Kanonen für Saint Helena

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Z serii: Falk-Hanson-Reihe #3
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Kanonen für Saint Helena
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Ole R. Börgdahl

Kanonen für Saint Helena

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Buch

Prolog

Fluchtpläne

Bellevie

Die schwedische Flotte

Wiedergeburt der Faucon

Aufbruch

Ort der Verbannung

Jagd auf Nummer 8

Impressum neobooks

Das Buch

Am Vorabend von Waterloo bricht Falk Marten Hanson zu dem kleinen Dorf Ligny auf, in dem sich Napoléon und Feldmarschall Blücher gegenüberstehen. Zwei Tage später ist alles vorüber. Der geschlagene Napoléon flüchtet nach Rochefort. Falk wähnt sich schon wieder in der Heimat, da bietet sich ihm die Gelegenheit, den ehemaligen französischen Kaiser noch einmal zu treffen. Auf der Île-d’Aix erfährt Falk von den Louisiana-Plänen. Wird Napoléons Exil auf Saint Helena nur vorübergehend sein? Gibt es eine Verschwörung, einen Befreiungsversuch?

Falk erlebt weitere Abenteuer. Auf der Suche nach der schwedischen Flotte entdeckt er seine Faucon, kann sie mit Hilfe seiner Freunde nach Antwerpen retten und das Schiff dort wieder instand setzen. Die Faucon kommt Överste Kungsholm gerade recht, um Falk erneut auf eine Mission zu schicken. Diesmal geht es über die Weltmeere bis nach Saint Helena.

Dritter Band der historischen Falk-Hanson-Reihe.

Weitere Romane von Ole R. Börgdahl:

Die Falk-Hanson-Reihe (Historische Romane):

Band 1: Unter Musketenfeuer (2019) - 978-3-7485-9758-2

Band 2: Der Kaiser von Elba (2020) - 978-3-7502-3242-6

Band 3: Kanonen für Saint Helena (2022) - 978-3-7502-3242-6

Die Tillman-Halls-Reihe (Krimireihe):

Alles in Blut - Halls erster Fall (2011) - 978-3-8476-3400-3

Morgentod - Halls zweiter Fall (2012) - 978-3-8476-3727-1

Pyjamamord - Halls dritter Fall (2013) - 978-3-8476-3816-2

Die Schlangentrommel - Halls vierter Fall (2014) - 978-3-8476-1371-8

Leiche an Bord - Halls fünfter Fall (2015) – 978-3-7380-4434-8

Die Fälschung-Trilogie:

Fälschung (2007) - 978-3-8476-2037-2

Ströme meines Ozeans (2008) - 978-3-8476-2105-8

Zwischen meinen Inseln (2010) - 978-3-8476-2104-1

Historische Romane (Sonstiges)

Faro (2011) - 978-3-8476-2103-4

Die Marek-Quint-Trilogie (Krimireihe):

Tod und Schatten - Erster Fall (2016) - 978-3-7380-9059-8

Blut und Scherben - Zweiter Fall (2017) - 978-3-7427-3866-0

Kowalskis Mörder - Dritter Fall (2018) - 978-3-7427-3865-3

Prolog

Drei Musketenkugeln schlugen über mir in das Holz einer alten Fichte ein. Rindenbrocken und Dreck prasselten auf mich nieder, Stücke gerieten mir in die Augen, machten mich blind und zu meinem Glück gefühllos. Nach der ersten Salve folgte sofort eine zweite, nein es wurde gleichzeitig geschossen, Schreie, ein wilder Angriff und das alles, während ich auf weichen Tannennadeln lag, die Arme schützend über den Kopf gelegt hatte. Ich konnte nicht tot sein, aber vielleicht tödlich getroffen. Sie hatten doch sechs, sieben, acht oder neun Musketen auf mich gerichtet, wie bei einem Erschießungskommando. Dagegen stand die einsame Kugel aus meiner Pistole. Hatte ich ebenfalls das Recht zu schießen, war mein Schicksal nicht besiegelt, durfte ich jemanden mit in den Tod nehmen, einen sinnlosen Tod, genauso sinnlos wie mein eigener?

Ich war nicht tot, aber vielleicht mussten die französischen Tirailleure nur nachladen, um ihr Werk zu vollenden. Hatte ich noch die Gelegenheit, mich zu ergeben? Ich blieb liegen, wartete auf mein Schicksal, wartete auf Gnade. Oder war ich doch längst tot, stammten meine Gedanken aus dem Jenseits? Was war das Jenseits? War das alles gerecht? Warum ist Napoléon Bonaparte von Elba geflohen? Um noch mehr Menschen in den Tod zu treiben? Es war doch schon längst alles besiegelt, alles für ihn verloren. Warum ließ eine höhere Macht so etwas zu?

Plötzlich wurde ich gepackt. Keine zweite Salve, keine Bajonette. Mir wurde unter die Arme gegriffen, aufgeholfen. Ich wurde angesprochen, zunächst in einem Deutsch, bei dessen Akzent ich nicht sofort alles verstand, dann englische Worte, aber nicht von einem Briten gesprochen. Der preußische Leutnant beugte sich über mich, gab mir erst zu trinken, dann wusch er mir die Augen aus, half mir schließlich auf die Beine.

»Schnell, schnell, Rückzug, Rückzug!« Der Offizier trieb seine Männer an.

Den Kanonendonner nahm ich erst jetzt wieder wahr. Die Artilleriepause hatte geendet. Das niederländische Dorf Ligny und die darin verschanzten preußischen Truppen sollten ausgelöscht werden. Die Kugeln flogen über uns hinweg. Ich wurde von zwei Infanteristen in die Mitte genommen, konnte dann aber alleine gehen, ja sogar rennen, denn das war notwendig. Es kamen weitere französische Tirailleure aus dem Wald, um ihre Kameraden zu rächen, feuerten wild hinter uns her, waren aber nicht sehr treffsicher, weil wir längst die Häuseransammlung erreicht hatten, die zwischen den französischen Linien und dem Dorf Ligny lag. Wir wandten uns sofort von den brennenden Gebäuden ab und gerieten somit aus der Schusslinie sowohl der Musketen als auch der Kanonen.

Wir hielten noch einmal an, ich durfte erneut trinken und nachdenken. Es waren kaum mehr als zwölf Stunden her, dass ich auf dem Ball der Herzogin von Richmond getanzt hatte. Aber das stimmte ja gar nicht. Ich hatte nicht einen Tanz übernommen, weil sich mein Kamerad Louis Berg und ich im Sog der Ereignisse befanden. Wer diese Zeilen liest, dem wird die Geschichte bekannt sein, in dem ein Ball, ein Vergnügen, ein Tanzabend am Rande einer großen Schlacht Erwähnung fand, weil sich dort die Ereignisse anbahnten. Und Louis und ich mittendrin, als Beobachter des Königreichs Schweden, nicht neutral, aber auch nicht aktiv kämpfend.

Über Louis Schicksal wusste ich zu dieser Stunde noch nichts. Er hatte sich dem Duke of Wellington angeschlossen und die britischen und niederländischen Truppen nach Quatre-Bras begleitet, während ich zu den Preußen reiten wollte, die eben in der Gegend um Ligny standen und einen Teil der französischen Armée du Nord vor sich hatten. Und so war ich zwischen die Linien geraten, und dann brach das Inferno über mich herein, ausgelöst durch die zweite Schlacht, die jetzt auch bei Quatre-Bras toben musste.

Der preußische Leutnant rief zum Aufbruch. Erst jetzt sah ich, dass einige meiner Retter verletzt waren. Es blieb nur Zeit für schmutzige Binden und Tücher um Kopf, Arm oder Bein. Und obwohl einige der preußischen Kameraden humpelten, nahm unser Rückzug wieder Fahrt auf. Die kräftigsten der Männer voran, um den anderen den Weg durch Hecken und halb niedergerissene Mauern zu bahnen. Jede Flucht, die wir passierten, gab Schutz vor den Kugeln unserer Verfolger. Es dauerte daher auch nicht lange und die Musketen hinter uns schwiegen. Ich sah zum Himmel, was ich niemandem empfehle, wenn sich dort Kanonengeschosse befinden, denen man ohnehin nicht mehr ausweichen kann. Wir hatten aber Glück, denn die französische Artillerie richtete ihr Feuer nach Nordosten, während wir fast genau Richtung Norden flohen.

Irgendwann wurde ich gewahr, dass weder Hecken noch schützende Gebäude vor unserem Weg lagen. Wir blieben eng zusammen, ich etwa in der Mitte der kleinen Kolonne. Ein Feld lag vor uns, mit hochstehendem Getreide, in das wir eindrangen. Ein paar Wochen später und wir hätten nach der Ernte keinerlei Sichtschutz gehabt. Die Männer gingen wieder auseinander, jeder suchte sich seinen Weg durch die kräftigen Halme. Scharfe Blätter schnitten mir in die Hände, aber ich ließ es geschehen, nur um weiterzukommen.

Die Hufschläge nahm der Infanterist links neben mir als erster wahr. Er blieb stehen und ich mit ihm und dann spürte auch ich es auf dem Boden, auf dem ich stand. Mit einem Zischen wurden die Halme umgelegt eine Lanzenspitze kam auf uns zu, wir sprangen zur Seite, der Hinterschenkel des Pferdes streifte mich leicht an der Schulter. Der französische Ulane zog vorbei, bremste den Galopp ab und wendete. Sein Ritt hatte eine Schneise durch das Getreide hinterlassen und auf diesem Weg erschien ein zweiter Franzose mit vorgestreckter Lanze. Ich hatte längst meinen Säbel gezogen, duckte mich und sah die Spitze der Waffe auf mich zukommen. Der Reiter war in seiner geradlinigen Bewegung gefangen. Ich jedoch sprang zur Seite und stach mit dem Säbel nach oben. Ich spürte einen Widerstand, aber im nächsten Moment war der Ulane schon einige Yards davongeritten. Sein Kamerad suchte bereits erneut ein Ziel, das ich ihm bot.

 

Der Kampfplatz um mich herum war jetzt gänzlich niedergetrampelt. Der Hufschlag dröhnte über den Boden. Reiter und Pferd kamen schnell auf mich zu. Dann tat ich etwas, das mich immer mit Bedauern erfüllt. Ich ging erneut zur Seite und in die Hocke, holte gleichzeitig mit dem Säbel aus und sichelte zwei Fuß breit über den Boden, während sich die Vorderläufe des Pferdes schnell näherten. Ein glatter Schnitt, das Tier stürzte, machte dabei keinen Laut, was der Überraschung geschuldet war. Der Ulane flog durch die Luft, landete in den noch intakten Getreideständen und wurde von meinen neuen Kameraden sofort mit Bajonetten attackiert. Hinter mir fielen Schüsse. Der zweite Ulane, trotz eines Säbelstichs, den ich ihm zugefügt hatte, bereits wieder im Anritt, wurde niedergestreckt, stürzte von dem fliehenden Pferd.

Die Preußen bildeten nun sofort ein Karree, reckten ihre Musketen in die Höhe, so dass die Bajonettspitzen deutlich über die Getreidehalme ragten. Dies zur Abschreckung weiterer Angreifer. Das Karree wurde eine kurze Zeit gehalten, bis der Leutnant zum Aufbruch rief, denn noch befand sich die Truppe auf der Flucht. Ich schloss mich an, nachdem ich meine Pistole geladen und dem französischen Pferd den Gnadenschuss gegeben hatte. Vorsichtshalber lud ich die Pistole erneut, steckte meinen Säbel zurück in die Scheide und eilte den Preußen hinterher.

Nach diesem Angriff wurde noch mehr Tempo gemacht. Wir mussten fürchten, dass weitere Kavallerie uns entdecken könnte oder den Kampf beobachtet hatte und nun auf Rache aus war. Ich musste aufpassen nicht zurückzubleiben, denn für eine kurze Zeit schien jeder auf sich selbst gestellt zu sein. Doch die Führung des Leutnants brachte wieder Disziplin. Wir glitten geordnet, rasch, aber vorsichtig durch das hohe Getreide. Dann ein Schatten vor uns. Das Feld endete, ein Wald begann unmittelbar. Das Vorwärtskommen war zunächst einfacher, schließlich aber wurde es anstrengender, über das Unterholz zu steigen und seinen Weg zu finden.

Die Truppe ging erneut auseinander, aber wie schon zuvor, rief der Leutnant seine Männer zusammen. Mir fehlte jegliches Gefühl für die Strecke, die wir zurückgelegt hatten. Als der Wald endete lag ein Acker vor uns, nur eine kurze Distanz bis zu den ersten Häusern. Ich blickte auf, als ich mich nicht mehr auf jeden Schritt konzentrieren musste, und sah die Mühle von Brye. Das Hauptquartier Feldmarschall Blüchers war nicht mehr weit. Wir hatten gut drei Meilen zurückgelegt, ein Gefühl für die Zeit hatte ich allerdings nicht. Ich sah zum Himmel und deutete den Stand der Sonne. Es war ein fast heißer Nachmittag an diesem 16. Juni 1815. Und hier und zu dieser Zeit drang der größte Schlachtenlärm von allen Seiten auf mich ein.

Das Dorf Brye quoll über von preußischer Infanterie und Kavallerie. Die Kanonen waren allerdings weiter östlich abgeprotzt und spuckten und feuerten in Richtung der französischen Linie, der ich soeben entkommen war. Es ging alles ganz schnell. Ich verlor meine Retter aus den Augen, konnte mich weder bei den Männern noch bei dem Leutnant bedanken, dessen Namen ich niemals erfahren sollte und den ich niemals im Leben wiedersah. Es kann gut sein, dass er und seine Männer am Ende doch noch zu den vielen Gefallenen zählten, die die Schlacht von Ligny an diesem Tag forderte.

Ich blieb nicht lange alleine. Ich weiß nicht, ob es Zufall war, aber ein Major sprach mich an, er erkannte meine schwedische Uniform und führte mich zu einem Gehöft etwas außerhalb Bryes, zu dem die bereits besagte Windmühle gehörte. Ich fand mich im Stab Feldmarschall Blüchers wieder. Der Alte, wie ihn seine Männer mit allem Respekt nannten, beobachtete die Schlacht von der Windmühle aus. Ich trat ans Fenster, blickte hinauf, konnte aber niemanden sehen, weil ich mich auf der rückwärtigen Seite befand. Es stand mir auch nicht zu, Blüchers Adjutanten August Ludwig von Nostitz, der mich im Dorf aufgelesen und zum Hauptquartier gebracht hatte, zu folgen, als dieser Order erhielt und sich verabschiedete. Ich bekam zu essen und zu trinken, mir wurde sogar eine Lagerstatt angeboten, aber ich war längst nicht müde, nicht zu einer Zeit, wo sich die Ereignisse der Schlacht überschlugen.

Ich schlürfte eine Suppe, nahm Brot, Käse und ein dickes Wurstende in die Hand und trat hinaus auf den Hof und wieder hinein in den Schlachtenlärm. Die Windmühle war keine fünfzig Yards entfernt, ich traute mich aber nicht hinzugehen. Ich wartete stattdessen, sah über dem Schlachtfeld Rauch und Feuer, hörte das Rattern der Musketen und gelegentlich das Pfeifen der Kanonenkugeln. Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging, aber plötzlich kam Bewegung in die Wachen, die vor dem Eingang zur Mühle standen. Offiziere strömten auf den Hof und da sah ich ihn, in der Mitte seines Stabes. Blücher wirkte energisch, ließ sich sein Pferd bringen und stieg auf. Sein Gefolge hatte Schwierigkeiten, Schritt zuhalten. Es wurde nach den Burschen geschriehen, weitere Pferde wurden herangebracht. Zunächst war der Aufbruch wie ein Tumult, dann herrschte plötzlich Ruhe, eine Ruhe in die sofort wieder der Schlachtenlärm drang.

Ich blickte zur Mühle, der Eingang war jetzt unbewacht. Ich hielt noch immer das Wurstende in der Hand, schmiss es zur Seite, ging hinüber trat durch die offene Tür und tauchte in einen staubigen Raum ein. Ich gewöhnte mich schnell an die Dunkelheit, fand die ausgetretenen Stiegen und machte mich auf den Weg hinauf. Es war recht anstrengend, da erst ganz oben eine schmale Plattform zu finden war, auf die ich ins Freie trat. Genau an dieser Stelle hatte Minuten zuvor noch Feldmarschall Blücher gestanden, der jetzt auf dem Weg war, selbst in das Kriegsgeschehen einzugreifen.

In späteren Jahren habe ich viel über den Verlauf der Schlacht gelesen, die an diesem Tag den Anfang vom Ende Napoléons einläutete. Es waren Berichte von Unbeteiligten, zumeist verklärt heroisch, aber auch Augenzeugenberichte, in denen ich mich ebenfalls nicht vollständig wiederfand, sofern ich an den genannten Orten selbst anwesend war und so ein Urteil hätte fällen können. Jeder sollte daraus lernen, dass das persönliche Empfinden eines Ereignisses oft nur wenig mit der sachlichen Realität zu tun hat. Aber was bedeutet diese sachliche Realität? Ist es ein Aufzählen der Gefallenen und der Verwundeten, der eroberten Kanonen und Furagen, des Gewinns an Terrain? Der Tod eines Soldaten mag noch etwas Endgültiges sein, weil dabei alles erstirbt, keine Erinnerung übrigbleibt. Ganz anders ist dies bei den Verwundeten und den Überlebenden. Hier kann jeder sein eigenes Empfinden herausschreien und je öfter er dies tut, je mehr entfernt sich sein Eindruck von der sachlichen Realität.

Bei meiner Schilderung soll dies berücksichtigt sein. Ganz sicher kann ich aber bestätigen, dass Napoléons Angriff auf Saint-Amand begann, als die Kanonen im etwa sechs Meilen entfernten Quatre-Bras zu sprechen begannen. Es waren also zwei Schlachten entbrannt, die Preußen von den Briten mit ihren niederländischen Verbündeten getrennt, womit Napoléon sein Ziel erreicht zu haben glaubte, beide feindlichen Armeen nacheinander bekämpfen und besiegen zu können.

Ich hatte in unmittelbarer Nähe Saint-Amands mein Pferd verloren, wurde beinahe von französischen Tirailleuren erschossen, wenn mich nicht ein Trupp preußischer Plänkler gerettet hätte. Sie brachten mich nach Brye, um dann nach Saint-Amand zurückzukehren. Dort entbrannten wenig später heftige Kämpfe, die ich jetzt hoch oben in meinem Ausguck auf der Windmühle von Brye beobachten konnte. Ich hatte längst mein Utzschneider-Fernrohr zur Hand genommen. Die Franzosen hatten die Preußen zum wiederholten Male aus dem Dorf gedrängt. Aber es war noch lange nicht vorbei, denn jetzt griffen die Preußen unter Führung Feldmarschall Blüchers an, eroberten die Stellungen zurück. Ich kann nicht sagen wie oft sich dieses hin- und herwogen wiederholt hatte. Ich sah aber nach jedem Sturm die Menge der Toten und Verwundeten, die zurückblieben.

Die Zeit verging. Ich blieb nicht allein auf meinem Posten, musste oft den Platz an preußische Offiziere abgeben, die so schnell gingen, wie sie gekommen waren, um dem Stab Blüchers oder dem Feldmarschall selbst die Lage aus erhöhter Position mitzuteilen. Am Ende des Nachmittags hielten die Preußen aber noch immer Saint-Amand. Dafür entbrannten etwas mehr als eine Meile östlich weitere Kämpfe. Das Dorf Ligny war ebenfalls längst zum Schlachtfeld geworden. Ich glaubte tatsächlich den Pulverrauch in meinem Mund zu schmecken. Es wurde Zeit, meinen Posten zu verlassen, nur wusste ich nicht, was ich unternehmen sollte. Ich war lediglich Beobachter, wäre aber gerne dichter an das Geschehen herangekommen. In dem Gehöft ließ ich mich noch einmal mit Tee und einem frühen Abendbrot bewirten, als Major von Nostitz auftauchte. Er ließ sich ebenfalls versorgen, trank und aß in großer Eile und als er wieder aufbrechen wollte, schloss ich mich ihm an.

Wir sprachen nichts ab. Ich bekam ein Pferd und ritt dem Tross von Offizieren, dem Major von Nostitz angehörte, hinterher. Und dann befand ich mich in unmittelbarer Nähe zu Feldmarschall Blücher, der übermütig und aufgedreht wirkte. Es hatte keinen Sinn ihn zurückzuhalten, man konnte nur verhindern, dass er sich in der ersten Angriffsreihe einordnete. Der Kavallerieansturm begann, stoppte, begann erneut, nahm Fahrt auf, traf auf den Feind. Saint-Armand wurde genommen. Und dennoch waren die Franzosen nicht bereit, vollständig zu weichen. Ich ritt den Angriff mit, auch wenn das nicht ganz richtig formuliert ist, denn ich war weit hinten, aber noch vor den Leuten die sich den Verwundeten annahmen. Ich hätte diese Pflicht der Menschlichkeit ebenfalls ausführen können, aber es drängte mich nach vorne.

Ich ignorierte die Verwundeten und erst recht die Toten. Keine fünfzig Yards von mir schlug eine Kanonenkugel ins Erdreich. Die Franzosen setzten wieder Artillerie ein, kleine Kaliber, die aber gegen Reiterei ebenso tödlich war. Es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch Kartätschen herüberflogen. Dies allein konnte nur ein Sieg der preußischen Kavallerie verhindern, ein Überrennen der Stellungen. Plötzlich fiel mir die Prachtuniform Blüchers auf, der tatsächlich mitten im Geschehen ritt und nur durch seine Adjutanten daran gehindert wurde, seine Waffen selbst gegen den Feind einzusetzen.

Französische Infanterie stoppte ganz vorne die preußische Kavallerie und dann erschien auch die Reiterei des Feindes. Es waren Kürassiere, deren Brustpanzerung im Licht des schwindenden Tages glänzte. Ich zügelte mein Pferd, denn mir wurde plötzlich bewusst, dass ich mich schon zu sehr dem Kampfgeschehen angenähert hatte. Mein Auftrag, der noch immer galt, befahl mir, mich aus allen Gefahren herauszuhalten. Ich gehörte nicht zu der kämpfenden Truppe, ich gehörte nicht einmal zu einer der Konfliktparteien. Und es war genau dieser Begriff, den sowohl Överste Kungsholm als auch mein Kamerad Louis Berg verwendeten. Preußen, Briten und Niederländer standen Napoléon Bonaparte gegenüber, sollten das erneute Aufbegehren unterdrücken, den Frieden von Paris wieder einsetzen. Als Schwede war ich nur Beobachter und dabei hatte ich in der Schlacht bereits aktiv gekämpft. Dieser letzte Gedanke ließ mich meinen Ritt fortsetzen, auch wenn ich mich dem Angriff nicht anschloss.

Aus dem Sturm der Preußen wurde aber in den kommenden Minuten ein Rückzug. Die französischen Kürassiere schlugen wild um sich. Französische Infanteristen formierten sich zu Linien und gaben ihre Salven auf die Preußen ab. Wenigsten hatte der Artilleriebeschuss aufgehört, auch weil er auf dem Schlachtfeld Freund und Feind gleichermaßen treffen konnte. Der preußischen Kavallerie wurden die Rösser unter den Sätteln erschossen. Ich sah viele Pferde mit zwei und sogar drei Reitern auf mich zukommen. Aber die Männer wurden nur in Sicherheit gebracht, so dass ihre Kameraden sofort kehrtmachten und sich zum Gegenangriff formierten.

Dies war die Situation auf der linken Flanke, während im Zentrum Infanterie gegen Infanterie stand. Es war dennoch ein Rückzug, denn wer seine Muskete verschossen hatte, lief zwanzig, dreißig Yards zurück, lud nach und deckte die Kameraden. Am Ende aber floh die preußische Infanterie, gab das Feld erneut der Kavallerie frei. Ich befand mich unmittelbar hinter der Reiterei und glaubte, dass soeben Feldmarschall Blücher an mir vorbei galoppiert war. Es beeindruckte, wie dieser Mann alles voll mitging, es beeindruckte mich, musste seinen Stab aber mit großen Sorgen erfüllt haben.

Ich zog selbst an, verfiel in Galopp, um am Geschehen dranzubleiben. Tatsächlich, vorne sah ich den Feldmarschall, der dem Beschuss der Infanterie trotzte. Hinter der Linie formierten sich französische Kürassiere, die sich wieder gesammelt hatten, um den Gegenangriff zu führen. Plötzlich war Blücher nicht mehr zu sehen. Ich blickte hinter mich, in der Annahme, dass man ihn längst in Sicherheit gebracht hatte. Und da preschte auch schon Major von Nostitz an mir vorbei auf die Angreifer zu. Ich gab meinem Pferd die Sporen und folgte ihm. Ich konnte nicht erkennen, was er vorhatte. Den Säbel führte er nicht in der Hand und auch keine Feuerwaffe. Wir wichen Gefallenen und Verletzten aus, sprangen nacheinander über ein totes Schlachtross, bis der Major sein Pferd unvermittelt zügelte und aus dem Sattel sprang.

 

Ich blickte nach vorne. Französische Kavallerie schlug gerade unsere Richtung ein. Es würde zum Aufeinandertreffen kommen, bei dem wir chancenlos waren. Ich sah wieder zu Major von Nostitz, um ihn zu warnen. Er hatte seinen schweren Mantel abgenommen, breitete ihn über einen Mann aus, der unter seinem toten Pferd eingeklemmt war. Noch bevor das Tuch die Körper verdeckte, sah ich die Rangabzeichen und Orden. Feldmarschall Blücher lag dort und ich musste annehmen, dass er tot war. Der Major hatte sich schon hinter einem nahen Baum verschanzt, als er mich bemerkte und nach mir rief.

XIch hörte zwar seine Worte nicht, verstand aber, was er wollte. Mit einem Satz sprang ich aus dem Sattel, ließ mein Pferd laufen und hockte mich neben den Major. Der Baum mit seinem breiten Stamm verbarg uns für den Moment vor den heranstürmenden Franzosen. Sie überritten die Stelle, an der Feldmarschall Blücher lag und wie durch ein Wunder ging der Sturm vorbei. Major von Nostitz sprang sofort auf, eilte zu der Stelle und lüftete den Mantel. Ich war sogleich an seiner Seite und sah, dass der Feldmarschall noch lebte, stöhnte und bereits versuchte, sich unter seinem toten Pferd zu befreien. Ich packte mit an, stemmte mich gegen den schweren Hals des Rosses, so daß der Major den Oberkörper Blüchers hervorziehen konnte.

Jetzt sah ich mich wieder um, denn was nützte unsere Befreiung, wenn wir hinterher von Franzosen umzingelt waren. Der Gegenangriff hatte die Kürassiere aber zur rechten Flanke abdrehen lassen, so dass jetzt wieder die preußischen Verteidiger näher an uns heranrückten. Feldmarschall Blücher stand schon wieder auf den Beinen, musste aber von Major von Nostitz gestützt werden. Blücher wirkte blass, lächelte mir dann aber zu und in diesem Moment verstand ich, warum seine Männer ihn verehrten. Ich war ebenfalls für ein, zwei Sekunden gefangen.

Wir blieben nicht lange alleine, schon kam preußische Kavallerie heran, brachte uns Pferde. Blücher wurde in den Sattel gehoben, bekam links und rechts Begleitung und konnte so hinter die Linie in Sicherheit gebracht werden. Ich ritt zusammen mit Major von Nostitz hintendrein. Wir sprachen nicht, er nickte mir nur einmal zu, womit er mir seinen Dank zu verstehen gab. Von da an gehörte ich gut zwei Tage zum Tross Feldmarschall Blüchers, der die Führung des nun einsetzenden preußischen Rückzugs an Generalleutnant August Neidhardt von Gneisenau abgeben musste.

Blücher galt bei seinem Stab sogar über Stunden hinweg als vermisst, so dass erst spät in der Nacht wieder Verbindung mit Gneisenaus Adjutanten aufgenommen werden konnte, um den Verbleib des Feldmarschalls zu klären. Gneisenau behielt vorerst die Führung. Es war auch notwendig, weil sich Blücher von dem Sturz noch erholen musste. Dennoch konnten wir erst am nächsten Morgen einen Halt einlegen.

Ich blieb derweil im Hintergrund, wurde aber einmal zum Feldmarschall vorgelassen. Blücher hatte seine Prellungen und Abschürfungen inzwischen selbst behandelt, und zwar mit Schnaps zur inneren Heilung und mit Franzbranntwein zur äußeren Anwendung. Dies war sehr deutlich zu riechen, als er vor mich trat, mir die Hand reichte und mir in einem für mich merkwürdigen Deutsch dankte. Ich konnte ihm in seiner Sprache antworten und so kam es, dass ich ihm von meiner Herkunft erzählen musste, von dem schwedischen Vater und einer Mutter, die in Lübeck zur Welt kam. Dies schien ihn sehr zu interessieren, weil er selbst aus einer ehemaligen Hansestadt stammte und Rostock und Lübeck über die Ostsee doch recht eng verbunden seien.

Das Gespräch blieb kurz, da mir Blüchers Umfeld zu verstehen gab, dass der Feldmarschall Ruhe brauchte, um der fliehenden Armee später am Tag folgen zu können. Ich ging also wieder, ließ mich noch versorgen, erhielt sogar ein frisches Pferd und stand vor der Entscheidung, wohin mich mein Weg führen sollte. Zur Wahl stand die Rückkehr nach Brüssel, um die Ereignisse dort abzuwarten. Es wäre eine langweilige und wenig mutige Entscheidung gewesen, denn mich brannte es, zu erfahren, wie es Freund Louis in Quatre-Bras ergangen war, denn auch dort hatte es eine Schlacht gegeben.

Den Ausschlag für meine Entscheidung gab dann aber Major von Nostitz, der auch noch einmal das Gespräch mit mir suchte. Er hatte inzwischen einen Überblick und kannte auch Gneisenaus taktische Überlegungen. Die Schlacht bei Ligny war verloren, die Preußen aber nicht besiegt, was die Franzosen nachholen wollten. Anfangs gab es bei der Flucht noch eine ganze Armee von Verfolgern, aber der verantwortliche französische Befehlshaber hatte sich am Ende für die falsche Himmelsrichtung entschieden. Er wähnte die Preußen im Osten, doch Gneisenau ließ nach Norden marschieren und entfernte sich damit nicht unnötig von den Briten und Niederländern und hielt sich sogar die Option offen, noch bei Quatre-Bras eingreifen zu können. Und wenn ich dem Rückzug der Preußen folgte, der vielleicht sogar die Vorbereitung eines Angriffs war, konnte ich immer noch in der Nähe sein, wenn die Entscheidung für oder gegen Napoléon fiel.

*

Quatre-Bras und Waterloo. Diese Orte haben sich tief in die Geschichtsbücher eingeprägt. Ich kann nur schlecht erzählen, was ich nicht im eigenen Angesicht erlebt habe, obwohl ich mich rühme dabeigewesen zu sein, den Pulverrauch eingeatmet und das viele Blut geschmeckt zu haben, das in diesen Frühsommertagen vergossen wurde. Am 18. Juni 1815 brach ich gegen Mittag von einem Dorf namens Ottignies aus auf. Die Preußische Armee war längst weitergezogen, um am großen Treffen teilzunehmen. Napoléon bedrängte Wellington, doch da kam ihm Blücher zu Hilfe. Aber es war nicht Blücher selbst, denn der Alte ließ sich noch immer von Gneisenau vertreten. Ich hatte ein neues Pferd, geladene Pistolen und den Säbel am Sattel hängen, als ich in Richtung des Kanonendonners ritt, der aus dem Dorf Wavre kommen musste und zunächst nur schwach in der Luft hing. Ich holte mehrere preußische Infanteriekolonnen ein, die als Reserve langsamer an die Schlacht herangeführt wurden. Ich trabte über Felder, die der Regen des Vormittags weniger durchweicht hinterlassen hatte. Eine Karte und der Kompass halfen mir, mich auf dem flachen, jedoch hochbewachsenen Gelände zurechtzufinden.

Ich passierte einige unversehrte, aber menschenleere Dörfer. An einer kleinen Erhebung fand ich eine verlassene französische Batterie von fünf Kanonen. Den Kanonieren musste die Flucht geglückt sein. Ich fand nur noch eine verlorene Mütze und einen einzelnen Stiefel. Es roch verbrannt und nach feuchtem Pulver. Die Munition der Kanonen fehlte und so war anzunehmen, dass vor der Flucht die Kugeln ausgegangen waren. Ich konnte annehmen, dass sich die Kanoniere auf ein Fuhrwerk gerettet hatten, denn eine tiefe Radspur führte den Hügel hinunter.

Ich übersah, dass das Fuhrwerk nicht von einem Gespann gezogen worden war, sich aber mehrere Paar Stiefel durch den schweren Boden gequält haben mussten. Ich sollte schnell begreifen, dass es kein Fuhrwerk war, sondern ein Geschütz, das von seiner Mannschaft nur wenige hundert Yards zu einer Senke geschleppt worden war. Ich übersah auch die Senke rechts meines Weges und die Truppen, die sich links von mir am Horizont abzeichneten. Ich erreichte gerade einen baumbestandenen Weiher in der Nähe eines Hofes, an dem sich nichts rührte, keine Ente, kein anderes Federvieh, das sich sonst dort tummeln musste.

Ich hielt inne, um den fernen Schlachtenlärm besser hören zu können, der meinen Weg leiten sollte, als ein Donner mich zusammenzucken ließ. Ich blickte sofort zur Seite, sah Pulverrauch aufsteigen und hörte das tödliche Pfeifen. Zehn, zwölf Yards von mir entfernt schlug eine kleinkalibrige Kanonenkugel in einen der Bäume am Weiher ein. Das nasse Holz hielt den Stamm zusammen und ersparte mir einen Regen aus scharfkantigen Splittern. Lediglich ein Stück Rinde prallte gegen den Schaft meines Stiefels und hinterließ einen Rußstreifen. Ich sprang vom Pferd, zog das Tier in Richtung Gehöft. Hier würden wir keinen Schutz finden, wenn das Gebäude zum Ziel wurde. Ich überlegte fieberhaft, als tatsächlich der nächste Schuss abgegeben wurde. Die Kugel flog deutlich zu weit, über das Haus hinweg und hundert oder sogar zweihundert Yards in das freie Feld.