Czytaj książkę: «Goettle und der Kaiser von Biberach», strona 3

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8

Im VIP-Zelt des 1. FC Oberschwaben herrschte dicke Luft. Eine große Videoleinwand zeigte die Zusammenfassung des Spiels gegen den FC Homburg, das vor knapp einer Stunde abgepfiffen worden war.

»Jetzt guck dir den Fliegafänger a«, entrüstete sich ein älterer Herr über die Leistung des Torwarts Thomas Heimerdinger, der soeben an einer Flanke vorbeisegelte, die vom Homburger Mittelstürmer kompromisslos per Kopf zum 1:2 ins Netz befördert wurde.

Schneider schüttelte den Kopf. »Das ist echt nicht zu begreifen. In einem Spiel zeigt dieser Heimerdinger Weltklasseformat, und heute hätte er nicht einmal gegen die Damenmannschaft von Bad Waldsee eine Chance gehabt«, maulte er, was ihm einen Ellbogencheck von seiner Begleitung einbrachte. Christine war selbst Fußballerin und schätzte es gar nicht, wenn sich Männer abfällig über ihre Sportart äußerten.

»Entschuldigung, aber es ist doch wahr. Schau dir das an.«

Schneider wies auf die Leinwand, auf der die Szene lief, in der Heimerdinger einen Homburger Spieler im Strafraum in einer sehr robusten Art zu Fall brachte. Einer seiner Teamkollegen zeigte ihm den Vogel und wurde daraufhin vom Tormann geohrfeigt. Die Rote Karte war die unweigerliche Folge.

»Der isch doch net ganz sauber. Haut der sei’m oigena Mann oine an dr Grend«, wetterte der ältere Herr.

Ein kollektives Empörungsstöhnen füllte das Zelt, als Präsident Siegfried Röder vor die Kamera trat. Buhrufe und Pfiffe ertönten.

»Natürlich hätten wir das Spiel gern gewonnen, aber Thomas hat heute einen rabenschwarzen Tag erwischt. Dennoch bleibt unbestritten, dass er ein Ausnahmetalent ist. Wir wissen, was wir an ihm haben«, kommentierte der große Mann des 1. FC Oberschwaben die Leistung seines Schützlings.

Wie immer sah er aus, als käme er von einer Gala und befände sich nicht im Stadion eines Viertligisten. Seine grauen Haare hatte er sauber in der Mitte gescheitelt, die dunkelblaue Krawatte setzte eine dezente farbliche Nuance zum hellblauen Hemd, das Sakko saß wie angegossen.

Er ließ sich von dem Reporter, der immer wieder die schwankenden Leistungen des Torhüters ins Gespräch brachte, nicht aus der Ruhe bringen. Lediglich bei der Frage, ob die handgreiflichen Entgleisungen Heimerdingers vereinsintern verfolgt würden, geriet der Präsident in Rage. »Natürlich können wir eine solche Tat nicht dulden. Thomas hat sich bereits bei Harry entschuldigt, aber das kann nicht genügen. Wir werden uns überlegen, welche Konsequenzen das haben wird.«

»Isch des älles, was der zum saga hot? 1:5 verlora, auf oigenem Platz. An Skandal isch des!« Der Alte schleuderte seine Faust in Richtung Videoleinwand und verließ heftig fluchend das Zelt.

Schneider wäre ihm am liebsten gefolgt, doch Christine machte keine Anstalten zu gehen. Sie war eine der glühendsten Verehrerinnen des FC und kostete jede Minute aus, die sie im VIP-Zelt verbringen konnte. Schneider hatte sie mit den Karten überrascht, als sie seinem Drängen, sich mit ihm zu treffen, nachgegeben hatte.

Kennengelernt hatte er die junge Frau beim »Weißen Fest« im »Alten Haus«. Alle Gäste dieser Party waren in Weiß gekleidet gewesen.

Christine war ihm sofort aufgefallen. Ihre dunklen Haare schienen durch die fast blendende Umgebung an Schwärze zu gewinnen, der rot geschminkte Mund strahlte wie ein Leuchtturm-Signal und zog ihn magisch an. Und dann dieses umwerfende Lächeln, das sie ihm mehr als einmal zusandte – er konnte nicht anders, er musste sie anstarren.

Dass er sie angesprochen hatte, war das Resultat einer Wette gewesen: Sein Freund Charlie hatte 50 Euro gesetzt, dass er, Denis Schneider, nicht den Mut besäße, zu ihr zu gehen und Kontakt aufzunehmen. Tatsächlich hatte es noch dreier Anfeuerungsschnäpse bedurft, bis er sich im schwankenden Tänzelschritt auf sie zubewegte und ihr mit »Du tanzt wie eine Feder im Wind« ein äußerst gut getarntes Kompliment ins Ohr lallte.

»Bisch du aus em Lyrik-Seminar ausbrocha?«, hatte sie erwidert, ihn dabei aber aufmunternd angelacht – und da war es um Schneider geschehen gewesen.

Eine bildhübsche Frau mit Humor und Esprit, einem Flirt offensichtlich nicht abgeneigt, die sich anmutig bewegte und die trotz ihres Stylings eine frische Natürlichkeit ausstrahlte, die musste er einfach näher kennenlernen.

Alles wollte er wissen: Wer sie war, wie sie lebte, wo sie wohnte, was sie beruflich machte – und: Wann sie mit ihm ausging.

Sie brüllte ihm gegen das Hämmern der Musik Antworten ins Ohr, nur bei der letzten Frage blieb sie zunächst stumm, zog am Strohhalm ihres Cocktails und sah ihn lange an.

»Gut, i gang mit dir aus«, hatte sie schließlich gesagt. »Zum Fußball. Aber nur, wenn du mi ins VIP-Zelt vom 1. FC einlädsch.«

Schneider hatte sofort zugestimmt. Das VIP-Zelt des 1. FC Oberschwaben strahlte zwar die Romantik einer Hocketse der örtlichen Feuerwehr aus, war jedoch gleichzeitig ein unverfänglicher Ort. Und für Christine gab er gern die 40 Euro aus, die für eine Karte verlangt wurden.

Allerdings hatte sich der Kommissar einen anderen Ausgang des Spiels erhofft. Er hatte sich ausgemalt, dass ihm Christine im Rausche des Torjubels um den Hals fallen würde, dass sie, erregt vom mitreißenden Spiel der Mannschaft, den Sieg auf amouröse Art mit ihm feiern würde.

Bei einem 1:5 gab es jedoch nicht viel zu feiern, die aphrodisierende Wirkung des Ergebnisses entsprach den gewonnenen Punkten, sie war gleich null.

Er sah Christine an, die sich dem Studium der Tabelle in der Stadionzeitschrift »Der Wadenbeißer« gewidmet hatte. Sie erörterte gerade die neue Tabellensituation nach dem misslungenen Heimspiel.

»Des dät no lange zum Aufstieg. Es sen no zwoi Spiel, ond die misset se halt g’winna«, erläuterte sie.

Schneider lachte. »Ja, aber die kann die Mannschaft nur gewinnen, wenn Heimerdinger nicht mitspielen darf.«

Christine funkelte ihn angriffslustig an. Sie hatte ein Faible für den jungen Torhüter und ließ keine schlechte Äußerung über ihn zu.

»I würd sage, dass der Tom der Garant für dr Aufstieg isch.«

Ein junger Mann im FC-Fan-Ornat drehte sich zu ihr um und schnaubte. An seiner Gesichtsfarbe war zu erkennen, dass ihn das Spiel seiner Mannschaft ziemlich mitgenommen hatte, und seiner Ausdünstung nach zu schließen, hatte er den Frust mit reichlich Bier hinuntergespült.

»Wenn’s noch mir gange dät, dürft der Heimerdinger maximal die Linia vom Spielfeld nochzieha. Der taugt doch nix. Beim 0:1 gega d’Kickers Offenbach getunnelt, beim 2:3 gegen Trier lenkt der den Eckball ins oigene Tor. Do könntsch moina, der kriagt von de andere Geld für seine Aussetzer.«

Christines Lippen bebten. Schneider kam nicht umhin, auch diese Geste süß zu finden.

»Ond wer hot beim 2:1 gega Saarbrücka zwoi Elfer g’halta? Überhaupt: Wer hot in de erschde sechs Spiel sein Kaschda sauber g’halta? Der Tom. I sag’s, wie’s isch: Aus dem wird no was. Außerdem kann er ja nix für seine Aussetzer. Des kommt älles von sei’m Unfall.«

Schneider dachte nicht daran, sich in dieses Gespräch einzumischen. Christines Tonlage wurde immer schriller und die Argumente giftiger. Sie kannte sich aus in der Historie des FC, schüttelte Berichte und Analysen aus dem Ärmel ihres Trikots – das sie in einer Größe gekauft hatte, die ihre atemberaubenden Kurven bestens zur Geltung brachte – und nahm dem Kritiker sämtlichen Wind aus den Empörungssegeln. Dass sie sich darüber hinaus mit der Biografie des Torhüters intensiv beschäftigt hatte, stieß Schneider sauer auf. Allerdings eignete sich die tragische Geschichte des Jungen, der seit einem Autounfall, bei dem er seine Eltern verloren hatte, unter demenzartigen Störungen litt, bestens, um jedes Sommerloch in den Gazetten zu füllen. Und die regionalen Blätter kamen auch immer wieder gern auf das Thema zurück und bauten es herzergreifend aus. Trotz seiner Erkrankung und der Trauer um die Eltern hatte sich Thomas Heimerdinger ins Leben zurückgekämpft. Er hatte diszipliniert trainiert und galt nun als Ausnahmetalent der Liga.

Christines Meinung nach gab es ganz andere Kandidaten, die geeigneter waren, um die Spielfeldlinien nachzuziehen. Verteidiger Dragoslav Melic zum Beispiel, der wahrscheinlich alle Schuhsohlen seiner Gegenspieler en Detail beschreiben konnte, da er sie nur von hinten sah.

Oder Mittelstürmer Antonio Puntini, bei dem jeder Jungvogel Flugunterricht nehmen konnte. »Es isch a Wonder, dass der scho fünfmol troffa hot. Aber bloß, weil er dem Ball nemme ausweicha konnt, als er angschossa worda isch.«

Christine redete sich immer mehr in Rage und arbeitete sich ausführlich am Mittelfeld-Ass Maik Riemenschneider ab, der heute durch Effektlosigkeit, um nicht zu sagen, durch seine Bewegungsstarre, aufgefallen und nach einer Stunde vom Platz genommen worden war.

Der junge Mann starrte sie mit offenem Mund an, während sie ihm ihre taktischen Änderungen ausführte, die unweigerlich zum Aufstieg des FC führen würden.

»Ich geh mal kurz für Königstiger«, warf Schneider dem Streithahn und dem Streithuhn zu und trat vor das Zelt.

Die sternenklare Nacht verhieß einen sonnigen nächsten Tag, die Luft war angenehm kühl, der Geruch von Bratwurst und Grillfleisch ließ den nahenden Sommer mit all seinen Biergartenausflügen erahnen. Ein Sommer der Liebe, schoss es Schneider durch den Kopf. Er musste es sich eingestehen, dass Christine ein lang verschollen geglaubtes Gefühl in ihm auslöste. Er war verliebt. Aber empfand sie auch etwas für ihn? So wie das Treffen verlaufen war, deutete nicht viel darauf hin. Er hätte Fußballer werden sollen, das hätte seine Chancen bei ihr eindeutig erhöht.

Die Reihe mit den Dixi-Toiletten befand sich am Ende des VIP-Parkplatzes. Etwa 50 Meter davon entfernt standen zwei dunkle Gestalten, die heftig aufeinander einredeten. Der Ältere versuchte, dem anderen eine Hand auf die Schulter zu legen, doch der stieß sie zurück.

Schneider schlich sich im Schutz der parkenden Fahrzeuge näher an die beiden heran, schließlich erkannte er die Männer.

»I kann nemme!«, brüllte Thomas Heimerdinger den Präsidenten Siegfried Röder an und heulte auf. Es klang wie der Klagelaut eines verletzten Tieres.

Röder sprach beschwichtigend auf ihn ein.

Schneider konnte nicht verstehen, was er sagte. Er versuchte, die Entfernung zu dem Spieler und dem Funktionär zu verringern.

»Zwei Spiele, es sind nur noch zwei Spiele«, raunte Röder. »Die wirst du noch durchhalten.«

Er packte den jungen Torhüter an den Schultern und schüttelte ihn. Aus Thomas Heimerdinger war jede Körperspannung gewichen, kraftlos hingen seine Arme an der Seite herab, den Kopf hatte er auf die Brust gesenkt.

»I kann aber nemme«, schluchzte er. »Die Fans, der Trainer, die andere, die hasset mi älle. I halt des nemme aus.«

Heimerdinger wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.

Schneider wollte sich aufrichten, stieß mit der Stirn an den Außenspiegel eines parkenden Fahrzeugs, was einen dumpfen Laut verursachte.

Der Präsident und der Torhüter fuhren erschrocken herum und entdeckten den Kommissar. Der rettete die Situation, indem er sich suchend umsah.

»Können Sie mir sagen, wo die Toiletten sind?«, fragte er. Er versuchte, nicht wie ein beim Lauschen Ertappter zu klingen.

»Dahinten«, raunte Röder und wies in Richtung der blauen Dixi-Häuschen. Er wandte sich ab, legte dem unglücklichen Heimerdinger den Arm über die Schulter und führte ihn mit sich.

»Danke. Schönen Abend noch!«, rief Kommissar Schneider hinterher. Er erhielt keine Antwort.

Schneider sah den beiden nach, bis sie von der Dunkelheit geschluckt wurden. Der Motor eines Wagens wurde gestartet, zwei Lichtpunkte leuchteten kurz auf, drehten dann ab.

»Würde mich wirklich interessieren, was den Heimerdinger so mitgenommen hat«, murmelte der Kommissar.

Diese Frage sollte ihn die ganze Nacht beschäftigen.

Und natürlich das Rätsel, wieso Christine ohne ihn nach Hause gegangen war.

9

An der Tür läutete jemand Sturm und ließ ein energisches Klopfen folgen.

Greta Gerber schreckte aus dem Tiefschlaf und sah auf die elektronische Anzeige ihres Digitalweckers.

5.15 Uhr.

Wer sich erdreistete, sie so rabiat um diese Zeit zu wecken, der konnte sich warm anziehen. Es sei denn, er hatte einen guten Grund dafür.

»Frau Gerber, sen Sie drhoim?«, polterte eine laute Männerstimme vor der Tür. Es dauerte nur wenige Zehntelsekunden, dann wusste Greta, wem sie gehörte. Sie warf sich ihren Morgenmantel über, schlurfte zur Tür und öffnete. Das Licht im Flur blendete, sie blinzelte dagegen an.

»Herr Pfarrer. Hab ich eine Chorprobe verpasst?«

Andreas Goettle hatte rote Flecken im Gesicht und schien sehr aufgeregt zu sein. Er schob sich an der Hauptkommissarin vorbei in den Flur ihrer Wohnung und wedelte mit einer Ausgabe des »Schwäbischen Tagblatts«.

»Wollen Sie nicht reinkommen?«, schickte Greta ihm hinterher und schlich ihm gähnend nach.

»Den Typa, den ihr am Badesee g’fonda hen, den kenn i«, purzelte es aus Pfarrer Goettle heraus, während er mit der flachen Hand auf die Zeitung schlug. Greta versuchte, zwischen dem Gesagten und der Geste einen Zusammenhang herzustellen. Nur langsam dämmerte es ihr, dass in der Morgenausgabe das rekonstruierte Foto des Toten erschienen war.

»I hab a bissle braucht. Den Bart hot der früher net ghet ond seine Hoor waret au andersch. Überhaupt isch der schlanker g’worda. Aber die Narbe onder ’m Aug, die hat dahanna rum bloß oiner.«

»Dahanna rum«, murmelte Greta und dehnte dabei die Vokale, dass es wie »Daa-Haa-Naa-Ruuum« klang. »Tut mir leid, Herr Pfarrer, ich fürchte, meine Synapse, die für die Schwäbisch-Deutsch-Übersetzungen zuständig ist, schläft noch. Was bedeutet Daaa-Haaa-Naaa-Ruuum?«

Der Geistliche hob beide Arme gegen den Himmel und verdrehte die Augen: »So lasset uns nicht schlafen wie die andern, sondern lasset uns wachen und nüchtern sein. Erster Thessalonicher, Kapitel fünf, Vers sechs.«

Greta sah ihn verdutzt an und entlockte Pfarrer Goettle ein schelmisches Grinsen. »Isch ja au egal jetzt. Also auf Hochdeutsch: Der Tote besitzt eine Narbe, die hier in der Gegend nur einer hat. Die hot er sich anscheinend beim Rombuabla, also bei einer Rauferei mit dem Hirlesberger Hannes eig’fanga, hot mir mei Vorgänger verzählt. Mitten in der Heiliga Kommunion hen die ag’fanga, mit ihre Kerza zum fechta. Ond wie die Jonga halt so sen: Der Hannes knallt dem Karlheinz des Deng auf dr Riassel nuff, des hot blutet wie net ganz ganz g’scheit. Mit fümf Stich hat mr die Wunde näha müssa.«

Goettle machte eine kurze Pause, um seine Worte auf die im Halbschlaf vor sich hindämmernde Hauptkommissarin wirken zu lassen.

»Okay, und wie heißt unser Narbengesicht?«

»Karlheinz Kaiser hoißt der. Beziehungsweise hot der g’hoißa, da er ja nemme onder ons weilt. Der war a ganz großes Tier bei der EVB.«

Nach und nach erreichte Greta die Bedeutung dieser Information. Sie riss die Schublade des Sekretärs auf, suchte hektisch nach einem Blatt Papier und einem Stift. Sie probierte einen Kugelschreiber aus, der natürlich nicht funktionierte.

»EVB?«, fragte sie, während sie ihre Handtasche auf dem Wohnzimmertisch durchwühlte und einen Kajalstift hervorzog. Sie sah ihn abschätzend an. Besser als nichts.

»Energieversorgung Biberach. Von denne bekommt halb Oberschwaben Strom. Die Windräder hen Se bestimmt scho g’seha: furchtbar. Ond dem Kaiser hem mr’s au zum verdanka, dass es den FVB nemme gibt.«

»FVB?«

»Den Fußballverein Biberach. Mit sei’m Geld hat er dafür g’sorgt, dass der FV und Olympia zum 1. FC g’worda sen.«

Greta besah sich die Buchstaben, die in bröckeliger Kajalschrift auf dem Papier standen, und verstand rein gar nichts.

»Jetzt mal langsam zum Mitmeißeln. Wofür hat er gesorgt?«

Pfarrer Goettle stöhnte und winkte ab. »Des war klar, dass Sie als Badenerin nix vom Fußball verstandet.«

»Moment mal …«, hob Greta an und wollte gerade ihre Kenntnisse über den SC Freiburg und den Karlsruher SC anbringen. Sie war auch schon mal im Dreisam­stadion gewesen, als Volker Finke noch Trainer war, und was eine Abseitsfalle war, wusste sie auch.

Goettle legte ihr eine Hand auf den Arm, bevor sie ihr Fachwissen anbringen konnte, und begann, ausführlich die Zusammenhänge zwischen den einstigen und dem jetzigen Fußballverein zu erklären.

»Okay, jetzt hab ich es. Zwei Fußballvereine gingen in einem auf, um die Kräfte zu bündeln. Und Kaiser hat durch das Sponsoring der EVB und durch das Engagement bei der Sponsorengewinnung die Entwicklung des 1. FC Oberschwaben vorangetrieben.«

Greta besah die Aufzeichnungen. Aus den Kürzeln der Vereine hatte sich eine simple Formel entwickelt. FV + Olympia = 1. FC.

Nur: Warum musste Kaiser sterben? Wer brachte einen Menschen um, der einem Verein dabei half, professionelle Strukturen anzunehmen?

Goettle hatte die Hände vor dem Bauch gefaltet und schien darauf zu warten, dass sie ihren Gedanken zu Ende dachte.

»Mr munkelt übrigens, dass es auch ein privates Sponsoring war, das er in dr Verei eibrocht hot. Damit hot der sich in die Vereinsspitze eikauft und natürlich wichtige Leute kenneng’lernt«, sagte er nach einer Weile.

»Wie Privatsponsoring? Woher hatte er denn so viel Geld?«

»Des woiß mr net so genau. Des müsst mr vielleicht rausfinda. A propos rausfinda. Gibt’s eigentlich a Belohnung für mein Hinweis? I frog net für mi. Aber des Kinderhaus Sonnenschein braucht obedengt a neue Schaukel. Die alt isch so mend. Net, dass no oins rahaglet.«

Greta verzog das Gesicht und tippte sich an die Stirn. »Herr Pfarrer, meine Übersetzungssynapse …«

Goettle lachte und wiederholte sein Anliegen. »Die alte Schaukel des Kinderhauses Sonnenschein ist nicht sehr sicher, daher muss sie ersetzt werden … um zu verhindern, dass ein Kind herunterfällt und womöglich physischen Schaden nimmt.«

Greta Gerber machte sich erneut eine Kajalnotiz.

»Ich werde es weiterleiten. Aber nochmals zurück zu diesem Kaiser. Meinen Sie, dass er sich durch sein Engagement beim 1. FC Oberschwaben Feinde gemacht hat?«

Goettle rückte ein wenig näher an die Tischplatte heran.

»Net bloß oin. Die Fans und die eingeschworene Mitglieder vom FV und Olympia waret net begeistert, dass es ihre Clubs nemme gibt. Aber durch den Zusamma­schluss isch halt ein Verein entstanda, der es vielleicht irgendwann in die Bundesliga schafft. Da gab’s au viele Neider. Aber in letzter Zeit hat des den Kaiser nemme g’juckt«, flüsterte er.

»Wieso denn nicht?«

»Weil er scho seit drei Johr he isch.«

Der Pfarrer machte eine dramatische Pause, die Greta nutzte, um die Lücken zu füllen, die das Oberschwäbisch des Pfarrers hinterlassen hatte.

»He?«

»Tot. Karlheinz Kaiser isch scho seit drei Johr tot. Umkomma bei einem Segelunfall in der Ägäis. Hot’s g’hoißa. Komisch, oder?«

»Sehr komisch«, brummte die Hauptkommissarin. »Ein Toter, der plötzlich wieder auftaucht, um ermordet zu werden. Welchen Sinn ergibt das?«

»I kann den Frieder froga, der war früher Chefredakteur beim ›Schwäbischa Tagblatt‹«, schlug Pfarrer Goettle vor.

Er war aufgestanden, hatte auf dem halben Weg zur Tür noch einmal Halt gemacht und sich umgedreht. »Der Frieder hot sich sehr intensiv mit dem 1. FC Oberschwaben befasst. Da soll net älles mit rechte Dinge zuganga sei. Vielleicht woiß der ebbes, was ons weiterbringt. I meld mi wieder. Ond vergesset Se die Schaukel net. Grüß Gott.«

Goettle schob sich aus der Tür und verschwand. Greta hörte, wie er auf dem Gang sein Vorgehen mit sich selbst besprach. War vielleicht gar nicht schlecht, göttlichen Beistand bei diesem Fall zu haben, dachte sie. Oder besser: den Goettle’schen.

10

»Die hasset mi! Die hasset mi! Die hasset mi!«

Wie ein Unglücksmantra spuckte Thomas Heimerdinger diese drei Worte immer wieder aus. Schemenhafte Bilder wirbelten in seinem Kopf herum. Die scheußlichen Grimassen der Fans nach dem Spiel, die geschwungenen Fäuste. In seinen Ohren dröhnten noch die Verwünschungen der Zuschauer, die Schmährufe, die seinen Ausschluss aus der Mannschaft forderten. Er zog sein Kissen über den Kopf, als könnte er die Schreie und die Bilder dadurch verdrängen. Aber er konnte diese Eindrücke nicht ausblenden, auch nicht die Szenen aus der Umkleidekabine, die Rempeleien der Mannschaftskameraden, die hasserfüllten Blicke, die abweisenden Gesten des Trainers.

»Die hasset mi! Die hasset mi! Die hasset mi!«

Im Rhythmus der Worte schlug Thomas seinen Kopf gegen die Wand. Er spürte den Schmerz und war erleichtert. Erlösende Pein.

Immer heftiger stieß er die Stirn nach vorn, Blut rann ihm aus einer geplatzten Braue über die Wange, tropfte auf das Kissen, färbte das Weiß des Überzugs, breitete sich aus wie Wein aus einem umgestürzten Glas.

Das Pochen nahm zu, löste die Schreckensbilder ab, die sich aufbäumten und dennoch zerfielen. In viele kleine Mosaikstückchen, die so gar nicht zusammenpassen wollten. Thomas lachte. Stieß immer wieder zu und lachte.

Bis eine Hand ihn am Schopf zog und ihn festhielt.

Thomas blickte in die entsetzten Augen seines Großvaters, der ihn kräftig an sich presste. »Ruhig, Bua, ganz ruhig.«

»Die hasset mi, Opa. Älle hasset mi«, keuchte Thomas Heimerdinger.

»Des isch doch gar net wohr«, erwiderte Walter Heimerdinger, wiegte seinen Enkel und summte dabei eine kleine Melodie: Der Mond ist aufgegangen.

Thomas begann zu weinen. Das Lied hatte ihm seine Mutter vorgesungen, als er noch klein war. Als er noch eine Familie gehabt hatte. Als das Unfassbare noch in weiter Ferne lag. In einem Leben ohne den Nebel.

Und aus den Wiesen steiget

der weiße Nebel wunderbar.

»Mama«, schluchzte Thomas.

»I woiß, Bua. I woiß. Sie fehlt mir doch au.«

Sein Großvater drückte ihn noch fester an sich. Sein Enkel sollte nicht sehen, dass auch er mit den Tränen kämpfte.

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