Tote Biber schlafen nicht

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Bäckerball – Todesball

Fett und Schmelzer fuhren zum Eurogress. Die Aschenbecher vor dem Kongressgebäude waren noch voller Kippen. Das Casino nebenan schon lange geschlossen. Eine Sternstunde der Stadtentwicklung. Irgendwann sollte sogar ein Nachbau der Sixtinischen Kapelle da rein. Stand in der Zeitung und war kein Aprilscherz. Johannes Beaucamp, der Hausmeister, öffnete. Ferdi Scholl, Technikbeauftragter, kam aus Richtung Europasaal auf sie zu. Er trug einen grauen Kittel wie sein Kollege Hausmeister.

»Tag, die Herren. Sie kommen wegen des Bäckerballs?«

»Fett, Schmelzer. Kripo Aachen. Haben Sie Kameras installiert?«

»Kameras? Ja, aber nur hintenrum. Für die Zufahrt. Ist ja stockdunkel. Wir hatten Einbruchsversuche.«

»Nicht hier vorne oder im Eingangsbereich zu den Sälen?«

»Datenschutz! Da macht uns die Politik im Betriebsausschuss die Hölle heiß. Soll keiner sehen, wer hier feiert.«

»Und alle Gäste kommen hier rein und gehen hier raus?«

»Gäste ja. Künstler hinten.«

»Das war es.«

»Na dann. Heute Abend ist wieder Bäckerball. Wenn Sie noch nichts vorhaben. Sind noch wenige Karten frei.«

»Wir melden uns. Mein Kollege steht mehr auf veganen und alternativen Karneval.«

Schmelzer schaute überrascht. Wusste er von sich gar nicht.

Schneeregen setzte ein. Der Himmel zeigte sich geschlossen grau. Ein kalter Wind fegte durch Aachen. Sie fuhren den kurzen Weg zum Polizeipräsidium, ohne ein Wort zu wechseln. Den Samstag hatten sie sich anders vorgestellt. Schmelzer wollte mit Sohn und Frau einkaufen. Fett hatte sich auf ausgedehnte Zeitungslektüre und ein zweites Frühstück im »Café zum Mohren« gefreut. Jetzt hockten sie vor einer Filterkaffeemaschine im Büro und trugen die Fakten zusammen.

»Keine Spuren in Vogelsang. Niemand hat etwas mitbekommen. Keine Kamerabilder. Wir prüfen alle Radaranlagen auf dem Weg von Aachen nach Vogelsang. In Roetgen blitzt es an allen Ecken. Frühschwimmer haben nichts gesehen. Irgendwann nach 23 Uhr ist Brauers vom Bäckerball verschwunden. Ob alleine oder in Begleitung, wissen wir nicht. Wir checken alle vom Promitisch. Kümmern Sie sich drum, Schmelzer. Rufen Sie den Bäckerballpräsidenten an oder wen auch immer. Wir müssen wissen, mit wem Brauers am Tisch saß. Wer hat ihn zuletzt gesehen? Da gibt es auch Kellner, die für die Tische zuständig sind. Auch die müssen wir überprüfen. Ich brauch jetzt ’nen Kaffee.«

»Ich auch.«

Schmelzer telefonierte und trug langsam die Sitzordnung am Prominententisch zusammen. So verging sein Samstagnachmittag. Sechs Personen saßen am Promitisch beim Bäckerball am Freitagabend. Vom Vorstand der Sparkasse Aachen das Ehepaar Rosenstern, aus dem Festkomitee des Bäckerballs der stellvertretende Vorsitzende und Erfinder der Rundprinte, Bäckermeister Ludwig Krützen, die Vorsitzende des Sozialwerks christliche Nächstenliebe, Frau Dr. Roswitha Sänger-Hagelschlag, der Geschäftsführer von Aachen Aix-Port-Import, Herbert Johnen, und eben Dr. Brauers selig.

Schmelzer zeichnete die Sitzordnung nach. Der überaus hilfsbereite Geschäftsführer des Vereins Bäckerball e.V. konnte die Platzierung rekonstruieren. Nun galt es, Verbindungen zu checken und die Tischnachbarn zu befragen.

Export/Import

Für Herbert Johnen, den alten Junggesellen, standen Export und Import im Mittelpunkt des Lebens, seit er von seinem Vater einen kleinen Kolonialwarenladen geerbt hatte. Er wohnte irgendwo im Südviertel. Nach 20 Minuten traf er mit seinem alten Daimler am Präsidium ein. Johnen schob seine Wampe ungefähr einen halben Meter vor seinem Kopf auf Fett zu. Ganz merkwürdige Gestalt, dachte Fett. Blaues Sakko, goldene Knöpfe, altes Einstecktuch, Schuppen auf den Schultern.

»Tag, die Herren, was ist denn los?«

»Herr Johnen, danke, dass Sie direkt kommen konnten. Am Tag nach dem Bäckerball.«

»Sie sagten etwas von Brauers und Unfall. Also bitte.«

»Letal. Ja, ein Todesfall. Sie haben ihn zuletzt gesehen.«

»Todesfall, zuletzt gesehen? Meine Herren, bin ich schon angeklagt? Habe ich ihn in die Pau gestoßen?« Er lachte trocken, leicht kränklich, alter, abgestandener Atem.

»Sie können uns vielleicht sehr helfen, Herr Johnen. Wann haben Sie Dr. Brauers zuletzt gesehen?«

»Tee hab ich gestern nicht getrunken. Um Mitternacht oder so. Kurz vor Programmschluss. Ja, genau. Ich erinnere mich. Er sagte, dass er mal an die frische Luft müsse. Konnte ich gut verstehen. Wissen Sie, die Luft, ja die Luft. Die ist immer so schlecht. Alle schwitzen. Dann die Musik. Also ich konnte das gut verstehen.«

»Und dann?«

»Was und dann? Dann ist er nicht mehr gekommen.«

»Haben Sie sich nicht gewundert?«

»Nein, nein, es ging dem Ende zu. Man konnte kaum ein Wort wechseln. Und Brauers, der war eh eigen. Also er ging und kam. Das war so seine Art. Was ist denn überhaupt passiert?«

»Brauers hing heute Morgen an einer Brücke in der Eifel.«

»An einer Brücke in der Eifel! Mit so etwas scherzt man nicht.« Die Neugier konnte er kaum zügeln. Er stand auf und kam so nah an Fett heran, dass die Intimzone Alarmsignale abgab. Viel zu nahe stand er vor Fett. Leicht feuchte Lippen. Dreckige Brillengläser. Eine Landschaft von Schuppen auf den Schultern.

»Selbstmord? Mord?«

»Wir untersuchen noch. Danke. Sie können gehen. Wenn wir noch Fragen haben, dann melden wir uns.«

Die Gespräche mit den anderen Tischnachbarn waren ähnlich ergiebig. Irgendwann war Dr. Brauers verschwunden. Herr Rosenstern glaubte, Brauers habe eine Nachricht auf dem Handy erhalten, danach sei er aufgebrochen. Keiner der anderen hatte etwas mitbekommen.

Von Bibern und Erbsensuppe

Der Samstag endete ergebnislos. Ein Unternehmerleben hatte in der Nacht oder am frühen Morgen sein Ende gefunden. Fett traf spät in seiner Wohnung am Templergraben ein. Der Kühlschrank starrte ihn an: leer. Keine Einkäufe, keine Vorräte. Doch. In der Abstellkammer: Hering in Tomatensoße, Pumpernickel, eine Flasche Cola light. Irgendwo musste noch eine stille Reserve von seinem Lieblingssport liegen: Ritter Sport. Vollmilch oder Marzipan. Er war sich nicht sicher. Mittlerweile besaß er sogar dank der Hilfe von Schmelzer Streamdienste, wie er sie nannte. Netflix und Amazon Prime. Hatte ihm Schmelzer zu geraten. Der verbrachte das Wochenende mit seiner Familie. Fett überlegte, wen er anrufen könnte. Junggeselle am Wochenende sucht Anschluss. Iska wieder im Dienst. Im Kino kein Film, der ihn interessierte. Er ging zum Buchregal. Die letzten Empfehlungen der Buchhändlerinnen. Zuerst Ritter Sport. Dann kam Martenstein, dann doch ein Film: »Blue Steel« von Kathryn Bigelow auf Netflix. Die Reihenfolge stand. Er schlief nach Ritter Sport ein.

Fett träumte. Er träumte von der Beerdigung seiner Mutter, von den Verwandten, die stets Blumen auf das Grab legten, die schauten, ob er eine Kerze auf das Grab gestellt hatte. Dann war er im Hallenbad. In Düren. Im alten Hallenbad an der Bismarckstraße. Die Uhr lief. Nur eine Stunde schwimmen. Die Bademeister achteten auf die Farbe der Bändchen. Keine Strafe riskieren. Schnell unter die Dusche. Das Fahrrad war platt. Immer wurden die Fahrräder demoliert. Immer am Hallenbad an der Bismarckstraße. Sein Vater zog die Runden. Drei Löcher im Rücken. Vom Krieg. Drei Trichter oben auf der Schulter. Er lachte trotzdem. Er hatte Fett das Schwimmen beigebracht. Mit den Löchern im Rücken. Im Hallenbad an der Bismarckstraße. Dann war wieder die Beerdigung der Mutter. Alle waren in Schwarz gekleidet. Der Wind rauschte über den Dürener Friedhof. Äste brachen ab. Das Kreuz schwankte in den Händen des Messdieners. Vorne die kleine Urne. Das Grab. Die Lichter. Das große Kreuz für die Opfer des Bombenangriffs. Die Gräber der Patriarchen. Der hinkende Fahrradwächter in der Josef-Schregel-Straße. Dort, wo einst ein jüdischer Friedhof war. Der Birnbaum. Fett saß auf dem alten Birnbaum und pflückte Birnen. Er saß auf der Planke, die vom Bau des Hauses übrig geblieben war, in drei Metern Höhe. Er sprang von Ast zu Ast. Einen Eimer in der Hand. Die besten Birnen im Viertel. Seine Mutter kochte sie ein. Fett verkaufte den Eimer Birnen für eine Mark an der Eisenbahnbrücke, da konnten die Autos halten. Der Wecker klingelte, bevor er vom Birnbaum herunterfallen konnte.

Nach dem Lauf über den Lousberg telefonierte Fett am Sonntagmorgen mit Iska. Sie war nicht in Bonn. Immer noch Einsatzbereitschaft nahe Hambach. Der Forst kam nicht zur Ruhe. Die neue Landesregierung verschärfte den Kurs und verhängte Urlaubssperren.

Frustriert fuhr Fett am Vormittag über Heimbach und Mariawald nach Vogelsang. Der Himmel war blau und wolkenlos, die Straßen nicht gefroren. Er wollte sich ein eigenes Bild von der ehemaligen Ordensburg machen. Heimbach, die kleine Stadt unterhalb der Rurtalsperre, hatte er als Kind oft besucht. Ein Tagesausflug mit den Eltern, ein Stück Kuchen, Kakao für den Sohn, Kännchen Kaffee für die Erwachsenen. Die Zeit schien stehen geblieben. Allein die Kunstakademie in der Burg war neu. Er brummte mit seinem alten Alfa Romeo nach Mariawald. Zum Glück hatte Luigi gute Winterreifen besorgt. Er schnurrte die Serpentinen hoch. Im Sommer bei Motorradfahrern aus ganz Nordrhein-Westfalen, den Niederlanden und Belgien beliebt. Der Parkplatz war fast leer. Fett ging die Stufen zur »Klosterstube« hinunter zur Essensausgabe.

»Mit oder ohne?«

»Suppe?«

»Nein, Bockwurst.«

»Mit, bitte.«

»Sechs Euro.«

»Ah, ja.«

»Guten Appetit.«

Die Stimmung war getrübt. Gerüchte machten bereits in den Zeitungen die Runde, dass Mariawald vom Papst, vom Vatikan, vom Bischof und allen himmlischen Heerscharen aufgegeben worden sei. Schließung und Verkauf stünden bevor. So hatte Fett es dem Regionalteil der Tageszeitung entnommen. Ein Investor stünde bereit: Dr. Brauers. Auch hier hatte er sofort mitgeboten oder ein Angebot abgegeben, dem die kirchlichen Behörden nicht widerstehen konnten. Pecunia non olet. Geld stinkt nicht. Die Suppe roch gut. Die Wurst stammte aus einer Metzgerei in Heimbach. Die Dreifaltigkeit in Form von Salz- und Pfefferstreuer mit einer Flasche Maggi stand in liebevoll geschnitzten Holzbehältnissen auf jedem Tisch. Fett verschlang die Suppe. Suppen mochte er. Seine Mutter war eine begnadete Suppenköchin gewesen: Bohnensuppe, Linsensuppe, Erbsensuppe, Graupensuppe. Alles selbst gemacht. Samstags gab es oft Erbsensuppe mit Bockwurst und danach noch Pfannkuchen. Manchmal mit Äpfeln, Kirschen oder Pflaumen. Das waren seine schönsten Samstagsgerichte. Sein Vater lobte die Kochkunst, auch wenn er Suppen als 17-jähriger Wehrmachtssoldat tagein, tagaus in sein Kochgeschirr bekam. Bis am 24. Dezember 1944 kurz vor Budapest die Garbe einer Kalaschnikow seinen Rücken durchlöcherte. Das Kochgeschirr war schrott. Er wurde von Sanitätern gerade noch gerettet und durfte zur Belohnung an den Kämpfen um Prag teilnehmen. Erbsensuppe. Ja, auch die Suppe bei der Bundeswehr war gut. »Blaue Donau«, so hieß das Manöver. Fett lag als Gefreiter irgendwo in den Wäldern von Unterfranken oder Oberfranken und wartete auf die Essensträger. Familien stolperten in die »Klosterstube«. Alle nahmen Suppe. Kurzes Gespräch mit der Kassiererin. Immer drehte es sich um den Verkauf von Mariawald. Leise hörte er das Murmeln der Stimmen über den Suppenterrinen. Mariawald war mehr als ein Kloster. Mariawald war für viele der erste Ausflug in der Zeit des Wirtschaftswunders, Besinnung, Einkehr, Blick in die Eifel und eben Erbsensuppe. Mariawald war die kongeniale Mischung aus Trost, Weihrauch, bürgerlicher Ernährung, Ablass, kurzem Ausflug in die Natur und frischer Luft. Mariawald war für viele Urlaub. Ein Moment der Einkehr und Abkehr vom Alltag in ihrer Heimat.

 

Fett stellte das Geschirr in den Rollwagen und warf einen Blick in den Klostershop. Gut sortierte Buchhandlung. Bücher über Papst Franziskus, Papst Benedikt, den lieben Gott und katholische Eheführung. Daneben Weihwasserbecken und Kerzen, Rosenkränze und Wanderkarten, Klosterlikör und Erbsensuppe in Dosen. Der deutsche Soldatenfriedhof am Ende des Parkplatzes wurde kaum beachtet. Von Herbst 1944 bis Frühjahr 1945 befand sich in Mariawald ein Hauptverbandsplatz. Gefallene und ihren Verwundungen erlegene Soldaten wurden an dem Hang oberhalb des Klosters von der Ordensgemeinschaft beigesetzt. 414 Gräber. Sie wurden oft übersehen. Fett las die Tafeln mit den Erklärungen. Dann startete er seinen Alfa und fuhr über Gemünd nach Vogelsang. Mit den Klängen von »Adagio for Strings« im Ohr erreichte er den Parkplatz vor dem belgischen Truppenkino.

Das Besucherzentrum war gut gefüllt. Alle Kassen besetzt. Links die Ausstellung über die Ordensburg, rechts über den Nationalpark. Fett wusste nicht genau, was er hier eigentlich suchte. Warum die Victor-Neels-Brücke? Warum nicht irgendeine andere Brücke an der Urft, der Rur, dem Wehebach, der Inde? Mit einem Kaffee aus dem Selbstbedienungsrestaurant suchte er einen Platz mit Weitsicht. Am Ende des großzügigen Raumes fand er einen Fensterplatz und schaute auf die Urfttalsperre, die geheimnisvoll unter ihm lag. In der Ferne war die Talsperre zu sehen. Windräder zierten die Höhen. Wolken jagten einander aus Westen kommend in Richtung Köln-Aachener Bucht. Die Erbsensuppe arbeitete. Ein Ranger führte eine Besuchergruppe an die Fenster. Er erklärte die Geschichte der Urfttalsperre, die Sprengung des Kermeterstollens durch die Wehrmacht Anfang 1945, die zu einer Überschwemmung der Rur führte und den Vormarsch der Alliierten kurz verzögerte. Dann folgten die betagten Männer und Frauen dem guten Mann in die Natur. Fett blieb alleine zurück. Zögernd wanderte er schließlich hinunter zur Brücke. Die Treppen über den Sportplatz und vorbei am Schwimmbad waren gesperrt. Rutschgefahr. Das Gefälle war enorm. Heute schien die Sonne ein wenig.

Er stolperte die Stufen zu den Hundertschaftshäusern hinunter. Salz war nur spärlich gestreut. Links sah er die Kirchturmspitze von Wollseifen. Halb rechts die Urfttalsperre. Wollseifen. Er nahm sich vor, bis Wollseifen zu gehen. Im Gehen wandern die Gedanken. Er machte kurz halt am Hinweisschild für den Nationalpark. Über Schneereste wanderte er los. Der kleine Bach rauschte ins Tal. Anstieg nach Wollseifen. Der Weg war steiler als gedacht. Das jahrelange Radfahren hatte Fetts Kondition gestärkt. Ruhig machte er Schritt für Schritt. Rechts standen Schilder. Betreten verboten! Immer schön auf dem Weg bleiben. Der Weg machte eine leichte Biegung. Fett hielt auf das Trafohäuschen zu. Er las die Erklärung, den Hinweis, dass die Wollseifener Strom für Teufelszeug hielten. Weiter. Links die Schule, vom Landschaftsverband Rheinland restauriert. Rechts die Kirche. Kalt, grau. Dann die Rohbauten. Zugemauert. Trainingsgebiet für SEK und Militär. Häuserkampf. Geiselbefreiung. Zuletzt für den Kosovoeinsatz. Die Sonne schien aus dem Westen auf Wollseifen, die Wüstung. Auch eine Heimatgeschichte, eine Geschichte von Heimatverlust. Und Luftlinie von hier in rund vier Kilometern Abstand hing Brauers gestern Morgen. Wanderer grüßten ihn. Niederländer. Fett hatte sich an das »Hallo« oder »He« gewöhnt. Mehr Niederländer als Deutsche begegneten ihm in Wollseifen. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten, da entschied sich Fett für eine Wanderung in Richtung Urfttalsperre und von dort aus zurück zur Ordensburg. Das feste Schuhwerk und die Funktionskleidung verleiteten ihn dazu. Außerdem kamen ihm beim Wandern stets neue Gedanken. So schritt er aus. Es ging bergab, dann in den Wald hinein. Links und rechts immer wieder Schilder, die das Weitergehen untersagten. Munitionsreste vom Truppenübungsplatz. Überall. Er erreichte das Ausflugslokal »Urfttalsperre« kurz vor der Schließung. Ernst Heiliger, der Wirt, grüßte ihn freundlich und empfahl ein paar Wiener, die habe er für verspätete Wanderer immer noch zur Hand.

»Gerne«, sagte Fett, suchte einen Fensterplatz und staunte über die Dimensionen der Talsperre, vom Aachener Professor Otto Intze zu Beginn des 20. Jahrhunderts als größte Talsperre Europas gebaut.

»Wie läuft es?«, fragte er den Wirt, als die Wiener vor ihm lagen.

»Wird schon. Rureifeltourismus zieht die Nachbarn aus den Niederlanden an. Merke ich hier«, sagte Ernst Heiliger und nahm am Nachbartisch Platz. »Wenn alles da unten in Heimbach mit der Feriensiedlung klappt, dazu noch Vogelsang, dann können die bald ein Traumschiff in Einruhr vom Stapel lassen.« Er lachte und fragte, ob es denn schmecke.

»Prima Wurst. Hört sich gut an. Aufschwung für die Region.«

»Ja, können wir gebrauchen. Mein Opa fuhr noch mit Pferdefuhrwerk nach Simmerath. Die Böden sind karg und Waldwirtschaft ist teuer. Dazu noch die Biber.«

»Biber?«

»Schauen Sie mal genau hin. Direkt am Ufer. Die Biber putzen die Bäume weg, als ob es Grashalme wären. Schon blöd für die Rurseeschifffahrt. Dauernd dümpeln Baumstämme im Obersee und in der Rurtalsperre. Naturschutz. Tierschutz. Jedenfalls kracht es hier nachts ordentlich. Manchmal muss ich hier oben übernachten. Dann höre ich, wie die Bäume ins Wasser plumpsen. Ich hab nichts gegen die Biber. Aber das, na, wie heißt es noch, dieses ökomenische, ach, ökologische Gleichgewicht ist futschikato.«

»Tja«, sagte Fett, »dann lassen Sie sich mal zum Biberberater ausbilden. Nebenerwerb.«

Heiliger lachte herzhaft. »So weit kommt es noch. Sollen sich Ranger drum kümmern. Ich mach jetzt Schluss. Noch einen Kaffee?«

Fett verneinte dankend, zahlte und wünschte dem Pächter eine gute Woche. Dann schritt er zügig aus. Die Dunkelheit schlich zusammen mit einer nasskalten Feuchte heran. Auf den ersten Kilometern war es noch hell genug. Da sah er die angenagten Bäume. Manche 50 Zentimeter im Durchmesser. Sie lagen wie schlafend im Wasser, andere waren verschwunden, verbaut in einer Biberburg. An einer Stelle hatten sie ganze Arbeit geleistet. Als ob eine Motorsäge oder jemand mit einer riesigen Sense die jungen Bäume gefällt hätte.

Er erreichte die Victor-Neels-Brücke und war froh, dass es noch nicht vollständig dunkel war. Alle Spuren am Tatort waren beseitigt. Reste von Kreidemarkierungen am Edelstahlgeländer der Brücke zeigten ihm, wo Brauers gehangen hatte. Ein kalter Hauch wehte Fett auf der Brücke an. Die dunkle Urft, die Ruhe und der Adlerturm, das Auge des Führers, dies alles ließ ihn frösteln. Der Tod von Brauers an diesem Ort barg ein besonderes Geheimnis. Da war er sich sicher. Die Sonne stand bereits sehr tief. In einer Stunde würde es stockdunkel sein. Schneereste knirschten unter seinen festen Schuhen. Die Dockermütze zog er tief über die Ohren und erreichte nach 30 Minuten den Parkplatz hinter der Hauptwache mit der Aufschrift »Malakoff«. Der Alfa sprang an. Mit »Ashes to Ashes« von David Bowie fuhr Fett zurück nach Aachen.

Der tote Professor

In Krakau wartete Prof. Zamek Ende Januar sehr lange auf Prof. Haberstock. Die Speisekarte im Traditionsrestaurant kannte er bestens. Pilzsuppe in Brotteig, danach Schnitzel und dann Apfelstrudel, so hatte er sich das Menü vorgestellt. Allein Haberstock kam nicht und ging nicht an sein Handy.

Zamek bat den Rezeptionisten, an die Tür zu klopfen. Erfolglos. Haberstock öffnete nicht. Tiefschlaf, dachte Zamek. Nicht die Art von Haberstock. Zamek trank ein Mineralwasser, einen Wodka, zahlte und ging nach Hause. Morgen würde Haberstock alles erklären. Vielleicht ein Unwohlsein.

Am nächsten Tag entdeckte die Putzfrau Maria Janda Prof. Haberstock in seinem Bett. Es war nicht der erste Professor, der im Gästehaus der Universität sein Leben ausgehaucht hatte. Maria Janda sagte nur »O, boże«, man könnte es mit »Ach, du lieber Himmel« übersetzen, dann lief sie zum Rezeptionisten. Ein Krankenwagen wurde nicht mehr benötigt. Der Notarzt rief die Polizei hinzu. Ein ungeklärter Todesfall. Alles deutete auf einen Herzinfarkt. Der deutsche Professor habe vermutlich zu viel gearbeitet, zu wenig Sport getrieben, zu schlecht gegessen und zu viel getrunken. So wurde der gute Haberstock zunächst einer von Tausenden Fällen, denen ein natürlicher Tod bescheinigt wurde. Der Apfelsaft-Minz-Trank hatte keine direkten Spuren hinterlassen. Herzversagen. Kommissar Dawid Gutowski von der Kriminalabteilung der Stadtpolizei Krakau musste raus in die Ulica Garbarska. Der diensthabende Notarzt des Universitätsklinikums von Krakau bestätigte nach erster Prüfung eine normale Todesursache. Nun konnte Haberstock abtransportiert werden in das Kühlhaus der Krakauer Leichenhalle. Der Rest: Formalitäten, Überführung, Schicksal.

Nach 14 Tagen traf der Biberexperte in einem Metallsarg in Aachen ein. Seine Kinder kümmerten sich um die Formalitäten und die Entgegennahme des Erbes: viele Bücher über Biber, eine Mietwohnung auf der Hörn, die sie sofort kündigten, und ein Vermögen von rund 10.000 Euro. Das war es. Das Leben der Biberkoryphäe endete überschaubar. Die Spielleidenschaft hatte Spuren hinterlassen. Auch im materiellen Erbe. Die Beisetzung fand in aller Stille statt. Ein kurzer Nachruf der RWTH Aachen erschien in den Tageszeitungen. Das alles geschah vor Brauers Tod. Und beinahe wäre sehr viel Gras über die Sache gewachsen.

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