Kanonen für Saint Helena

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Z serii: Falk-Hanson-Reihe #3
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Erst jetzt sah ich den Aufmarsch, konnte aber noch nicht die Nationalität der Soldaten erkennen. Es war vor allem Infanterie flankiert von einer geringen Anzahl Kavallerie. Der Tross kam langsam zum Stehen, bremste den offensichtlich strammen Marsch ab. Die Kanone sprach wieder und es dauerte lange, bis die Kugel erneut ins Feld einschlug, ohne dem Gegner merklich näher gekommen zu sein. Ich verharrte immer noch hinter der Mauer, war aber endlich dazu gezwungen zu handeln. Zunächst nahm ich mein Utzschneider zur Hand, um mir die Identität der Parteien zu bestätigen.

Ich hatte es mir schon gedacht, der Angriff mit der Kanone galt einem preußischen Bataillon. Jetzt löste sich die Kavallerie, es waren weniger als fünfzig Reiter, die schnell auseinander preschten, große Lücken zwischen sich ließen, um der Kanone keinen lohnenden Angriffspunkt zu geben. Da ich jetzt nicht mehr das Ziel sein konnte, schlich ich mich zur Häuserkante und spähte hinüber zur Senke. Dort tauchte plötzlich ebenfalls Kavallerie auf, französische Ulanen mit ihren ausgerichteten Lanzen, dahinter eine Schar Dragoner. Im nächsten Moment war auch ich wieder in Gefahr. Ich konnte mich zu den Preußen schlagen, doch bis dahin hatte man mich längst eingeholt. Ich bestieg dennoch mein Pferd, hielt die Zügel mit den Zähnen und spannte mit der Linken und Rechten die Hähne meiner geladenen Pistolen. Mit dem Druck meiner Schenkel ließ ich das Pferd nach hinten tänzeln, bis wir fast das andere Ende des Gebäudes erreicht hatten.

Der Sturm ging nicht an mir vorbei. Ich war gezwungen zu feuern. Ein Gegner fiel vom Pferd, der andere blieb mit einem Streifschuss am Arm im Sattel. Er hatte sofort seine eigene Pistole zur Hand. Ich duckte mich instinktiv zur Seite, beugte mich tief hinter den Hals meines Pferdes, als der Schuss krachte und keinerlei Wirkung zeigte. Ich hatte meinen Säbel gezogen, als ich auch schon neben dem Dragoner war. Ein heftiger Tritt mit den Sporen und mein Ross drängte das andere Pferd zur Seite. Die lange Zeit als Meldereiter hatte mich diese Manöver gelehrt. Der Feind gab seine Flanke frei. Mein erster Säbelhieb trennte ihm die Pistolenhand ab. Ich drehte mich im Sattel und schlug auf der anderen Seite zu. Ich schlitzte ihm den Rücken auf, so dass er sich im Todeskrampf nach vorne über den Hals seines Pferdes warf und von dort zu Boden rutschte.

Ich war noch außer Atem, als ich von unten angegriffen wurde. Der zweite Dragoner wollte mich mit einem schweren Kavalleriesäbel attackieren. Ich hatte ihm mit meiner Kugel eine böse Schramme über der Stirn zugefügt. Blut lief in sein linkes Auge. Er holte aus, musste aber blinzeln und taumelte kurz. Ich kannte keine Gnade, nutzte diese Chance und durchbohrte seine Brust mit meiner Säbelspitze. Jetzt war es höchste Zeit, mich zurückzuziehen. Ich hatte wenig Lust, mich in die entbrannte Kavallerieschlacht zwischen den Preußen und Franzosen zu werfen. Die preußische Infanterie drängte bereits heran.

Ich lud meine Pistolen nach, wendete dann mein Pferd, ritt um das Gehöft herum, am Weiher vorbei und direkt auf die Senke zu. Ich wechselte mehrmals die Richtung, ohne mein Ziel aus den Augen zu lassen. Diesen Manövern konnte die Kanone unmöglich folgen. Die eine Pistole steckte im Gürtel, die andere hielt ich in der Rechten und so preschte ich nach einer weiteren Wende seitlich in die Senke hinein. Ich überraschte die sechs Kanoniere. Einen streckte ich mit dem ersten Pistolenschuss nieder, ein Zweiter wollte mich mit seinem langen Ladestock vom Pferd holten. Ich ritt ihn nieder, hatte sofort mein Säbel zur Hand und schlug damit auf den Rest der Mannschaft ein. Sie konnten meinen Hieben ausweichen, ergriffen dennoch die Flucht, als ich erneut auf sie zupreschte.

Die französischen Artilleristen waren vertrieben, die feindliche Kanone erobert. Ich hieb auf die großen Räder ein, zerstörte damit die Lafette, so dass das Geschütz so schnell nicht wieder zum Einsatz kommen konnte. Jetzt musste ich mich wieder dem Scharmützel auf dem Feld hinter dem Gehöft zuwenden. Hier gab es eine Entscheidung. Die preußische Infanterie hatte Karrees gebildet, wehrte die französischen Dragoner ab, während die preußische Reiterei die Ulanen verfolgte, die als erste die Flucht ergriffen hatten. Siegesgeschrei beendete die kleine Schlacht, als die nicht geflüchteten Franzosen die Waffen streckten.

Es war nur ein kleiner Sieg, aber ich erfuhr später, dass es zum Ende des Tages viele dieser kleinen Siege gab. Und damit hatten Blücher und Gneisenau und Bülow und wie auch immer die Befehls- und Unterbefehlshaber der Preußen hießen, die Briten und Niederländer gerettet und verhindert, dass Napoléon Bonaparte an diesem geschichtsträchtigen Tag den entscheidenden Schlag ausführen konnte.

Es ist heute längst belegt, dass es nicht ein einzelnes Ereignis war, sondern die Summe aus Missverständnissen, Fehlentscheidungen, Wetterbedingungen und Glück oder eben Pech, die zur Niederlage in der letzten Schlacht des französischen Kaisers führte. Zwei Tage zuvor konnte Napoléon noch seinen letzten Sieg verbuchen, der allerdings immer und ewig einen Makel besitzen würde, denn dieser Sieg führte nicht zur Vernichtung der Preußen, sondern zur entscheidenden Stärkung der Koalition. Und hätte Napoléon doch gesiegt, so hätte es nur eine Verzögerung seines Untergangs bedeutet, denn Russland und Österreich rückten bereits heran und wären die nächsten schweren Gegner gewesen.

Abschließend stelle ich hier fest, dass ich die Schlacht bei Waterloo nicht erlebt habe. Ich traf erst am Abend des 18. Juni an einem Gasthaus mit dem Namen Belle-Alliance ein. Ich habe nicht gesehen, dass hier Historisches geschah, obwohl dies in späteren Berichten oft behauptet wurde. Belle-Alliance war für mich die Ansammlung toter und verwundeter Soldaten, war ein Teil des Schlachtfeldes von Waterloo. Ich für meinen Teil hätte dem Dorf Wavre ein Denkmal gesetzt, denn dort leisteten die Preußen einen guten Dienst, banden mehrere zehntausend französische Soldaten, die Napoléon in Waterloo bitter nötig gehabt hätte. Ich hielt es daher in Belle-Alliance nicht lange aus. In Wavre wurde weiterhin gekämpft und so schlug ich noch in der Nacht den Weg nach Brüssel ein. Ich fragte mich damals tatsächlich, ob der Ball der Herzogin von Richmond noch andauerte und ob ich dort Freund Louis Berg wiedersehen würde.

Fluchtpläne

Ich blickte hinauf zu den Masten. Die britischen Matrosen rafften mit sicherer Routine die Segel am großen Baum. Im nächsten Moment wimmelte die Takelage von Männern und dann war das Manöver auch schon ausgeführt. Mit einer spürbaren Verzögerung neigte sich die HMS Myrmidon leicht nach Steuerbord, als das Ruder ein oder zwei Strich nach Backbord gesetzt wurde. Ich war gerne Beobachter des maritimen Treibens, konnte mich auf dem Schiff frei bewegen und traf Captain Gambier oft auf dem Achterdeck, wo wir uns unterhielten und nicht nur seemännische Diskussionen führten. Während sich Captain Gambier rühmen konnte, bereits auf anderen Schiffen seiner Majestät bei Abukir und später bei Trafalgar gegen Frankreich in die Seeschlachten gezogen zu sein, war die HMS Myrmidon noch ein recht neues Kriegsschiff, ohne nennenswerte Einsätze.

Dies fand ich aus Sicht eines Schiffbauers eher interessant. Wenn ich alleine auf der Brigg unterwegs war, berührte ich gerne das noch frische Holz der geschwungenen Reling oder verglich unter Deck die Konstruktion und die Aufteilungen mit denen jener Schiffe, die auf der Werft meines Vaters in Lomma gebaut wurden. Captain Gambier versicherte allerdings, dass die Myrmidon ein schlechter Segler sei. Das Ruder reagiere eher träge und auch die Wendigkeit hatte unter der Entscheidung gelitten, ein knapp hundertzwanzig Fuß langes Schiff mit recht schweren 32-Pfund-Karronaden auszurüsten, von denen achtzehn Stück über Deck verteilt waren. Weniger ist mehr, sagte ich mir, wenn man die Schlagkraft nicht einsetzen konnte, weil einem der Feind davonsegelte. Was mir allerdings an der Ausrüstung gefiel waren die beiden 9-Pfund-Jagdkanonen im Heck, mit denen sich der Captain die Kajüte teilte.

Aber ich schweife ab, denn ich muss noch erklären, dass seit den Schlachten vor den Toren Brüssels fast vier Wochen vergangen waren. Und so bin ich noch schuldig, zu erzählen, was ich seither erlebt hatte. Bei meiner Rückkehr nach Brüssel in der Nacht vom 18. auf den 19. Juni 1815 war von dem großen Sieg über Napoléon Bonaparte noch nichts zu spüren. Die Stadt war weiterhin mit Militär überfüllt, allerdings waren es jetzt zurückkehrende Kolonnen von Infanteristen und Fuhrwagen von Verwundeten, die zu ihren Wachfeuern und Zelten strebten oder in die Lazarette und zu den Verbandsplätzen gekarrt wurden. Die Euphorie sollte sich erst einige Tage später einstellen.

Ich fand meine Unterkunft leer vor, obwohl ich so gehofft hatte, Freund Louis in die Arme schließen zu können. Ich wusch mich notdürftig mit kaltem Wasser und legte mich recht hungrig schlafen. Am nächsten Morgen weckte mich Tumult. Ich kleidete mich schnell an. Zum Glück hatte ich eine zweite Uniform im Zimmer deponiert, denn der Rock, den ich während meines Abenteuers getragen hatte, war ohne eine gründliche Reinigung und ohne Flickarbeit nicht mehr zu gebrauchen. Dies war mir aber auch erst aufgefallen, als ich am Abend die Kleider abgelegt hatte.

Unten im Haus traf ich den Wirt, der mir sofort die Neuigkeiten mitteilen wollte, die Brüssel in den letzten Stunden erreicht hatten. Ich ließ mir berichten, aber erfuhr zumeist nur Unbedeutendes, um festzustellen, dass die Lage und der Ausgang der Schlacht keineswegs bekannt waren. Nur eines schien sicher, keine der Parteien hatte Napoléon Bonaparte gefangengenommen, aber angeblich wurde auf dem Brüsseler Marktplatz ein Planwagen mit den persönlichen Habseligkeiten des Kaisers ausgestellt. Kleidung, die Napoléon getragen haben soll und die jetzt zu ersteigern war. Mir schien dies eher unwahrscheinlich, da längst Offiziere dem Treiben Einhalt geboten hätten.

 

Ich konnte meinem Wirt gerade noch die verschmutzte und zerrissene Uniform übergeben, mit dem Auftrag der Reinigung und Instandsetzung, als mich der Tumult, den ich schon auf meinem Zimmer gehört hatte, vors Haus trieb. Ich eilte aus der Gasse zu einem Platz, auf dem gerade mehrere Fuhren Heu abgeladen wurden. Eine preußische Kavallerieeinheit hatte den Ort eingenommen, die Pferde wurden mit Wasser und Heu versorgt, die Reiter erhielten Speisen und Wein von den Anwohnern, die ebenso zahlreich erschienen waren. Ich ging umher, sah mir Männer und Tiere an. Es war eindeutig, dass die Kavallerie aus der Schlacht kam. Ein junger Leutnant versorgte gerade die Wunde am Hinterlauf seines Pferdes, als ich dazu trat. Der Mann richtete sich sofort auf und salutierte vor meiner Majorsuniform.

»Nein, nein, machen Sie weiter«, sagte ich schnell, »das Tier geht vor. Kann ich Ihnen helfen, benötigen Sie Verbandsmaterial?«

Der Leutnant schüttelte den Kopf und zeigte mir, dass er ausreichend mit Leinen und Charpie versorgt war. »Danke, es wird schon gehen, nur ein Kratzer, er hat es schnell vergessen, wenn wir erst die Franzosen nach Paris hineinjagen.«

»Wo haben Sie gekämpft?«, fragte ich.

»Bei Wavre und dort ist es noch nicht zu Ende, aber ich glaube, wenn wir zurückgeschickt werden, brauchen wir nur noch aufzuräumen und dann geht es nach Paris.« Er stockte. »Vor zwei Tagen haben wir noch ordentlich Haue gekriegt, das zahlen wir jetzt zurück.«

»Ich war dort, ich habe es gesehen. Am Ende zählt nur die Summe und nicht ein einzelner Erfolg.«

Der Leutnant sah mich ungläubig an, aber ich gab ihm keine weiteren Erklärungen, auch weil ein Trompetensignal ihn und seine Kameraden zum Aufbruch rief. Reste von Heu, leere und zerbrochene Flaschen und einige Brüsseler Bürger blieben auf dem Platz zurück. Im Verlaufe des Tages sollten weitere Einheiten durch die Stadt kommen, Briten, Niederländer und Preußen. Ich aber setzte meinen Weg fort, durchquerte einen Park und stand vor jenem Stadtpalais, in dem drei Tage zuvor die Geschichte ihren Lauf nahm. Tatsächlich waren einige Bedienstete noch mit Aufräumarbeiten betraut.

Ich ging einfach ins Haus und in den Saal, der sich doch sehr verändert hatte. Die Girlanden und Vorhänge waren abgenommen, die Tische und Stühle standen auf der Tanzfläche, gestapelt und abholbereit. Einige Handwerker bauten eine Trennwand wieder ein, die aus dem Saal zwei oder drei separate Räume machen sollten. Allein das kleine Sofa, auf dem der Duke of Wellington gesessen hatte, während ihm einer seiner Stabsoffizieren Berichte von den Vorgängen an der Kreuzung Quatre-Bras übermittelte, stand noch an seinem Platz neben einem schmalen, hohen Fenster. Ich setzte mich hinein, schloss kurz die Augen, wurde dann aber angesprochen und höflich gebeten, mir eine andere Sitzgelegenheit zu suchen, da man das Möbel gerade abräumen wolle. Und so wurde der gesamte Saal geleert und später wieder zu den Empfangs- und Gesellschaftsräumen gemacht, die sie vor der Nacht vom 15. auf den 16. Juni waren.

Ich suchte mir keinen neuen Platz, verließ das Palais wieder und ging rechts in die Rue de la Blanchisserie, deren Namen mir in Erinnerung blieb, weil sich in der Mitte der Straße eine Schule für mathematisch-naturwissenschaftliche Studien befand, deren Schaufensterauslage ein wunderschönes Teleskop auf einer Dreibeinlafette zierte. Ich musste einen Moment lang an Philippe denken, der sich auf Elba ein Observatorium gewünscht hatte. Ich fragte mich auch, was aus Bellevie und dem Professor geworden war. Entweder waren sie wieder in Paris oder sie warteten darauf, dass man Napoléon zurück nach Elba brachte.

In meine Gedanken versunken hörte ich erst den zweiten Ruf meines Freundes Louis, der ebenfalls in frischer, aber niederländischer Uniform auf mich zu ging. Er war in Begleitung von zwei britischen Offizieren und bevor ich überhaupt begriff, wurde ich ihnen vorgestellt und wir feierten ein Wiedersehen.

»Hast du die Seiten gewechselt?«, fragte ich übermütig und deutete auf Louis’ Rock.

Er schüttelte den Kopf. »Nur eine freundliche Leihgabe. Mein eigenes Tuch war schon sehr zerschunden, und das nach zwei Tagen. Der segensreiche Regen, der ebenso segensreiche Schlamm und zwei durchwachte Nächte.«

Ich verstand, was Louis mit segensreich meinte. Regen und Schlamm, das schlechte Wetter insbesondere, hatten Napoléon zögern lassen, so dass es den Preußen gelungen war, noch rechtzeitig dem Duke of Wellington zu Hilfe zu kommen. Diese umfassende Einschätzung hatten wir so kurz nach der Schlacht zwar noch nicht, aber wer die Schlachtfelder gesehen hatte, ahnte bereits, dass Napoléons Niederlage am Ende auch dem Wetter geschuldet war.

»Aber du bist anscheinend schadlos über die letzten Tage gekommen«, stellte Louis fest, als er mich nun genauer musterte. »Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass du den Ermahnungen des Överstes gefolgt bist und wirklich nur als reiner Beobachter unterwegs warst.«

Louis sprach von Överste Kungsholm, der uns genau instruiert hatte, bevor es für uns nach Brüssel ging. Keinesfalls sollten wir in die Kampfhandlungen zwischen Briten, Preußen und Franzosen eingreifen. Ich erzählte also, dass ich im Grunde genommen gegen den Befehl verstoßen hatte, berichtete von meinen Erlebnissen.

»Dann hat es Wellington Ihnen zu verdanken, dass Blücher noch lebt und rechtzeitig auf dem Schlachtfeld erschienen ist«, behauptete einer der beiden Briten und klopfte mir auf die Schulter.

Ich schüttelte den Kopf. »Als wir Blücher unter seinem Pferd hervorholten, war die Gefahr längst vorüber. Sein Adjutant hat ihn gerettet, weil er ihm den Mantel übergeworfen hat, wodurch die durchreitenden Franzosen Blüchers Orden nicht erkannt und ihm keine Beachtung geschenkt haben.«

»Nicht so bescheiden, mein Freund.«

Wieder wurde mir auf die Schulter geklopft und es war dann auch der Abschied von den beiden britischen Kameraden. Louis und ich gingen zurück zu unserer Unterkunft. Louis entledigte sich der niederländischen Uniform, ließ sie von einem der Zimmermädchen ausbürsten, lüften und ordentlich einpacken, um sie später zu der Adresse in Brüssel zu schicken, die man ihm aufgegeben hatte.

In den nächsten Stunden ließ ich Louis ausschlafen und erkundete alleine die Stadt und hörte mich nach den neusten Nachrichten um. Blücher und Wellington sollten sich kurz getroffen haben, die Briten und Niederländer hatten das Schlachtfeld gesichert, während die Preußen hinter den Franzosen herjagten. Den Fehler, den Napoléon begangen hatte, wollte Gneisenau nicht wiederholen. Die Franzosen sollten bis nach Paris keine ruhige Minute mehr haben, sich nicht mehr erheben können.

Erst viel später erfuhren wir, dass der Feldzug noch beinahe zwei Wochen andauerte, dass noch über zwei Wochen hinweg immer wieder Menschen für eine an sich entschiedene Sache starben. Es gab Gefechte in Namur, eine Woche später in Compiegne. Bei Villers-Cotterets, Nanteuil und Sevres wurden die Franzosen weiter abgedrängt. Die endgültige Entscheidung kam aber am 3. Juli des Jahres 1815 durch den Sieg bei Issy. Danach räumte das französische Heer Paris und zog sich gemäß einer Vereinbarung mit den Alliierten über die Loire zurück.

In diesen Tagen blieben Louis und ich zunächst noch in Brüssel und gaben täglich mehrmals Depeschen an Överste Kungsholm heraus. Erst am 27. Juni brachen wir unsere Zelte ab und reisten nach Antwerpen, um von dort eine Schiffspassage nach Lübeck zu erhalten. Wir mussten Geduld haben, saßen am 9. Juli immer noch in Antwerpen fest, waren aber weiterhin fleißig am Schreiben, um die Neuigkeiten über den Landweg nach Schweden und zu unserem Vorgesetzten zu schicken.

Dennoch blieb uns viel Zeit, die wir tagsüber zumeist am Hafen verbrachten. Abends fanden wir uns aber immer in unserer Unterkunft wieder und schauten in der Wirtsstube nach neuen Gästen. Am Nachmittag waren fünf niederländische Offiziere angekommen, dessen Anführer, Ritmeester Vincent Dijk de Groot, uns an seinen Tisch einlud. Wir tranken auf den Sieg bei Waterloo, tauschten unsere Kriegserlebnisse aus und erfuhren, dass die Niederländer geradewegs aus Paris kamen. Ritmeester de Groot hatte tatsächlich Neuigkeiten von Napoléon Bonaparte.

»Ich bin ihm natürlich nicht persönlich begegnet«, erzählte der Ritmeester. »So schnell waren wir dann doch nicht in Paris. Der Korse ist ja wie der Teufel geflüchtet, aber seine Hauptstadt soll ihn nicht sehr freundlich empfangen haben. Abdanken sollte er, auf die Armee konnte er nicht mehr zählen. Und dann hat er erneut seinen Sohn vorgeschoben, als Nachfolger, wie damals, als er das erste Mal abgedankt hat, aber man ließ es ihm wieder nicht durchgehen. Das französische Parlament hat sich selbstverständlich zurückgehalten. Sie waren schließlich erneut besiegt und wir hatten das Sagen, auch wenn es noch etwas gedauert hat, bis wir auf der Bildfläche erschienen sind.«

»Wann sind Sie in Paris eingetroffen?«, fragte Louis.

»Gleich am Dritten. Zwei Tage sind wir geblieben, dann noch einmal zwei Tage in Versailles und dann zurück, hierher nach Antwerpen, weil ich das Schiff bekommen muss, das mich dort hinbringen soll, wo der Korse sich aufhält.« Der Ritmeester erhob plötzlich sein Glas. »Ich trinke auf das Wohl meines Herrn Wilhelm Friedrich von Oranien-Nassau, König der Niederlande, der mir höchstpersönlich diesen Auftrag erteilt hat, nachdem ich ihm den schlanken Billy wieder recht gesund nach Hause gebracht habe.«

Natürlich stimmten Louis und ich in den Trinkspruch ein. Die Niederlande hatten nach Napoléons erster Abdankung eine Gebietserweiterung erfahren, weil Österreich seine Ansprüche auf Teile des Landes aufgab. Dies geschah vor allem, um mit dem neuen Staat ein Gegengewicht zu künftigen französischen Expansionsversuchen zu schaffen. Der schlanke Billy war niemand anderes, als der niederländische Kronprinz, der bei Quatre-Bras gekämpft hatte und verwundet wurde.

»Ich verstehe nicht«, sagte ich schließlich. »Napoléon wird nach Antwerpen gebracht?«

»Nein, nein.« Der Ritmeester schüttelte den Kopf. »Er kommt doch nicht hierher. Zunächst ist er auf sein Schloss geflüchtet, Malmaison, Schloss Malmaison, ja, so heißt es doch, aber da ist er schon wieder weg.« Der Ritmeester stutzte. »Ist vielleicht schon kein Geheimnis mehr, aber er ist mit seinem Tross weiter nach Süden an die Küste. Dort wartet er jetzt, hofft auf ein Arrangement mit der britischen Krone.«

»Das klingt ja wie eine Verschwörung«, warf Louis ein. »Die Briten können nicht ohne die Preußen, die Russen und die Österreicher ein Arrangement mit dem gemeinsamen Feind treffen. Und vielleicht hat auch noch Schweden ein Wort mitzureden oder eben die Niederlande.«

»Mag sein, mag sein, Meneer Majoor, aber die Sache ist doch noch gar nicht entschieden. Es sind doch nur Gerüchte, dass der Korse den Duc de Rovigo und den Comte de Las Cases vorgeschickt hat. Jedenfalls wissen die Briten wo der Korse jetzt steckt und das Schiff, auf das ich warte, soll ebenfalls dorthin segeln.«

»Und auf welches Schiff warten Sie?«, fragte ich schnell.

Der Ritmeester grinste, holte einen kleinen Zettel aus seiner Rocktasche und las vor. »His Majesty's Ship Myrmidon.«

*

Das trinkseelige Gespräch mit Ritmeester Vincent Dijk de Groot und seinen Kameraden lag sechs Tage zurück und seit fünf Tagen war ich nun schon an Bord der HMS Myrmidon, und zwar zusammen mit Ritmeester de Groot, aber ohne meinen Freund Louis. Er gehorchte den Befehlen von Överste Kungsholm oder glaubte zumindest, es sei der Wunsch unseres Vorgesetzten, dass wir nach Lübeck zurückkehrten. Und so nahmen wir an ein und demselben Tag jeder ein Schiff. Louis nach Norden und ich nach Süden. Ich erfuhr erst an Bord, dass die französische Hafenstadt Rochefort unser Ziel war. Aber wie war es mir überhaupt gelungen, Ritmeester Vincent Dijk de Groot zu überzeugen, mich auf diese durchaus geheime Mission als seinen offiziellen Begleiter mitzunehmen?

Zunächst musste ich Captain Robert Gambier kennenlernen und ihn auf mich aufmerksam machen. Nachdem die Myrmidon am nächsten Morgen in den Hafen von Antwerpen eingelaufen war, fand zwischen Ritmeester de Groot und dem Captain ein Treffen statt, um alles für die Überfahrt zu besprechen. Sie hatten sich in unserem Gasthaus verabredet, was vom Ritmeester so arrangiert worden war und mir natürlich sehr entgegenkam. Ich drängte mich dann regelrecht auf, stolzierte in voller Uniform auf den Tisch zu, an dem die beiden saßen, ohne dass mich Freund Louis zurückhalten konnte.

 

Auf diese Weise konnte mich der Niederländer dem Briten vorstellen. Ich versäumte es nicht, gleich zu Beginn die Waffenbrüderschaft zwischen Schweden und England zu betonen. Spontan fiel mir die Congreve’sche Rakete ein und da wurde Captain Gambier aufmerksam. Natürlich legte danach auch Ritmeester de Groot ein gutes Wort für mich ein und versäumte es nicht, die Geschichte von Blücher und mir zu erzählen, die dann wohl ausschlaggebend war. Captain Gambier entschied daraufhin, dass es seine Pflicht sei, auch einen Vertreter der schwedischen Krone an Bord zu nehmen.

Und so schrieben wir den 14. Juli 1815. Die HMS Myrmidon war in den vergangenen fünf Tagen dank eines stetigen Windes recht gut vorangekommen. Wir hatten den Kanal in weniger als drei Tagen durchquert und waren weiter die französische Küste entlanggesegelt. Zur Mittagszeit umschifften wir die bretonische Halbinsel und schlugen Kurs Südsüdost ein. Das Backen und Banken wurde eingeläutet und nicht nur Teile der Mannschaft gingen zum Essenfassen, sondern auch Captain Gambier hatte zu Tisch in seine Kabine eingeladen. Neben dem Ritmeester und mir waren diesmal noch zwei weitere Offiziere sowie ein sehr junger Kadett anwesend.

Die Suppe wurde gerade aufgetragen, als mich Captain Gambier aufforderte, eine Geschichte zu wiederholen, mit der ich die Tischgesellschaft in den vergangenen Tagen unterhalten hatte.

»Ihren Kampf mit dem Bären müssen Sie unbedingt unserem jungen Freund erzählen, Mister Hanson.« Der Captain grinste den jungen Kadetten an. »Er hat nämlich etwas Angst vor großen Hunden, da wird es für ihn hilfreich sein, wenn er erfährt, wie man einen Bären von Angesicht zu Angesicht niederstreckt.«

Ich legte meinen Löffel auf den Tisch neben meinen noch vollen Teller und schüttelte den Kopf. »Die einzige Lehre, die man aus dem Vorfall ziehen kann, ist es, künftig die Beine in die Hände zu nehmen und vor so einem Untier zu flüchten.«

»Aber das haben Sie nicht getan, Sir?«, stellte der Junge fest und sah mich erwartungsvoll an.

»In der Tat, ich hatte gar nicht die Gelegenheit zur Flucht, ich musste kämpfen, um mein Leben kämpfen. Ich hatte sehr großes Glück und kann daher auch kein Patentrezept für einen Kampf gegen einen ausgewachsenen Bären geben.«

Dann erzählte ich alle Einzelheiten, wie der hungrige und verletzte Bär mich und mein Pferd angegriffen hatte und wie mein armes Reittier grausam zu Tode kam und wie es schließlich endete.

»Dann war es ein Glücktreffer«, verkündete der junge Kadett.

»Ich bitte Sie, ein gestandener und kampferprobter Soldat benötigt doch kein Glück«, rügte Captain Gambier seinen Untergebenen.

»Doch, doch, es war Glück, sehr großes Glück. Und so kampferprobt war ich zu dieser Zeit noch nicht. Ich hatte kaum ein Vierteljahr in der Armee hinter mir und der Bär war der erste Feind, auf den ich gestoßen bin, wenn diese arme Kreatur überhaupt mein Feind war.«

»Ein ehrenvolles Wort, darauf ein Toast«, rief der Captain.

Wir stießen an, widmeten uns der Suppe, bevor diese kalt zu werden drohte und setzten das Mahl dann mit Nierchen und Pudding fort. Der Ritmeester erzählte währenddessen Anekdoten vom Schlanken Billy, blieb dabei aber immer respektvoll seinem künftigen König gegenüber. Die Runde wurde gegen Ende durch ein Klopfen an der Kabinentür unterbrochen. Der Steuermann trat ein, salutierte und meldete einen Segler, der auf die Myrmidon zulief. Captain Gambier entschuldigte sich, folgte dem Steuermann, kam aber nach fünf Minuten zurück, als gerade der Kaffee aufgetragen wurde.

»Beim Sherry werden wir einen Gast an Bord begrüßen können«, verkündete der Captain. »Ein Bote der HMS Bellerophon wird gerade von seinem Tender zu uns übergesetzt.«

Eine halbe Stunde später war der Tisch abgeräumt und tatsächlich stand je ein Glas Sherry vor Ritmeester de Groot und mir, während wir auf den angekündigten Boten warteten. Schließlich ging die Tür auf und Captain Gambier ließ einen älteren Offizier ein, der seinen Hut abnahm, sich umsah und uns dann begrüßte. Wir erhoben uns und salutierten.

»Darf ich Ihnen Captain James Cook vorstellen.« Captain Gambier lächelte. »Weder verwandt noch verschwägert.«

Alle lachten. Wir setzten uns, Captain Cook erhielt ebenfalls ein Glas Sherry und wurde aufgefordert, zu berichten, nachdem Captain Gambier versichert hatte, dass alle Anwesenden Vertreter ihrer Nationen waren und jegliche Geheimhaltung, die zu dieser Zeit noch notwendig war, gewährleistet sei.

»Ja meine Herren, Kaiser Napoléon Bonaparte …« Er stutzte. »Oder darf der Mann nicht mehr Kaiser genannt werden?«

»Général Bonaparte, würde ich ihn titulieren«, warf der Ritmeester ein. »Schließlich hat der Korse aus freien Stücken abgedankt, wenn auch nicht ohne ein wenig Druck seines Volkes.«

Ich enthielt mich eines Kommentars. Captain Cook fuhr fort.

»Jedenfalls hat Général Bonaparte vor ein paar Tagen ein Bittgesuch an die Krone gerichtet. Dieses Bittgesuch haben Général Savary und der Comte de Las Cases an Captain Maitland, Kommandeur der HMS Bellerophon gerichtet. Sie müssen wissen, die Bellerophon operiert seit Anfang Juli in den Gewässern vor Rochefort. Es ist anzunehmen, dass Général Bonaparte aus genau diesem Grunde ebenfalls nach Rochefort geflüchtet ist, um an Bord eines britischen Schiffes zu gelangen.«

»Das ist doch unverständlich«, sagte de Groot. »Er hätte sich doch schon viel früher Wellington ergeben können und das als Kaiser.«

»Er will sich nicht ergeben, er will Zuflucht. Ich habe mit dem Comte de Las Cases gesprochen. Napoléon muss befürchten, dass ihn die Bourbonen, die Preußen oder Österreicher in Ketten legen, wenn er Frankreich nicht verlässt.«

»Und wir würden ihn nicht in Ketten legen?«, fragte Captain Gambier.

»Das kann ich nicht beantworten.« Captain Cook zuckte mit den Schultern. »Ich kann Ihnen nur die Fakten nennen.«

»Wird Ludwig XVIII. denn zurückkehren?«, fragte ich. »Oder gibt es einen neuen Plan für Frankreich?«

»Das ist Politik. Als Offizier der Krone kann ich Ihnen auch diese Frage nicht beantworten.« Er zögerte. »Ich weiß aber, dass Ludwig schon wieder nach Paris zurückgekehrt ist.«

»Dann kann es also stimmen, dass Ludwig sich an Napoléon rächen wird«, warf ich ein.

»Wir sind doch zivilisiert, wer denkt denn an Rache. Bestrafung vielleicht, aber viel wichtiger ist es doch, dass es ein weiteres Aufbegehren Napoléons nicht geben darf. Dies vor allem zum Wohle des Friedens zwischen den Nationen.«

»Was werden die Briten also unternehmen, um den Frieden zu sichern?«, fragte Ritmeester de Groot.

»Ich weiß es nicht, oder doch, ich weiß, dass Général Bonaparte aufgefordert wird, an Bord der HMS Bellerophon zu gehen. Hierzu soll Ihr Schiff, verehrter Captain Gambier Geleitschutz geben. Das ist eigentlich meine Mission, Ihnen diesen Befehl zu übermitteln, obwohl Sie ja bereits ähnliche Instruktionen hatten. Die HMS Slaney befindet sich übrigens bereits im Geleit der Bellerophon.«

*

Am 15. Juli liefen wir in die Bucht von Rochefort ein. Ritmeester de Groot blieb an Bord der HMS Myrmidon. Ich selbst ließ mich mit dem ersten Proviantboot an Land bringen. Captain Cook hatte eine weitere Information gegeben. Napoléon war nicht in der Stadt anzutreffen, sondern auf der vorgelagerten Île-d’Aix. Ich stieg also in Port-des-Barques von dem einen Boot in ein anderes und ließ mich zur Insel übersetzen. Ich war nicht der einzige Passagier und es war sogar mein großes Glück, dass ich Doctor O'Meara kennenlernte. Er schwieg sich zunächst über seine Mission aus und ich glaubte schon, er sei ein Schaulustiger, der einen Blick auf den ehemaligen Kaiser werfen wollte, wie einige andere Leute, die aber auch mit Bestechungsgeld nicht an Bord der Segelfähre gelassen worden waren.