Götterhämmerung & Walkürentritt

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‚Edel sei der Mensch, hilfreich und gut’, musste Kindler auf einmal denken und wusste überhaupt nicht, warum. Wahrscheinlich aber, weil dieser Lehmann wieder große Oper spielte. Und als hätte der seine Gedanken gelesen, platzte Lehmann heraus: „Ich gehe jedenfalls am Mittwoch mit ihr in die Oper. Und überhaupt ist sie die interessanteste und spannendste Frau, die mir je begegnet ist.“

Kindler machte sich auf einen langen Nachmittag gefasst und wog die Chancen ab, das eine oder andere Bier spendiert zu bekommen, wenn er nur so tat, als höre er diesem dicken Spinner geduldig zu.

Unter dem Tisch träumte ein kleiner Hund von einem großen, weißen, mehrere Zentimeter langen, röhrenförmigen Teil mit Verdickungen an beiden Enden. Im Traum versuchte er sich zu erinnern, was er damit anfangen könnte. Warum er es vergraben und nach einer Woche wieder ausbuddeln würde. Es wollte ihm einfach nicht einfallen.


Das Eichhörnchen hatte sich von dem Schock erholt und schaute jetzt neugierig durch das Loch, das der Stein in den morschen Stamm geschlagen hatte. Wer hatte ihm diesen Schrecken eingejagt? Es waren Zweibeiner! So, wie sie die Alten manchmal noch beschrieben hatten. Zweibeiner, die früher hier alles umgekrempelt hatten, die Wälder abgeholzt, die Auen trockengelegt, die Wiesen mit hartem, stinkenden Zeug zugeschmiert hatten. Nun waren also zwei von denen, die seit vielen Generationen nicht mehr gesichtet worden waren, wieder da. In der letzten Zeit hatten die Erinnerungen an ihre Gräueltaten nur den Jungtieren als schreckliche Drohung bei ungebührliches Verhalten gedient. Der eine der beiden Aufrechten war riesengroß. Er hatte einen mächtigen, metallischen Kopf mit zwei Hörnern dran, aus seinem Gesicht ragten lange, gelbe Haare, die ihm bis auf die Brust reichten, die auch aus Metall war. Vom Hals her breitete sich über den ganzen Rücken ein flügelähnlicher Körperteil aus, der fast bis auf den Boden reichte. Beim kleineren der beiden, dem rote Haare aus dem Gesicht wuchsen und wallendes Kopfhaar unter dem Metall hervorquoll, reichte der weiche Körperteil wirklich bis auf den Boden. Das schien ihm nicht zu gefallen, denn mit einer Vorderpfote versuchte er es immer wieder anzuheben. Die andere Vorderpfote hielt einen großen, länglichen Gegenstand, der in der Sonne silbern glitzerte. Der große Mensch hatte ein ganz ähnliches Ding in der Pfote, aber das war noch gewaltiger, als der Stock vom Rothaarigen. Der besaß auch zwei Hinterpfoten aus dickem Fell, das aussah, als sei es ihm gar nicht selbst gewachsen. Jähes Entsetzen durchzuckte das Eichhorn, als es begriff: Die Zweibeiner hatten Vierbeiner getötet und gehäutet. Oder hatten sie die Tiere vielleicht gar nicht getötet und gleich gehäutet? Ein eiskalter Schauer ließ den Leib und vor allem den buschigen Schwanz des Nagers vibrieren. Um die Mitte ihres Körpers hatten die schauderhaften Wesen ein schlangenartiges Ding gewunden. Dort hinein hatten sie ihre schrecklichen, spitzen Totschläger gesteckt. Der obere Teil ihrer Hinterpfoten steckte in irgendetwas, was bei genauerer Betrachtung auch ein ehemaliges Tier sein konnte. Alles, was die Alten erzählt hatten, stimmte also. Bis auf den Geruch, der war anders, als das kleine Nagetier es gelernt hatte. Das kalte Grauen kletterte zum Eichhörnchen in den Baum, packte es am Hals und überredete es, sich nicht weiter um die Zweibeiner zu kümmern und stattdessen einen längeren Waldlauf im gestreckten Galopp zu unternehmen. Und zwar entgegengesetzt der Richtung, die von den Zweibeinern eingeschlagen worden war.

‚Die wollen auch nicht weiter auf der Evolutionsleiter hochklettern‘, dachte der kleine Krieger, der die Gedanken des Eichhorns belauscht hatte. Es war müßig, sich um die spirituelle Vervollkommnung der Tiere zu kümmern. Sie waren einfach nicht entwicklungsfähig oder sie stellten sich bewusst blöd. Vermutlich letzteres, das war schön bequem und man musste sich nicht für den Weltenlauf verantwortlich fühlen, dachte er und stapfte betrübt über so viel mangelndes Pflichtbewusstsein hinter dem Großen her. Sie hatten eine Lichtung erreicht und beide untersuchten den Erdboden mit ihren Schwertern nach Spuren menschlicher Siedlungen.

„Heiliger Donner aller Götter!“, brüllte der Große plötzlich. „Es ödet mich an, wie ein tumber Bauer durch den Wald zu latschen und jeden Meter baumlosen Bodens umzuwühlen wie ein wildes Schwein. Wo bei Wotan sind wir hier gelandet?“

„Ich denke mich an diese Stelle zu erinnern“, warf der Kleine beschwichtigend ein.

„Hier war die Thingstelle in früheren Zeiten, ich spüre es bis in die Knochen, dass hier die Götter angebetet wurden.“

„Bei aller Hochachtung für deinen außergewöhnlichen Spürsinn“, sagte der große Krieger sichtlich um Fassung ringend, „sag mir doch einfach, wann hier eine Thingplatz war. Dann können wir uns gemütlich ausrechnen, in welchem Jahr wir gelandet sind. Wenn wir wenigstens ein paar Spuren von Steinkreisen gefunden hätten, aber hier erinnert nichts mehr an uns und kaum etwas an das ganze Menschengeschlecht. Also Bruder, befleißige dich doch gefälligst mir zu verraten, wann und wo wir sind.“

„Wie ich dir sage, an das wo habe ich deutliche Erinnerungen. Einstens war hier ein Thing, später kamen die Slawen, noch später die Franken und Sachsen. Die Götter wissen, was noch für Horden hier durch sind, schlussendlich kamen die Christen vom anderen Rand dieser Berge und bauten in der Nähe eine Burg. Dann entstand eine Stadt, von hier aus wurden deutsche Könige berufen, sogar Kaiser. Ein gewisser Barbarossa hatte ganz in der Nähe eine Pfalz und soll der Sage nach in einem Berg liegen und schlafen“, erklärte der rothaarige Kämpfer jetzt.

„Was heißt hier der Sage nach!“, brauste der große Krieger auf und sein blonder Bart wehte im aufkommenden Lüftchen. „Wir sind hier der Mythos. Wir machen ihn und wir sind er. Wer hat diese Sage von dem schlafenden Kaiser erfunden?“

„Das ist eine lange Geschichte“, seufzte der andere abwehrend. „Gut, dann erzähl sie mir“, knarrte der Große und setzte sich auf einem Mooskissen zurecht.

„Was, jetzt? Muss das sein?“, nörgelte der Rotschopf.

„Wir haben ja sonst nichts Besseres vor“, erwiderte der große, blonde Recke. „Und verlaufen haben wir uns auch, machen wir eben eine Pause.“

„Na schön“, seufzte sein Begleiter und fing an, die ganze lange Geschichte des Stauffenkaisers zu erzählen, von seiner Jugend, seiner Heirat, seinen Feldzügen, seiner Diplomatie in Italien und anderswo und schließlich von seinem Auszug nach Jerusalem zum dritten Kreuzzug.

„Wir hatten damals große Hoffnungen in den Kaiser gesetzt“, fuhr der Erzähler fort. „Er schien uns die letzte Möglichkeit zu sein, das ganze germanische Göttergeschlecht in den Herzen der Menschen am Leben zu erhalten. Nur wenn es uns gelungen wäre, ihn vom Christentum abzubringen, dann hätte Walhalla eine Chance als Weltreligion gehabt. Unsere Sache stand auch nicht schlecht, denn der Kaiser hatte andauernden Streit mit den Vertretern der christlichen Kirche. Mehrere Päpste hätte er am liebsten auf sein langes Schwert gespießt, aber letztendlich war er doch zu festgelegt in seinem Glauben. Odin persönlich leitete damals die Operation und hatte seinen Sohn Thor ausgeschickt, den Kaiser mit dem roten Bart zu bekehren. Leider war der große Donnerer wenig erfolgreich und Friedrich I., wie der Barbarossa in Wahrheit hieß, hing nach wie vor an diesem jammervollen Gott, dessen Sohn sich kampflos ans Kreuz nageln hatte lassen. Er glaubte uns nicht und hielt uns für Scharlatane und so schlug ihm Thor schließlich einen Wettkampf auf neutralem Boden vor, nämlich im Wasser.“

„Im Wasser?“, schnappte der Zuhörer jetzt wie ein Fisch auf dem Trockenen.

„Der Kaiser liebte das Schwimmen. Ja, ich kann sagen, er konnte vorzüglich schwimmen. So verabredete er also mit Thor ein Wettschwimmen. Gewänne der Kaiser, so hätte Thor ihm göttliche Macht verleihen müssen und bei einem Sieg Thors wollte der Kaiser den alten Göttern wieder huldigen. Beim ersten Hahnenschrei stürzten sie aus der Burg, in der sie auf der Reise genächtigt hatten, und begaben sich zum nahe gelegenen Fluss. Thor war damals als Getreuer des Kaisers unterwegs und niemand weiter begleitete die beiden. Und sie warfen sich in die wilden Fluten des reißenden Stroms, dessen Name mir momentan entfallen ist – warte, ich komm gleich drauf … “, grübelte der Rotbärtige.

„Es ist mir sehr egal, wie diese verwunschene Brühe geheißen wird!“, fauchte sein Zuhörer.

„Na gut, wie du meinst“, beschwichtigte der kleinere Recke, „Sie hatten sich also einen bestimmten Punkt ausgemacht, den es zu erreichen galt. Wer als Erster einen rauen Felsvorsprung erklomm, der deutlich sichtbar aus dem brodelnden Fluss ragte, der sollte der Sieger sein. Odin hatte getobt, als er von dieser Wette hörte, aber da war es schon zu spät. Und es war auch nicht die befürchtete Blamage eines Göttersprosses gegenüber einem sterblichen Menschen die eintrat, sondern das Ende aller religiösen Hoffnungen. Kaiser Barbarossa erlitt einen Herzanfall und ertrank in den Wellen. Salef!“

Der Erzähler machte eine Pause und schaute den anderen triumphierend an.

„Was, Salef?“, fragte der große Kämpfer verständnislos, „Was soll das heißen?“

„Der Fluss. Er heißt Salef und liegt in Kleinasien“, memorierte jetzt der Erzähler.

„Aha“, brummte der Große, ohne sonderliche Begeisterung.

„Thor gewann das Rennen locker und zieht heute noch den rotbärtigen Kaiser mit seinem Sieg auf. Der staunte anschließend nicht schlecht, als er nach seinem Tode nicht bei seinem Wüstengott landete, sondern direkt in Walhalla, wie all die anderen germanischen Fürsten auch. Um aber die Hoffnung nicht vollends aufzugeben, dass die alten Götter eines Tages zurückkehren würden, schuf Odin den Mythos vom schlafenden Kaiser, der einstmals erwachen wird, wenn das Reich ihn braucht. Mit Reich meint Odin aber nichts anderes als Walhalla. Thor sollte diese Rolle spielen und als Barbarossa in einer Höhle liegen. Das war Odins harte Strafe für seinen albernen Schwimmwettkampf. Und deshalb sind wir wahrscheinlich auch hierher geschickt worden, um zu sehen, ob die Zeit nun reif ist.“

 

„Ja, nur wann sind wir hergeschickt worden?“, knurrte der blonde Riese wieder. Der rothaarige Kämpfer gewann langsam den Eindruck, dass sie sich im Kreis zu drehen begannen. Und das nicht unbedingt räumlich.


Frieda, wie sie sich nun selbst nannte, lief anfangs ziellos durch die alten Straßen der merkwürdigen Stadt und dachte über die Worte des dicken Mannes nach. Von streng geflochtenen Zöpfen hatte er gesprochen und dass ihr Kleid wie ein Nachthemd aussähe. Nun ja, es war schlicht, das stimmte, aber Nachthemd, das ging ihr entschieden zu weit. Die Frauen, die ihr begegneten, hatten nicht solche Kleider an. Einige trugen sogar zerrissene Obergewänder und andere hatten Beinkleider wie Männer an. Dann gab es noch welche, die außer einem breiten Gürtel gar nichts an den Beinen trugen. Und die Haarfrisuren waren ganz anders, das stimmte. Doch Frieda hatte auch schon Mädchen mit Zöpfen gesehen. Die waren nicht so dick wie ihre, aber immerhin. Sie suchte nach einem Marktstand, an dem sie eventuell etwas anderes zum Anziehen bekommen konnte, als ihr Blick durch ein Fenster fiel und sie mehrere Frauen sah, die auf Stühlen saßen und sich offenbar von anderen Frauen die Haare schneiden ließen. Spontan betrat sie das Haus. Im Eingangsbereich erwartete sie eine junge Frau mit hellblauen Haaren.„Hallo“, flötete sie. „Was kann ich für Sie tun?“

Frieda schaute sich nur um und schwieg, denn sie hatte keine Ahnung was diese Person für sie tun konnte.

„Waschen, fönen, legen?“, fragte die Empfangsdame jetzt erneut und lächelte Frieda an.

„Sie haben ja tolles Haar. Ist das alles echt?“, plapperte sie weiter. Frieda verstand nicht, was die junge Frau meinte und schluckte verwirrt.

„Verstehen Sie unsere Sprache nicht?“, plauderte die andere fröhlich. „Leider beherrsche ich nicht allzu viele ausländische Worte. Du juh spick inglisch?“

„Ich verstehe Sie sehr gut“, sagte Frieda. „Ich war nur in Gedanken. Empfehlen Sie mir eine andere Frisur?“

Die Haarscheniderin konnte ihr Glück kaum fassen, an dieser prächtigen Mähne herumschnipseln zu dürfen und antwortete angesichts der sehr hohen Rechnung, die sie dafür zu stellen gedachte, freudig erregt: „Ich kann Ihnen ja mal einige Varianten vorstellen.“

„Gut“, sagte Frieda und nahm vor einem der Bildschirme in einem bequemen Sessel Platz.

Zwei Stunden und vier Computeranimationen später stand ihr Entschluss fest. Sie würde sich von einem Teil ihres Haupthaares verabschieden. Nebenbei bekam sie von der geschwätzigen Haarschneiderin viele Tipps, wie sie sich anziehen könnte. Auch was eine Dame im Theater tragen sollte, wusste die redselige Frau bis ins kleinste Detail zu beschreiben. Obwohl sie nach eigenen Angaben schon seit mehreren Jahren nicht mehr dort gewesen sei, kannte sie sich immer noch gut aus. Vor allem deshalb, weil sie eine Menge Kundinnen hatte, die regelmäßig die Premieren besuchten und dafür ständig auf der Suche nach neuer Garderobe und unbekannten Frisuren waren. Premieren waren Zusammenkünfte in diesem Haus, das sie hier Theater nannten, bei denen es darauf ankam, ein teureres Kleid als die Frau vom Chef ihres Mannes zu tragen und natürlich eine auffälligere Frisur. Die Frauen hüllten sich in Samt und Seide, ließen sich aufwendig frisieren und benötigten vor einem Besuch des Theaters mehr Zeit für die Pflege ihrer Fingernägel, als sie im letzten Jahr für die Erziehung ihrer Kinder aufgewendet hatten. Wenn das alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt war, hüllten sie sich zusätzlich in eine wohlriechende Wolke feinster Düfte und gingen ins Theater. Hier gab es drei Möglichkeiten, den Abend zu genießen. Erstens bei der Ankunft, dem rituellen Ablegen des Mantels und der ersten Präsentation der Garderobe. Zweitens in der sogenannten Pause, in der sie durch das gesamte Gebäude defilierten, sich möglichst oft vor Spiegeln drehten und an einem überteuerten Glas ‚Schampanja‘ nippten und drittens nach der Aufführung, wenn der Mantel zeremoniell wieder übergestreift wurde und man im Triumphzug das Theater verließ, um beim Italiener um die Ecke zu dinieren. Verschönern konnte dieses Erlebnis noch ein gut bekleideter, sauber rasierter Mann an der Seite dieser Frauen, aber das wäre nicht zwingend erforderlich, sagte die Haarschneiderin. Frieda dachte an Lehmann und überlegte, ob seine Begleitung ein Gewinn wäre. Sie könnte ja Geschichten erzählen, beteuerte die unablässig schwatzende Frau aus dem Frisiersalon und fing sofort an, ihre Versprechung in die Tat umzusetzen, während sie das dicke, blonde Haar unter einer Brause mit lauwarmem Wasser einweichte. Frieda war es recht, dass sie nicht viel reden musste und binnen kürzester Zeit eine unglaubliche Menge wichtigster, fraulicher Informationen erhielt. Ihre Laune besserte sich von Minute zu Minute. Allmählich machte ihr dieser Ausflug Spaß. Und bei den Göttern, das war es genau, was sie haben wollte – viel Spaß.


„Kindler, schwanke nicht so herum!“, forderte Horst Kindler sich selbst auf. Nach etlichen Stunden im Brettel-Fritz machte er sich auf den Heimweg zu seiner bestimmt schon ungeduldig wartenden Frau. Eigentlich hatte er nur am Mittag die Schuhe zum Schuster schaffen sollen. Das hatte er gemacht. Und Geld hatte er auch kaum ausgegeben. Schlimmstenfalls würde er ihr erzählen, er habe in der Kneipe Fußball geguckt. Er war stark angetrunken und allerbester Laune, denn während der diversen Gläser Bier, die der dicke Lehmann ihm spendiert hatte, war ihm eine prima Idee gekommen. Er würde seine überragenden Fähigkeiten als Hobbyfilmer dazu benutzen, ein Video der aktuellen Götterdämmerungs-Inszenierung des Stadttheaters zu drehen. Das ließe sich dann zweifellos an die Stadtverwaltung verkaufen oder ans Tourismus-Amt oder irgendwen sonst, den er überzeugen würde. Und dass er die Leute überzeugen würde, daran bestand für Horst Kindler überhaupt kein Zweifel. Schließlich wusste er mit Qualität zu begeistern, das war allgemein bekannt. Und er war in diesem Provinzkaff hier mit Sicherheit der beste Filmemacher.

Jedenfalls der beste, den er kannte.

Einen Haufen Geld würde er damit verdienen, jawohl, einen schönen Batzen rabenschwarzen Geldes, denn Kindler plante die immensen Einnahmen weder dem Finanzamt noch dem Arbeitsamt mitzuteilen. Seine finanziellen Sorgen hätten ein Ende, seine Frau brauchte nicht mehr herumzujammern und dürfte ihm das Geld für die Kneipe nicht mehr vorzählen, nur weil sie noch eine Stelle als Verkäuferin im Supermarkt hatte und er nichts.

Und dieses Weibsstück, von dem Lehmann dauernd gefaselt hatte, sollte angeblich genauso aussehen wie eine echte Walküre. Lehmann hatte sich ausgeschüttet vor Lachen und immer wieder gerufen: „Sieht aus wie eine echte Walküre und läuft hier so einfach durch die Stadt. Einfach so!“

Mehr fiel ihm nicht ein, dem Spinner. Aber ihm, Horst Kindler, war etwas eingefallen. Etwas Geniales war ihm eingefallen. Man müsste die Geschichte weiterspielen, die germanischen Götter durch die Altstadt laufen lassen und dann filmen. Eine so tolle Idee ließe sich bestimmt an RTL oder SAT1 verkaufen. Und er würde Regie führen und die Stadt käme wieder zu Ansehen und landesweiter Geltung und aller Dank gebührte ihm, Horst Kindler. Jawohl, genauso würde es sein. Und dann würden sie ihn bitten, ob er nicht Bürgermeister werden wollte. Aber er würde es nicht machen. Er würde sie erst zappeln lassen und ihnen Hoffnung machen und dann würde er sagen: „Nein, ich mache euch nicht die Drecksarbeit. Lange genug habt ihr auf mir herum getrampelt, ihr alle, ihr verschlagenen Opportunisten, Weicheier, Feiglinge. Ihr könnt mich alle mal, jawohl. Horst Kindler macht euch nicht den Dummen!“

Und dann würde er gehen, einfach so, seine Sachen packen und nach Hollywood auswandern und dort sein Glück als Filmemacher finden. Er rechnete sich in der Traumfabrik gute Chancen aus, wobei ihm die zwölf Bier kräftig halfen, die er intus hatte. Seine Hauptsorge war nur, ob er all die klugen Gedanken, die er gerade hatte, nicht morgen schon wieder vergessen hätte. Das war ihm leider schon einige Male passiert.

„Videofilm Walküre!“, lallte er deshalb auf dem Heimweg immer wieder vor sich hin. Wer ihm so begegnet wäre an diesem Frühlingsabend, der hätte es bei seinem Anblick nicht für möglich gehalten, dass da eben ein künftiger Erfolgsregisseur an ihm vorbeigetorkelt war. Eher hätte der gewöhnliche Betrachter auf einen armen Irren getippt, der neben offensichtlich schweren Gleichgewichtsstörungen auch einen Großteil seiner Zehen durch Amputation eingebüßt hatte.

Er schwankte wirklich sehr, der Herr Kindler.


„Ich weiß immer noch nicht, was das alles soll. Schleppen wir die Steine hier her, nur weil dort ein früher ein Steinbruch war oder … “, der große Krieger ließ den enormen Hinkelstein zu Boden krachen und wischte sich plötzlich begreifend den Schweiß von der Nase, „Oder willst du allen Ernstes einen Steinkreis errichten?“

„Früher oder später würdest du darauf kommen. Ich habe fest darauf vertraut“, antwortete der Rotbart und Stolz schwang in seiner Stimme. „Mein Bruder ist eben kein Dummkopf, auch wenn er sich für die astromysterischen Fragen nicht sonderlich interessiert“, sagte er zufrieden.

„Du willst mir nur schmeicheln, damit ich die Brocken allein weiter schleppe. Daraus wird nichts, Herr Bruder. Du kommst schön mit zum Steinbruch.“ Der Große packte den Stein etwa in der Mitte mit beiden Händen, hob ihn scheinbar mühelos hoch und wuchtete ihn dann auf die Stelle, an die der Kleinere mit seinem Schwert ein Kreuz geritzt hatte.

„Übrigens habe ich am Steinbruch ein bemaltes Schild gefunden“, fügte der große Recke betont beiläufig hinzu.

„Ach!“, sagte der kleinere Bruder erstaunt und als er sich von der Nachricht erholt hatte, säuselte er zuckersüß: „Und das beliebst du mir erst jetzt zu sagen, wo wir den Steinkreis so gut wie fertig haben. Vielleicht könnte uns das Schild ja Auskunft darüber geben, wo und wann wir hier sind. Oder glaubst du, es macht mir Vergnügen, mich an die ganzen komplizierten Anweisungen zu erinnern, wie ich diesen Steinkreis zum Arbeiten bringen kann, Bruder Magni?“

„Ha, jetzt hast du meinen Namen gesagt, Modi. Die Götter werden uns strafen, wenn sie erfahren, dass wir unsere Namen genannt haben. Odin hat ausdrücklich darauf bestanden, dass wir dem Ingo Knito huldigen“, erwiderte der Magni genannte Riese.

„Wem sollen wir huldigen?“, wollte Modi wissen. „Mir ist kein Mann dieses Namens bekannt.“ „Ich weiß auch nicht, wer dieser Ingo Knito ist, aber Odin hat ihn mehrfach erwähnt“, bellte Magni zurück.

„Letzten Endes spielt das auch keine Rolle. Zürnen werden die Götter so oder so, wenn sie erfahren, dass wir unsere Namen genannt haben“, versuchte Modi seinem verwirrten Bruder eine sprachliche Brücke zu bauen.

„Aber bloß dann, wenn sie überhaupt erfahren, wo und vor allem wann wir hier sind“, brummte Magni. Modi rollte mit den Augen und bemerkte, dass sein linkes Augenlid zu zucken begann. Das war ein schlechtes Zeichen, denn er war nervös und konnte sich nur noch schlecht konzentrieren, wenn er dieses Zucken bekam. Er bemühte sich um Fassung und schlug einen freundlichen Ton an, in dem ein gerüttelt Maß an Resignation mitschwang. „Lass uns einfach weitermachen und zusehen, dass wir hier fortkommen. Was steht denn auf dem Schild?“, begehrte er zu wissen.

„Keine Ahnung“, antwortete Magni. „Ich konnte die Runen nicht lesen. Habe nie zuvor so entstellte Schriftzeichen gesehen.“

„Gut, lass uns nachschauen“, schlug Modi vor und beide stiefelten in Richtung Steinbruch, weg von der Lichtung, auf der schon eine beträchtliche Anzahl gigantischer Steine einen soliden Kreis bildeten, der an die weltberühmte Anlage in Stonehenge erinnerte.

 

Bald waren die beiden Brüder am Steinbruch angelangt und Magni deutete mit der Schwertspitze auf ein verwittertes, halb von Moos bewachsenes Schild.

rztba YR RTT

stand darauf und Modi musste seinem kräftigen Bruder zähneknirschend zustimmen, dass es keinen Sinn ergab. Immerhin erkannte er die Buchstaben, offensichtlich waren sie nicht in China oder Persien gelandet. Die Landschaft deutete allerdings auch nicht darauf hin, sondern eher auf Ausläufer eines kleineren, mitteleuropäischen Gebirges. Während er das Moos von dem rechteckigen Schild kratzte, sinnierte er über die Variante nach, dass sie in China gelandet wären und fand den Gedanken nicht erheiternd. Als er alle Buchstaben freigekratzt hatte las er

Freizeitbad THYRA GROTTE

und war beruhigt. Er stieß einen wohligen Seufzer aus, der einen mittleren Windstoß entfachte und um ein Haar einen Specht aus einem nahestehenden Baum schüttelte. Magni erkundigte sich neugierig: „Na und, was hast du herausgefunden?“

„Wir sind entweder in der Nähe eines Bades oder irgendwer hat das Schild hier weit mit sich herumgeschleppt. Dann sind wir nicht in der Nähe dieses Bades. Ich gehe aber davon aus, dass niemand zum Spaß ein Schild mit sich herumträgt, auf dem steht, wie ein Bad heißt. Das ergibt ja keinen Sinn.“

„Wie heißt denn das Bad?“, wollte Magni wissen.

„Thyra Grotte“, antwortete Modi und nun war es an Magni tief zu seufzen.

„Willst du damit andeuten, es hätte irgendwann Leute gegeben oder würde sie später geben, die nach dem dreimal verfluchten Thrym ein Bad benannt hätten oder noch benennen wollen?“, donnerte er los und weil sich Modi sehr viel Zeit mit der Antwort ließ, fügte er an: „Und es könnte sein, die lebten hier? So wünschte ich ihnen, dass sie schon vor langer Zeit ausgestorben wären, denn andernfalls werde ich das Ende ihres Stammes in kurzer Zeit besiegeln und zwar gründlich!“

Sein lautstarker Zorn hatte den ganzen Waldabschnitt erbeben lassen und rund um den Steinbruch stürzten vereinzelt Steine und tote Vögel zu Boden. Der eine oder andere Hase brach auf, sein Heil in einer mehrtägigen Flucht zu suchen um diese Gewitterstimme nie wieder hören zu müssen. Ein verzweifelter Maulwurf stellte einen neuen Tiefen- und Geschwindigkeitsrekord im senkrechten Buddeln nach unten auf und stieß, als er sich so weit unten wähnte wie vor ihm noch kein Tier gewesen wäre, auf mehrere verängstigte Mäuse und Hamster, die sich aneinander klammerten.

„Was du dich nur so aufregst“, beschwichtigte Modi nun Magni. „Wir wissen doch überhaupt nicht, ob der Eisriese damit gemeint ist. Und außerdem: Thrym hat längst sein armseliges Leben unter Vaters Hammer ausgehaucht. Erinnerst du dich nicht mehr daran?“

„An die Geschichte, wie unser Vater Thor sich mit einer List den von Thrym gestohlenen Hammer zurückgeholt hat, erinnere ich mich sehr wohl. Ich weiß nur nicht, woher du die Sicherheit nimmst, dass dieses Ereignis in der Vergangenheit liegt, denn wir wissen ja nicht, wann wir gerade sind“, fauchte Magni seinen Bruder an.

„Das ist wirklich ein Problem“, erwiderte Modi geduldig und bemerkte, dass es äußerst langweilig war, immer wieder auf dieses eine Thema zurückkommen zu müssen.

„Jedoch besagt das Schild eindeutig, dass wir auf germanischem Boden stehen und diese Gewissheit erfreut mich ungemein. Wenn wir den Steinkreis benutzen können, werden wir auch wissen, wann wir sind. Dann können wir geeignete Schritte einleiten und entweder die hier lebende Bevölkerung massakrieren, weil sie Thrym anbetet oder, was wesentlich wahrscheinlicher ist, in die Zeit gehen, in welche Odin uns geschickt hat. Im Übrigen sollten wir uns beeilen fertig zu werden ehe die Sterne aufgehen, sonst sitzen wir morgen immer noch hier und fragen uns, wann wir sind.“

Magni hievte sich wortlos einen riesigen, langen Stein auf den Rücken, der glänzend als Querstein geeignet war, und stapfte zurück zur Lichtung. Modi nahm sich ein ähnliches Exemplar vor und folgte keuchend seinem Bruder. Als sie wenig später den Bau vollendet hatten, begann Modi mit den Feinabstimmungen und kramte nach seinen Erinnerungen an die geheimen Worte, indem er mit den einfacheren Dingen begann. Er murmelte unablässig Sprüche und Reime, die ihre Existenz der Beschäftigung von Göttern und Menschen mit der Astronomie und verwandten Wissenschaften verdankten:

„Eber, Riese, Himmelskuh zählen wir dem Winter zu.

Hase, Wolf und Menschenpaar stellen uns den Frühling dar.

In Hahn und Hengst und Ährenfrau

die Sommersonne steht genau.

Schwalbe, Hirsch und Bogenschütze

sind des Herbstes feste Stütze.“

war nur ein Beispiel der großen Gelehrsamkeit, die Modi nun an den Tag legte.

Magni hatte ein Feuer entfacht und suchte nach den passenden und für die Rituale geeigneten Holzscheiten. Beziehungsweise half er einigen jungen Bäumchen dabei, sich mittels seines gigantischen Schwertes in bestens geeignete Holzscheite zu verwandeln. Modi brabbelte immer noch vor sich hin und vervollkommnete die Ausrichtung des Kreises. Er peilte mit Daumen und zugekniffenem Auge die oberen Spitzen der Felsbrocken an. Hin und wieder nickte er zufrieden oder strich sich über den Bart. Er prüfte die Abstände der Steine voneinander und verglich ihre Höhe. Er änderte gegebenenfalls, wo es noch nicht so richtig passte, und frohlockte endlich: „Nun brauchen wir nur noch auf die Dunkelheit warten“. In einem didaktischen Duktus begann er seinen, an einen Baumstamm gelehnten Bruder Magni aufzuklären: „Bei der Betrachtung des Sternenhimmels sehen wir, dass die Sterne im Laufe der Nacht zu wandern scheinen. Am Abend sieht man andere Sterne als am frühen Morgen, im Winter andere als im Sommer. Die Sterne aber, welche sich in der Nähe des Himmelspols befinden, gehen niemals hinter den Horizont und sind somit das ganze Jahr sichtbar. Der Kreis, der diese Sterne umschließt und scheinbar von anderen trennt, ist der innere Himmelskreis. Das sind diese Steine hier, siehst du?“ Modi zeigte mit dem Schwert auf die betreffenden Felsbrocken. „Diesen Bereich nannten die Menschen dann Asgard, die Götterheimat.“

„Wieso nannten?“, unterbrach ihn Magni, „Vielleicht werden sie es erst in ein paar tausend Jahren so nennen, schließlich wissen wir nicht, wann wir sind.“

Modi hasste seinen Bruder manchmal für seine schreckliche Sturheit, aber er wusste wohl, dass es das Beste war, solche Sticheleien einfach zu ignorieren.

„Der Sommerhimmel bedeutete ihnen Midgard oder er bedeutet es ihnen heute noch oder er wird es ihnen einst bedeuten, nämlich ihren eigenen Wohnsitz.“ Modi richtete sein Schwert auf die besagten Steine und funkelte Magni an. Der hatte sich hingesetzt, reinigte sein Schwert mit einem Batzen Moos und machte den arglosesten Eindruck, den dieser Wald jemals gesehen hatte und noch sehen würde.

„Der Winterhimmel ist ihnen ein Gleichnis für Utgrad, das Reich der Riesen. Der helle Stern, den man später als den Polarstern bezeichnen wird, nannten sie in früheren Zeiten Wotans Auge. Getrennt werden die Reiche der Menschen und der Riesen durch den Weltenreif Draupner, den sie heute die Milchstraße nennen und den wir hier mit den Querverbindungen dargestellt haben. Alles, was wir nun tun müssen, ist warten, dass es dunkel wird. Dann bestimme ich schnell den Stand der Sterne und leite mit Hilfe des Steinkreises die Konstellationen ab, errechne den ewigen Wert und beziehe ihn auf die Helligkeit unserer Fackeln dort hinten und schon wissen wir, wann wir sind.“

„Hm“, brummte Magni und das Zwiegespräch war jäh beendet.

Eine knappe Stunde später war es stockdunkel. Der Himmel über den Hügeln und Wiesen des südlichen Vorharzes war mit dicken Wolken verhangen. Und so blieb er auch, bis ein neuer Morgen graute.


Es war nicht ganz einfach, den geheimen Eingang zur wahren Schlafstätte des Kaisers Rotbart im Kyffhäusergebirge zu finden und er befand sich nicht in der Höhle nahe Bad Frankenhausen, durch die täglich Touristenströme zogen, um den in Stein gehauenen Thron des sagenhaften Herrschers zu sehen. Die Besucher wären verwundert gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass sie dem wirklichen Schlafplatz sehr nahe waren. Die echte Barbarossa-Höhle befand sich 30 Meter unter dem steinernen Sitz, war aber nicht mit der darüber liegenden Höhle verbunden. Ein langer, schmaler, dunkler Gang führte dort hinein. Es bedurfte vieler Anläufe, einer soliden weidmännischen Ausbildung und eines guten Auges oder einer gehörigen Portion Glück, wollte ein Mensch das Eingangsloch aufspüren. Knochen und Skelette von Menschen und Tieren säumten den Weg im Eingangsbereich, denn eine Umkehr war nicht möglich. Ein uralter Fluch war dafür verantwortlich, dass man diesen Weg nur in eine Richtung beschreiten konnte. Wer es dennoch versuchte, kam nicht weit und blieb gelähmt im Höhlengang kleben, bis zum bitteren Ende. Das war der Hauptgrund, warum der Kaiser nicht viele Besucher empfangen musste. Eigentlich waren bis heute überhaupt nur die Bauern Müntzers und diese Tschekisten zu ihm vorgedrungen. Bis jetzt.