussten alle Beteiligten einsehen. Außerdem befand sich Frankreich nicht mehr im Krieg. Napoléon hatte in Paris abgedankt. Alles war zum Erliegen gekommen und so waren die Saale und die La Méduse in der Bucht von Rochefort gestrandet.

Ich reichte Ritmeester de Groot die Hand. »Wann soll ich mich bereithalten, wann brechen wir auf?«

*

Wir verbrachten die Nacht in einem kleinen Gasthaus in Rochefort. Am nächsten Morgen trat ich genauso wie Ritmeester de Groot in voller Uniform auf. Ein Segler brachte uns an die Mündung der Charente und fuhr uns weiter hinaus in die Bucht. Am frühen Vormittag legten wir neben der La Méduse an und enterten über die Jakobsleiter auf Deck. Sofort wurden wir einigen Offizieren vorgestellt, nicht aber dem Kapitän, der erst eine Stunde vor uns an Bord gekommen war und sich in seiner Kabine zur Ruhe gelegt hatte. Sein Erster Offizier hatte inzwischen das Kommando auf der La Méduse und machte die Fregatte gerade zum Auslaufen bereit. Ein Schiffsjunge führte uns unter Deck. In der Kabine, die ich mit de Groot teilen sollte, gab es kaum Platz für unser Gepäck. Es war daher ganz gut, dass ich nur meinen Seesack dabeihatte. Als ich merkte, dass Bewegung ins Schiff kam, eilte ich wieder an Deck, während sich der Ritmeester unten noch einrichtete.

Die La Méduse hatte bereits am Großmast Segel gesetzt und drehte in der Bucht, wobei sie fast auf der Stelle blieb, da Wind und Wasserströmung einander ausglichen. Ich lehnte mich über die Reling und sah über das Heck zur Saale, die ebenfalls Tuch gesetzt hatte, sich langsam von der Île-d’Aix entfernte. Bei meiner Ankunft auf der La Méduse hatte ich nicht auf die Saale geachtet, sie musste aber an einem Zipfel der Île-d’Aix geankert haben, um jetzt ebenfalls in See zu stechen.

Mit den bloßen Augen war über die Bucht hinweg nicht alles klar zu erkennen, weshalb ich mein Utzschneider hervorholte und zunächst auf die Küste des Festlandes hielt. Die See war ruhig, so dass kaum Wellen auf den Strand rollten und die Stapel mit Tang nicht erreichten, die die Küstenbauern während der letzten Ebbe geerntet hatten. Ich drehte mich, legte das Fernglas neu an und suchte in Richtung offener See nach anderen Schiffen. Zu meiner Überraschung fand ich die HMS Bellerophon und daneben auch die HMS Myrmidon noch immer draußen in der Bucht. Die Myrmidon musste ein Boot zur Île-d’Aix geschickt haben, denn als ich den Schwenk zur Insel machte, traf ich auf eine kleine Barkasse, die mir von meinem eigenen Aufenthalt auf dem britischen Kriegsschiff sehr wohl bekannt war. Ich glaubte auch die Offiziere wiedererkannt zu haben, die das Gefährt befehligten. Dabei fiel mir auf, dass eine ganze Reihe Marinesoldaten mit Musketen und aufgepflanzten Bajonetten an Bord waren.

»Darf ich mal?«, bat mich de Groot, der plötzlich neben mir stand.

Ich gab ihm das Utzschneider, er hatte schnell heraus, wie er es fokussieren musste und schwenkte wie ich zuvor von den beiden Kriegsschiffen zur Barkasse, die jetzt schon in Rufweite zur Insel lag.

»Sie holen ihn ab«, kommentierte der Ritmeester. »Wollten sie nicht schon gestern wieder in See stechen?« Fragte er sich selbst und schüttelte den Kopf. »Hat der Korse noch einen Tag länger herausgeholt, oder was sagen Sie?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht fehlt aber auch nur Gepäck.«

»Weiß nicht. Warum sollten sie für das Gepäck so viele Soldaten hinschicken.« Der Ritmeester schüttelte erneut den Kopf und gab mir mein Fernglas zurück.

Wir mussten uns auf das Achterdeck zurückziehen, weil jetzt die Matrosen an Deck strömten, um auch an den anderen Masten die Segel zu setzen. Ich hatte immer Vergnügen, dieses Schauspiel zu beobachten und musste anerkennen, dass die Mannschaft ihr Handwerk verstand. Die La Méduse nahm Fahrt auf, eine erste Wende dann passierte sie im Abstand von etwa einer Meile die Bellerophon und gleich danach auch die Myrmidon.

Der Kapitän brach schließlich die Segelmanöver ab, eine entgegengesetzte Wende brachte uns wieder näher an die Île-d’Aix. Der Ritmeester borgte sich erneut mein Utzschneider und richtete es auf die Insel, während ich überlegte, was da unter Deck so polterte. Ein Rollen war zu hören und zaghafte Befehle, deren Wortlaut ich nicht verstand. Dann stieß mich der Ritmeester an und deutete zur Île-d’Aix.

»Die suchen irgendetwas«, sagte er. »Die Mannschaft hat sich aufgeteilt.«

Er führte das Fernglas erneut an sein rechtes Auge und kniff dabei das Linke blinzelnd zu. Schließlich setzte er das Utzschneider ab und gab es mir zurück. Neugierig geworden sah ich ebenfalls zur Insel hinüber. Es war tatsächlich so, dass die Männer aus der Barkasse etwas suchten. Zwei Trupps gingen von Gebäude zu Gebäude, hatten den Palast, in dem ich Napoléon am Vortag getroffen hatten, offenbar schon durchsucht. Konnte es sein, dass sie nach dem Kaiser fahndeten? Ich hätte angenommen, Napoléon befände sich längst auf der Bellerophon.

»Darf ich noch einmal Ihr Glas?«, fragte der Ritmeester. »Die Saale steht ja auch schon unter vollen Segeln. Ich dachte sie würde uns nicht nach Le Havre begleiten?«

Ich strich noch einmal über die gesamte Länge der Île-d’Aix und wollte das Fernglas gerade weiterreichen, als ich auf der Mole innehielt. Ein Matrose war auf den höchsten Punkt der Steinmauer geklettert und breitete jetzt seine Signalfahnen aus. Drei, vier Mal wiederholte er den Code, um eine neue Nachricht anzukündigen, bis man auf der Bellerophon und der Myrmidon schließlich empfangsbereit war. Dann folgte ein Signal, dass ich nur schwer entziffern konnte. Ich überlegte noch, da wurde das Signal wiederholt, diesmal etwas langsamer und ich begriff endlich.

»Was macht der da?«, fragte der Ritmeester, der den Signalgast ebenfalls bemerkt hatte.

Ich schüttelte den Kopf. »Es kann doch nicht sein, dass Napoléon geflohen ist, wohin sollte er auch?«

»Geflohen?«, wiederholte de Groot. Dann drehte er sich abrupt um. »Die Saale prescht davon.«

Ich folgte seinem ausgestreckten Arm und tatsächlich lag das Begleitschiff der La Méduse durch den Druck ihrer Segel zur Seite geneigt und tief im Wasser. In diesem Moment nahm auch die La Méduse wieder Fahrt auf. Die nächste Wende brachte uns eine halbe Meile an die beiden britischen Kriegsschiffe heran. Wir konzentrierten uns allerdings weiter auf das Geschehen an der Mole. Der Signalgast empfing Order, die er an seinen Offizier weitergab und mit einem letzten Fahnenschlag quittierte.

»Sie können ihn nicht finden, weil er längst weg ist«, sagte de Groot. »Aber die Briten werden die Saale schnell einholen, wenn sie erst einmal weiß, was wir wissen …«

»Zu glauben wissen«, unterbrach ich den Ritmeester.

»Nein, nein, das hat nichts mit Glauben zu tun. So groß ist die Insel nicht. Sie hätten ihn längst gefunden. Er ist ausgebüxt. Die Bellerophon sollte schnell Segel setzen und die Saale verfolgen und die Myrmidon gleich hinterher. Vielleicht können wir ihr ja Zeichen geben? Wo ist der Kapitän?«

Der Ritmeester wandte sich um, verlor aber beinahe das Gleichgewicht, als sich die La Méduse in der nächsten Wende schräg legte. Jetzt nahm unser Schiff direkten Kurs auf Bellerophon und Myrmidon. De Groot zog sich am Schanzkleid hoch.

»Noch besser, wir fahren zu ihnen hin.«

Er begann bereits zu winken, als mir die Geräusche unter Deck wieder bewusstwurden. Die Befehle waren nun deutlicher zu hören und das rollende Schaben klang gleichmäßiger und erstreckte sich über die gesamte Länge des Schiffs. Dann begriff ich, dass die La Méduse ihre Kanonen ausrannte. Erneut mussten wir uns am Tauwerk festhalten, als das Ruder umgelegt wurde und das Schiff mit der darauffolgenden Wende seine Breitseite gegen die britischen Kriegsschiffe zeigte.

Ich beugte mich über die Reling und sah tatsächlich, dass die gesamte Batterie ausgerannt war. Ich blickte sofort zu der näherliegenden Bellerophon, deren Heck nur noch eine Viertelmeile entfernt lag und schnell näherkam. Bei gleichbleibender Fahrtrichtung würde die La Méduse in weniger als einer Minute die Bellerophon in vielleicht zweihundert Yards Entfernung Breitseite an Breitseite passieren, mit dem Unterschied, dass der Brite noch keine Anstalten machte, gefechtsbereit zu sein.

Ritmeester de Groot hatte noch nichts bemerkt, er winkte dem anderen Schiff weiterhin zu. Ich folgte seinem Blick und sah zwei Offiziere auf dem Achterdeck, die aber offensichtlich nicht in unsere Richtung schauten. Der Ritmeester begann jetzt zu rufen, aber die Entfernung war noch immer zu groß, als dass ihn jemand auf der Bellerophon hätte hören können. Wir näherten uns aber weiter an, was den Ritmeester dazu animierte, gestenreicher zu winken.

Plötzlich wehte aus unserem Unterdeck ein ganz bestimmter Geruch herauf. Sie hatten die Lunten entzündet. Sie waren tatsächlich bereit, die Kanonen abzufeuern. Ich hörte einen Befehl an den Rudergänger der La Méduse. Die Fregatte korrigierte leicht den Kurs, so dass sie etwas mehr parallel zur Dünung fuhr. Jetzt hob und senkte sich das Schiff an Backbord. Es war nur eine langsame, gleichmäßige Bewegung. Ich rechnete, noch höchsten zwei Auf- und Abbewegungen des Rumpfes und die La Méduse würde mit der dritten Dünung eine gute Schussposition erreichen.

Es war mir unerklärlich, dass die Offiziere der Bellerophon erst jetzt die drohende Gefahr bemerkten. Das Achterdeck füllte sich, aber anstatt, dass zur Gefechtsbereitschaft gerufen wurde, salutierten die Offiziere in Richtung der La Méduse. Wir kamen näher, unser Schiff senkte sich, verharrte kurz und begann die seitliche Aufwärtsbewegung. Ich stampfte unbewusst mit dem Fuß auf die Decksplanken, als ich den Geschützdonner erwartete. Es tat sich nichts, dennoch blieb ich wie erstarrt. Die nächste Dünung, ich hatte mich inzwischen mit beiden Händen an der Reling festgeklammert und leicht über Bord gebeugt. Die Breitseite blieb erneut aus. Es gab nur noch eine Gelegenheit für die La Méduse das Feuer zu eröffnen, doch nein, schon war die Fregatte an der Bellerophon vorbei. Ein hartes Setzen des Ruders hätte noch eine Möglichkeit ergeben, das britische Kriegsschiff am Steuerbordbug zu erwischen, doch die La Méduse zog ohne Kurskorrektur vorbei.

Ich blickte wieder zum Achterdeck der Bellerophon. Die salutierenden Offiziere hatten Platz gemacht, sich nach Backbord gestellt. Auf der freien Fläche vor der Steuerbordreling stand jetzt nur noch eine Person. Ich erkannte ihn, noch bevor der Ritmeester es aussprach.

»Er ist doch schon an Bord, der Korse ist längst an Bord der Bellerophon. Was sollte der Zauber mit den Flaggenmeldungen?«

Er schüttelte den Kopf und wie auf Kommando feuerte die La Méduse ihre Breitseite ab. Es begann am Heck und Kanone für Kanone spuckte Feuer und Kugeln über das freie Meer. Mit dem Ende des Saluts begannen die Geschützmannschaften zu jubeln. Napoléon Bonaparte hatte Frankreich endgültig verlassen.

Doch wen hatte man auf der Île-d’Aix gesucht? Dies sollte ich später erfahren. Es war niemand anderes als Général Arnauld. Jetzt erklärte sich auch seine Verkleidung, in der er sich von der Île-d’Aix übersetzen ließ. Es war einer Flucht geschuldet, da gegen ihn ein Haftbefehl vorlag und man ihn in Ketten nach England bringen wollte. Ich weiß nicht, was die Briten ihm vorwarfen. Egal was es war, mir wären noch ein halbes Dutzend weiterer Vergehen eingefallen.

 

*

Ein paar Jahre später habe ich in London ein Gemälde bewundert, auf dem die HMS Bellerophon abgebildet war. Sie ankerte in der Bucht vor Plymouth. Zahlreiche kleinere Segelboote, Kutter und Ruderboote mit vielen Schaulustigen an Bord strebten auf das Schiff zu. Die Menge wollte Kaiser Napoléon sehen, der jeweils in den Morgenstunden des Augusts 1815 an Deck erschienen sein soll. Zu dem Zeitpunkt, den das Gemälde abbildete, befand ich mich bereits in Paris. Die La Méduse hatte in Begleitung der Saale Le Havre angelaufen und seine Passagiere dort aussteigen lassen. Die beiden Schiffe waren dann sofort wieder umgedreht und nach Rochefort zurückgekehrt.

Ritmeester de Groot und ich waren in einen Küstensegler umgestiegen, der die Seine bis nach Paris an einem guten Tag absolvierte. Ich war also wieder in der französischen Hauptstadt und sofort kamen die Erinnerungen hoch. Ich rechnete, es waren keine achtzehn Monate nach meinem Aufbruch Richtung Elba, keine achtzehn Monate nach den Abenteuern, die ich mit Monsieur Long erlebt hatte. Long war ein Killer, was ich erst viel zu spät erkennen musste. Long war ein Instrument der Geheimdienste. Ich wusste bis heute nicht, ob er nur für die Briten arbeitete oder auch für meine eigene Nation. Wir sollten damals die Konterrevolution verhindern, den Grundstein zur Stabilisierung Frankreichs legen. Es war uns nicht gelungen, denn es hatte die Herrschaft der hundert Tage gegeben, Napoléon hatte es geschafft, zurückzukehren und einen neuen Krieg auszulösen.

Aber vielleicht hätten wir so etwas nie verhindern können, denn Napoléon allein hatte sich befreit, war gegen Paris marschiert, hatte wieder die Massen und das Militär hinter sich gebracht. Es konnte Napoléon durchaus gelingen, auch ein zweites Mal zurückzukehren. Die Briten mussten sich etwas einfallen lassen. Ein Gefängnis in England, eine andere Insel, die sicherer war als Elba oder doch Amerika. War es nicht der sicherste Weg, Napoléon im fernen Amerika von Europa fernzuhalten? Aber das wollte Napoléon ja, Amerika. Arnauld hatte es mir erzählt und es konnte nichts anderes als eine Falle für die Alliierten sein.

Ich stand vor dem verschlossenen Tor. Die Residenz war nicht länger das schwedische Hauptquartier in Paris. Schweden war hier nicht mehr vertreten. Ritmeester de Groot hatte mir eine Unterkunft bei den Briten verschafft. So hatte ich Bett und Brot, solange es für mich keine Order aus der Heimat gab. Den Plan, nach Lübeck weiterzureisen, hatte ich vorerst aufgegeben. Die Depesche an Överste Kungsholm hatte ich auf der Passage von Le Havre nach Paris geschrieben. Es war ein langer Bericht, in dem ich auch meine Erlebnisse in Ligny und Waterloo noch einmal ausführlich geschildert hatte. Meine Begegnung mit Arnauld und Napoléon auf der Île-d’Aix hatte ich ausgespart. Hier galt noch die Geheimhaltung, weil ich damit rechnen musste, dass mein Schreiben von fremden Augen gelesen wurde. In diesem Wissen blieb ich in allen Schilderungen neutral und hatte die Depesche gleich am Morgen unserer Ankunft in Paris versendet. Und so wollte ich zunächst auf Antwort warten, was mir Zeit für private Unternehmungen verschaffte.

Das ehemalige schwedische Hauptquartier war also verlassen. Als ich mich gerade abwenden wollte, erfuhr ich dann noch, dass es wohl seinem vorherigen Besitzer wieder übergeben worden war, denn da fiel mir ein Banner auf, das neben dem Haupteingang wehte. Die Königstreuen waren zurückgekehrt, nahmen ihr Eigentum wieder in Besitz oder wurden für ihre Treue mit neuen Gütern belohnt. Die Parkwachen hatten mein Verweilen bereits bemerkt, weshalb ich mich zurückzog.

Ich schlenderte weiter durch die Stadt, kam auch in die Gegend, in der mein russischer Freund Micha und seine Kameraden seinerzeit logierten. Das Haus mit dem abgeschlossenen Hof existierte noch und war sichtlich wieder bewohnt, aber diesmal nicht von einer Eskadron Kosaken oder anderem Militär, sondern von Pariser Bürgern. Das Tor zum Hof stand offen und ich sah Kinder spielen und einige Frauen, die ihre Wäsche machten. Ich blieb kurz stehen und erinnerte mich gerne an das schöne Fest, dass wir gefeiert hatten. Wenn Zar Alexander seine Truppen schneller herangeführt hätte, wäre ich Micha ganz bestimmt in Waterloo begegnet. Vielleicht hätte ich mich ihm und seinen Kameraden erneut angeschlossen, wie damals beim Sturm auf Paris.

Ich stellte fest, dass ich in meinem Leben bereits einige Orte angesammelt hatte, die ich mit schönen aber sicherlich auch mit schmerzhaften Erinnerungen verband. Ich überlegte, wen ich in Paris sonst noch kannte. Monsieur Long und Monsieur Joseph würde ich hier wohl nicht mehr antreffen, was ich auch nicht anstrebte. Ein erneuter Besuch in den Katakomben unter der Stadt hätte mich dagegen schon eher interessiert, aber ich glaubte, dass es dort noch zu gefährlich war und in der Zeit des Übergangs sogar noch gefährlicher wurde. Dazu musste ich noch befürchten, dass man mich wiedererkannte, da ich bei Monsieur Longs Bluttat eindeutig sein Komplize war.

Ich mied also die Katakomben und befand mich schließlich im Quartier Saint-Martin-des-Champs des VI. Arrondissement. Anders als bei meinem ersten Besuch fand ich das schmale Eckhaus sofort wieder, in dem vor mehr als einem Jahr noch Madame Charlotte Bonnet gewohnt hatte. Bellevies Tante war keine zuverlässige Quelle, wenn es um Informationen ihrer Angehörigen ging. Madame Bonnet lebte in der Vergangenheit. Dennoch erhoffte ich mir einen Hinweis zu finden, wie es Bellevie, Philippe und dem Professor in diesen letzten, ereignisreichen Monaten ergangen war.

Ich war allerdings überzeugt, dass die drei noch auf Elba weilten und so überraschte es mich sehr, ein vertrautes Hundegebell zu hören, als ich mich der Eingangstür näherte. Ich klopfte an, das Gebell verstummte für einen Moment, setzte dann wieder ein und schien mir aufgeregter und dabei sogar freundlicher als zuvor. Es dauerte eine Weile, bis mein Klopfen erhört wurde oder es war der Hund, der das Dienstmädchen aufforderte, den Besucher endlich einzulassen. Die Tür öffnete sich und ich wurde sofort bestürmt. Ponto sprang mich an, wedelte so heftig mit dem Schwanz, dass er den ganzen Gehweg regelrecht fegte. Ich musste ihn davon abhalten mir das Gesicht abzulecken, was ich mit Rückenstreicheln erreichte.

Ponto beruhigte sich schließlich wieder. Seine Begrüßung ergab keinerlei Zweifel an meiner Rechtschaffenheit und so ließ mich das Dienstmädchen ein, ohne dass ich mich vorstellen musste. Dann aber erkannte ich Julie, die treue Seele der Familie Bonnet-Durant. Ponto und Julie! Erst jetzt wurde mir bewusst, was das bedeuten konnte. Meine Aufregung wuchs, wobei ich Julies bedrückte Mine nicht bemerkte. Sie führte mich hinauf in den Salon, in dem ich schon bei meinem ersten Besuch von Madame Bonnet empfangen worden war. Ich empfand ihn düsterer als beim ersten Mal. Ich blieb ein paar Minuten alleine, bis der Professor erschien, mir freudig die Hand schüttelte und mich zu der Sitzgruppe neben dem stoffverhangenen Fenstern führte.

»Haben Sie auch gegen den Kaiser gekämpft?«, waren seine ersten Worte.

Ich war überrascht. »Der Kaiser hat abgedankt und das schon im April letzten Jahres.«