Süßer Tee

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Viele Monate vergingen. An Vater dachte ich schon gar nicht mehr. Mein Problem war eher die deutsche Rechtschreibung. Deshalb ließ ich mir von Gülden, die auch auf meiner Schule und bereits in der Abiturklasse war, helfen.

Ich mochte und bewunderte sie und ihre Familie sehr. Ich war sehr gerne bei Gülden, sie hatte sogar ein eigenes großes Zimmer nur für sich allein. Es war unglaublich für mich, dass es so etwas gab. Sie durfte und sollte ihr Abitur machen, da ihr Vater wollte, dass sie Medizin studiert und Ärztin werden sollte, genau wie er selbst.

Nachdem ich mich auch an diesem Tag zwei Stunden lang mit der Rechtschreibung auseinandergesetzt hatte, kam ich erst am späten Nachmittag nach Hause. Keiner war im Haus anzutreffen.

Auf einem hinterlegten Zettel las ich, dass Mutter und Schwestern bei der Nachbarin und Bülent mit seinen Freunden unterwegs waren. Ich machte mir heiße Milch und versuchte nicht mehr an die Rechtschreibung zu denken.

Ich ging ins Wohnzimmer, setzte mich auf die Couch und sah auf die Fotoalben in unserem Regal, holte mir dann ein Album heraus, setzte mich auf den Boden und schlug es auf. Jedes einzelne Bild sah ich mir minutenlang an. Bilder, die Zeugen unserer Verwurzelungen, unserer Herkunft und unserer Entwicklung waren. Sie waren alle schwarzweiß und ich hatte den Eindruck, als seien die Momente, in denen diese Fotos gemacht wurden, immer ganz besondere Momente im Leben meiner Eltern gewesen, so als wäre in diesen Augenblicken die Zeit eingefroren worden.

Wir kamen aus einer Arbeiterfamilie. Meine Eltern hatten ihren Lebensunterhalt als Tagelöhner auf den Baumwollplantagen der „Agas“, also der Großgrundbesitzer, verdient, auf denen sie vom Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiteten. Das war in ADANA, nicht weit von der Südküste der Türkei entfernt.

Auf den Fotos sah Mutter immer glücklich und zufrieden aus. Sie hatte immer ein sehr natürlich bezauberndes Lächeln auf ihren Lippen und fast immer ein Baby auf dem Schoß, an der Hand oder auf dem Arm.

Aus der ersten Ehe meiner Mutter hatten wir noch zwei weitere Brüder – Metin und Ismael, die wesentlich älter waren als wir. Vater hatte die beiden nie als seine eigenen Söhne akzeptiert. Trotz allem sind sie unsere Brüder, mit denen wir zwar nie eng zusammenlebten, aber die ich sehr respektierte.

Im Hintergrund war auf einigen Fotos unser Haus zu sehen, das wir damals bewohnten. Ich selbst kann mich nicht daran erinnern, da ich zu der Zeit noch ein Baby war. Es befand sich in einem „Gecekondu“ - die Bezeichnung für solche Wohnorte hatte mich schon immer fasziniert, denn er wird übersetzt mit „über Nacht entstanden“.

Das bedeutete nichts Anderes, als dass sich die ärmste Schicht einer Stadt einen abgelegenen Ort suchte und ohne jegliche Genehmigungen, praktisch über Nacht, ein Haus aus Lehm und Stroh baute. Unseres war sogar zweistöckig, das war für die herrschenden Verhältnisse viel.

So lebten meine Eltern an diesem Ort, der Tag für Tag immer größer wurde, und sie mussten sich ständig mit den einfachsten Problemen des Überlebens auseinandersetzen.

Mutter erzählte uns zu der Zeit, dass wir noch Zwillingsschwestern gehabt hatten. Nach der Geburt der beiden konnten sich meine Eltern keinen Arzt leisten, die beiden Kleinen erkrankten und starben in Folge ihrer Erkrankung. Sie bekamen nacheinander eine Lungenentzündung. Für Mutter musste das ein schlimmes Ereignis gewesen sein, denn sie trauert noch immer um sie.

Ich glaube aber eher, dass die Umstände, die dazu geführt hatten, sie gedemütigt haben. Ich konnte sie sehr gut verstehen. Bildung hatte Mutter nicht mitbekommen, sie hatte nie eine Schule besucht und war Analphabetin. Alles was sie wusste, hatte sie sich im „wahren Leben“ angeeignet. Sie hatte keinerlei große Ansprüche an das Leben gestellt. Jedoch wurde ihr ihre Bescheidenheit manchmal auch zum Verhängnis.

Anfang der Sechziger Jahre kamen dann die entscheidenden Jahre, als in der Türkei die Nachfrage nach Arbeitskräften aus Deutschland eintraf.

Auch Vater und sein damaliger Nachbar gehörten zu der Vielzahl an Bewerbern, die für sich und ihre Familien eine bessere Zukunft erhofften.

Aus Erzählungen weiß ich, dass alle Bewerber genauestens untersucht wurden, denn nur die, die den Gesundheitstest bestanden, bekamen auch eine Ausreisegenehmigung.

1965 bekam Vater dann seinen Ausreisebescheid, doch seinem Nachbarn hatten sie die Ausreise verweigert, weil ihm einige Zähne im Mund fehlten.

Dass die Zukunft eines Menschen von seinen Zähnen abhängig sein könnte, hätte ich mir nie träumen lassen. Im Frühjahr 1965 flog also Vater in das Land, in dem sich seine Träume erfüllen sollten. Die Begrüßungen an den Flughäfen jener Jahre muss ihn wohl so überwältigt haben, dass er Jahre später noch darüber berichtete.

Sie wurden in Heimen einquartiert, die für die Arbeitskräfte von außerhalb vorgesehen waren. Der Wirtschaftsboom der Sechziger Jahre in Deutschland muss enorm gewesen sein, so dass sich die Arbeitnehmer wegen einer möglichen Arbeitslosigkeit wenig Sorgen zu machen brauchten.

Die einzigen Orte, wo sich diese Menschen aufhielten, waren die Unterkünfte in den Heimen und die Fabrik, wodurch eine sogenannte Heim- und Fabrikkultur entstand.

Was für eine vorteilhafte Entwicklung konnte von dort ausgehen, wenn sich immerzu dieselben Menschen begegneten? Was für ein Lebens- und Kulturniveau konnten sich mein Vater und viele andere Einwanderer abgucken und aneignen? In ihren Koffern hatten sie nicht nur ihre Kleider mitgebracht, sondern auch ihre Erinnerungen aus der Heimat und die damit verbundenen Werte. Diese elementaren Fragen konnte ich mir nicht beantworten, aber ich stellte sie mir in dem Augenblick.

Mutter lebte noch einige Jahre ohne Vater in der Türkei. Vater sorgte für uns, indem er ihr monatlich Geld überwies und kam, sobald er Urlaub hatte, in die Heimat.

Ich kam im August 1966 zur Welt. Zu der Zeit war Vater in Deutschland. Aus diesem Grund gab man mir einen Doppelnamen Gariphan Nuran Aslan. Offiziell hieß ich Nuran, aber alle nannten mich Gariphan - „Gariphan“ heißt die Einsame“,- weil sich Vater damals in Deutschland aufhielt, und ich einsam auf die Welt gekommen war. Ich mochte diesen absurden Namen nicht, der einen sehr negativen klischeehaften Beigeschmack hinterließ.

Aufgrund der Familienzusammenführung durften Mutter und wir 1968/​1969 zu unserem Vater nach Deutschland einreisen. Die Einzige, die in der Fremde litt, war Mutter.

Ich erinnere mich, dass hin und wieder einmal über eine eventuelle Rückkehr in die Türkei gesprochen wurde. Fast jedes Jahr wollten meine Eltern zurückkehren.

Der Ursprungsgedanke, einige Jahre zu sparen, um eine realistische und sorgenlose Rückkehr zu ermöglichen, dauerte an. Von dem Wenigen, das meine Eltern verdienten, wurde immerzu noch gespart.

Es kam alles so, wie es kommen musste: Vater entwickelte sich zu einem sexuell ausschweifenden Mann. Er vernachlässigte Mutter und machte uns unser Leben zur Hölle auf Erden.

Später sollten wir sogar erfahren, dass Vater unsere Mutter, also seine eigene Frau als seine Schwester bei seinen „Liebesanwärterinnen“ vorgestellt hatte, um sich seine eigenen Chancen bei den Damen nicht zu vermiesen.

Vater konnte Mutter so dirigieren, wie es ihm in den Kram passte. Dass Mutter sehr große Sprachbarrieren hatte und unselbstständig war, kam ihm sehr gelegen. Vater verkörperte den Egoismus durch und durch.

Das geräuschvolle Öffnen der Wohnungstür riss mich aus meiner Foto - Gedankenreise, heraus. Meine Mutter und meine Geschwister kamen wieder nach Hause. Ich sah auf die Uhr und hatte gar nicht bemerkt, wie viele Stunden schon vergangen waren.

Ich setzte mich gerne mit solchen kleinen Gedankenreisen auseinander, stellte Fragen und versuchte eine logische Antwort darauf zu finden. Anfänglich sah ich meine Gedankenreisen als Spiel an, das ich selber erfunden hatte. Dabei ergaben sich die Spielregeln wie von selbst. Wie hätte ich wissen können, wie wichtig all diese Dinge in meinem Leben werden würden.

Auch der weitere Verlauf dieses Abends gefiel mir. Schon allein der Gedanke, dass wir endlich Wochenende hatten, tat gut. Den restlichen Abend unterhielten wir uns darüber, wie wir das Leben ohne Vater bewältigen würden.

Die Ängste meiner Mutter konnte ich damals nicht verstehen. Wahrscheinlich ist das mit 13 Jahren auch ein wenig schwierig. Meine ältere Schwester Nurtel, die 18 Jahre alt war, versuchte Mutter Mut einzuflößen. Meine jüngere Schwester war gerade mal 9 und Bülent 14 Jahre alt. Eine allzu große Hilfe waren wir ihr wohl nicht, denke ich. Alle Behördengänge teilten wir unter uns auf, und wenn Mutter etwas zu erledigen hatte, nahm sie einen von uns mit, damit wir übersetzen konnten. So wurden wir eine Zeit lang das Sprachrohr von Mutter, und später nahmen wir alles in die Hand.

Mein Bruder Bülent und ich machten uns Gedanken darüber, wie wir unsere Schulkosten selber finanzieren könnten. Immerhin brauchten wir in regelmäßigen Abständen Hefte, Schreibmaterial und natürlich auch Taschengeld.

Eines Tages sprach uns eine alte Frau an, die gerade mal zwei Straßen weiter wohnte. Sie fragte, ob wir nicht hin und wieder für sie ihre Einkäufe erledigen könnten.

Das ist es, dachten wir und nahmen natürlich sofort an. Wir erledigten nicht nur ihre Einkäufe, wir halfen ihr auch in ihrem Haushalt. Dreimal in der Woche ging einer von uns beiden zu der alten Frau. Sie hatte niemanden und lebte ganz allein. Nie bin ich in dieser Zeit auf den Gedanken gekommen, sie nach ihrer Familie zu fragen.

Sie war sehr nett und höflich zu uns, redete aber nie viel. Bald baten uns auch andere ältere Damen um Mithilfe im Haushalt und bei den Einkäufen. Alles lief zu unserer großen Zufriedenheit. Später hatten wir die Idee, einen Hilfsdienst für alle Leute zu starten, die selbst keine Lust dazu hatten, Pfandflaschen zurückzubringen. Diese Idee ließ sich gut realisieren. Als Gegenleistung durften wir das Pfand behalten. Somit waren wir als Kinder finanziell unabhängig.

 

Seitdem Vater nicht mehr zu Hause war, hatten wir auch einen viel besseren Kontakt zu unserer Umgebung und zu den Kindern in den Wohnblocks auf der Alleestraße 28 in Isselburg.

Auch in der Schule waren die Schwierigkeiten nicht mehr so groß. Am Ende der Alleestraße war ein kleiner Kinderspielplatz, der Treffpunkt aller Kinder und Jugendlichen aus unserer Straße war.

Mein Bruder Bülent und ich fanden guten Anschluss und gehörten innerhalb kurzer Zeit dazu.

Jetzt, wo ich gerade hier auf der Stufe unseres Hauses sitze, würde ich so gerne wissen, was aus diesen jungen Menschen geworden ist und wie sie sich im Leben entwickelt haben.

Der Zusammenhalt unter uns Jugendlichen damals gefiel mir besonders gut. Keiner wurde allein gelassen. Alles wurde untereinander besprochen. Die Konflikte, die in der Clique entstanden, wurden manchmal tot diskutiert, sodass wir zum Schluss froh darüber waren, wenn das Thema nicht mehr angesprochen wurde. Nach einer Zeit waren wir, mein Bruder und ich, so ausgefüllt, dass wir jeden Tag etwas zu tun hatten. Gähnende Langeweile war uns fremd.

Ich merke gerade, dass mein Teeglas leer und die Katze wieder unterwegs ist. Mein Durst nach türkischem Tee und der türkischen Seite in mir ist heute besonders groß. Nicht, dass es immer so ist. Eigentlich nur noch selten. Wenn ich es mir richtig überlege, habe ich noch nicht einmal richtige türkische Bekannte, geschweige denn Freunde. Unsere Freunde sind mittlerweile international und ich bin die türkische Quote. Nicht, dass ich mir das so ausgesucht oder gar gewünscht hätte. Es hat sich einfach nicht ergeben. Die türkischen Frauen, die ich noch aus meinem „ersten Leben“ kannte, waren nicht meine Kragenweite. Oder sagen wir mal so, wir lebten nicht auf dem gleichen Planeten. Auf dem Weg zur Teekanne in der Küche klingelte wieder das Telefon. Oh, mein Bruder Bülent ist am Apparat. Wir unterhalten uns eine Weile, denn uns beide verbindet viel. Im Anschluss an das Gespräch versinke ich wieder in Gedanken und Erinnerungen.

<<<<ENDE SANS>>>>Eines Nachmittags, als ich aus der Schule nach Hause kam, waren mein Bruder Bülent und sein Freund Fritz alleine zu Hause. Sie hatten sich in das Zimmer von Bülent eingeschlossen und brüllten vor Lachen ohne Luft zu holen. Ich wurde nach einiger Zeit sehr neugierig und klopfte an die Tür, doch das Lachen übertönte das Klopfen und sie hörten es nicht. Ich ergriff andere Maßnahmen und trat mit den Füßen gegen die Tür und schrie: „Vater ist wiedergekommen“. Auf einmal war es totenstill. Danach brach eine Riesenpanik aus. Das Hin- und Herrennen im Zimmer war nicht zu überhören.

Daher wusste ich, dass etwas Verbotenes im Gange war. Ich schwieg und sagte nichts mehr. Nach einer Weile sah ich, wie langsam die Tür aufging und mein Bruder seinen Kopf aus der Türspalte streckte. Als er dahinterkam, dass ich mir einen Scherz mit ihnen erlaubt hatte, war er zwar wütend, aber ungeheuer erleichtert, dass weit und breit kein Vater vorzufinden war.

Nachdem sich die Situation geklärt hatte, betrat ich das Zimmer, wurde von ihm und seinem Freund Fritz begrüßt und sah, wie sie eine Flasche und zwei Gläser unter der Bettdecke hervorholten. Die beiden waren im Begriff sich zu betrinken, um zu sehen, wie viel sie vertrugen. Der Apfelkorn wurde in die Gläser geschüttet und mit Zucker verstärkt. Das Spektakel ließ nicht lange auf sich warten: Nach dem zweiten Glas waren die beiden volltrunken und krümmten sich weiterhin vor Lachen.

Sie erzählten sich gegenseitig Witze, die ohne Zweifel die blödesten und dümmsten waren, die ich je gehört hatte. Nach dem Gelage kamen sie auf die glorreiche Idee, nach draußen zu gehen und nach Nirgendwo loszuziehen.

Kaum war eine Stunde vergangen, fühlte ich, dass ich nach ihnen suchen musste. Ich nahm das einzige Fahrrad, das für die gesamte Familie zur Verfügung stand, und machte mich auf die Suche. Da Isselburg ein sehr überschaubarer Ort war, war ich sicher, die beiden früher oder später zu entdecken.

Schließlich fuhr ich mit dem Fahrrad auf die Weide zu, auf der sich die Kühe der Gegend aufhielten. Das, was meine Augen dort erblickten, war ein hollywoodreifes Szenario. Die beiden Jungs hatten die Kühe zu Feinden deklariert und versuchten sie zu bekämpfen. Sie hingen an ihren Hälsen und Rücken, zogen an ihren Schwänzen. Die zornigen Kühe, die niemandem je etwas angetan hatten, liefen zunächst davon und die beiden Jungs hinterher. Das ging so lange gut, bis die Tiere genug hatten und sich eine Kuh umdrehte und begann, die beiden Jungs zu jagen. Den Jungs wurde es offensichtlich zu viel und sie flohen über die Drahtzäune der Weide auf das Nachbarfeld. Dann fingen sie an sich zu übergeben.

Das wollte ich mir nicht ansehen und fuhr wieder zurück. Unterwegs traf ich Reiner. Da der Ort wirklich sehr überschaubar war, lief man sich öfters über den Weg. Ich hielt an und schob das Fahrrad vor mir her. Den ganzen Weg nach Hause sprachen wir kein Wort miteinander und sahen uns gelegentlich einfach nur an. Ich überlegte zwanghaft, was ich ihm wohl erzählen könnte, mir fiel jedoch nichts ein. Kurz vor der Haustür verabschiedeten wir uns, und ich ärgerte mich, aber wusste noch nicht einmal worüber.

Als ich in der Wohnung war, sah ich aus dem Küchenfenster. Reiner stand noch immer da und bewegte sich nicht, so als wäre er an dieser Stelle angewachsen. Ich überlegte, ob ich nicht zu ihm gehen sollte. Aber was sollte ich ihm sagen …, also blieb ich.

Es dauerte nicht lange, da kamen auch schon der Held der Kühe und sein Kumpan nach Hause. Die Jungs waren am Ende ihrer Kräfte und gingen schnurstracks ins Schlafzimmer, schmissen sich auf das Bett und regten sich nicht mehr. Ich hoffte, dass Mutter die Trunkenheit der Beiden nicht bemerkte, wenn sie gleich von der Arbeit zurückkam. Sie bemerkte es dann zwar, machte aber keinen allzu großen Aufstand, und der „Held“ schlief bis zum nächsten Morgen.

Ich wünschte mir, dass Bülent den Mut gehabt hätte, sich im Leben, na nicht besser aber anders durchzusetzen. Bülent entspricht in keiner Weise dem Bild des sogenannten „harten Mannes“. Nein, ganz im Gegenteil, ich habe eher den Eindruck, dass er unter der gesellschaftlichen Erwartungshaltung zerbrochen ist. Übrigens wie viele türkische Jungs, die darauf gedrillt werden, „männlich“ zu sein, und die diese Erwartungen nicht erfüllen können und sich ein unerträgliches und oberflächliches Machogehabe aneignen.

Ich erinnerte mich daran, welchen Gedanken ich damals nachging, als ich langsam in die Pubertät kam.

Ich machte mir Gedanken über das Leben, über Sinn und Unsinn im Allgemeinen, über Himmel und Erde und über die Definition von Gut und Böse oder Gut und Schlecht. Immer mehr war ich der Meinung, dass diese Begriffe nur relativ in ihrer Bedeutung waren.

Was für den einen als „gut“ galt, war für den anderen „schlecht oder böse“.

Die Lebensphilosophie meiner Eltern teilte ich schon seit Langem nicht mehr. Mein Ziel war es, über die Schule und durch meinen späteren Beruf zur Unabhängigkeit zu gelangen, mir nichts mehr vorschreiben lassen zu müssen. Von der Sichtweise meiner Mutter und später meines ältesten Bruders Ahmet, dem ich mehr Einsicht gewünscht hätte, trennten mich Welten. Jungs, Sexualität oder gar Aufklärung waren Tabus, eines der vielen Verbote, die einfach in der Luft lagen, ohne dass darüber geredet wurde.

Ich stellte mir die Frage, wie ich meinen eigenen Körper lieben sollte, wenn ich mich gleichzeitig dessen schämen musste. Wie sollte ich Wertschätzung für mein eigenes Ich erlangen?

Langsam wurde mir bewusst, dass ich in dieser von Männern erdachten patriarchalischen Hierarchie, deren Kontrollmechanismen mir überlegen waren, zu ersticken drohte.

Ich hatte den Eindruck, dass die Ehre der Frau zwischen ihren Schenkeln saß. Die Charaktereigenschaften einer Frau und ihre Wertschätzung wurden von der Gesellschaft, in die man eingebettet war, definiert. Und immer wieder fragte ich mich, warum gerade diese Frauen, die ihr ganzes Leben lang unter ihren Männern litten, nicht im Geringsten vorhatten, sich auch nur einen Hauch zu ändern oder sich gar zu befreien.

Für viele Männer gab es zwei Kategorien von Frauen: die Huren und die Hausfrauen. Dazwischen gab es nichts. Ich beschloss für mich, keine Frau zu werden. Jedoch sprachen meine heranwachsenden Brüste gegen mich.

Nun, wie ich das jetzt, aus meiner jetzigen erwachsenen Gegenwart wahrnehme? Ich denke, diese Frage kann sich jede Familie im eigenen Kontext der individuellen Familiengeschichte und Familienstruktur selbst beantworten. Ich bin davon überzeugt, dass es eine familiengesellschaftliche Entwicklung gibt, nur der Ausgangspunkt ist immer ein anderer. Kaum habe ich das zu Ende gedacht, schweifen meine Gedanken wieder.

Eines Nachmittags, als ich aus der Schule nach Hause kam, sah ich vor der Haustür das Auto meines Vaters stehen. Ich blieb etwas weiter weg stehen und sah mir das Auto an. Kein anderes Auto war mir so unsympathisch wie das meines Vaters. Ich hatte immer den Eindruck, dass das Auto etwas Böses an sich hätte. Ich überlegte nicht lange und beschloss, nicht nach Hause zu gehen.

Ich ging zum Spielplatz. Auf einer der Schaukeln sitzend, wartete ich auf Bülent, der über kurz oder lang dort entlangkommen würde.

Nach kurzer Zeit sah ich ihn dann endlich.

Ich rannte zu ihm und teilte ihm mit, dass Vater zu Hause sei. Wir beide beschlossen eine Zeit lang herumzulaufen, in der Hoffnung, dass Vater in der Zwischenzeit wieder wegfahren würde.

Als wir gegen Abend nach Hause kamen, stand sein Wagen immer noch da. Ich hatte ein drückendes Gefühl im Magen, als wir langsam die Treppen hochgingen. Einige Minuten vorher hatten wir uns witzige Geschichten erzählt und aus vollem Herzen gelacht und jetzt stiegen wir schweigend nebeneinander die Treppen hoch.

Als wir vor der Wohnungstür ankamen, sahen wir uns nochmals an, entließen unsere gute Laune in die Stille, die uns umgab, und klingelten. Zu unserem Pech hatte keiner von uns die Wohnungstürschlüssel dabei. Die Tür ging langsam auf und Mutter stand vor uns. Aus ihren Blicken konnten wir entnehmen, dass sie wütend war. Vater kam aus dem Hintergrund angestürmt. Brüllend baute er sich vor uns auf. Wo wir so lange geblieben wären, fragte er, und was wir getan hätten und mit welchen Pennern wir zusammen gewesen wären. Mit den Pennern meinte er unsere Freunde, die auch in diesem Haus lebten.

Am schlimmsten war es für ihn, dass ich mich als heranwachsende Frau nicht seinen Vorstellungen gemäß verhielt. Lauthals verurteilte er mein Aussehen und schrie: „Mit dieser Kleidung siehst du wie ein Hippie aus!“ Meinen Bruder beschuldigte er, mir gegenüber nicht hart genug zu sein. Angeblich wäre er als Mann verpflichtet, auf mich und auf unsere Ehre Acht zu geben.

Nachdem wir diese Predigt über uns hatten ergehen lassen, gingen Bülent und ich gemeinsam auf sein Zimmer. Leise schlossen wir die Tür hinter uns ab für den Fall, dass er noch später auf die Idee käme, uns zu verprügeln.

In dem abgeschlossenen Zimmer hockten wir auf dem Boden und unterhielten uns über die Schule, unsere Clique und darüber, wie wir uns unsere Zukunft vorstellten. Wir waren voller Zuversicht, dass uns die Zukunft offen stünde. Kaum hatten wir uns ausgesprochen, hörten wir wie die Wohnungstür zuknallte und Vater wegging. Um auf Nummer sicher zu gehen, warteten wir noch einige Minuten und verließen erst dann das Zimmer.

Von Mutter erfuhren wir, dass Vater beschlossen hatte, hin und wieder einmal zurück zu kommen, um nach dem Rechten zu sehen. Also war es noch nicht vorbei mit ihm. Schweigsam saßen wir, meine Geschwister, Mutter und ich, in der Küche und horchten in die Stille. Vater wollte uns offensichtlich durch seine Kontrollbesuche nur schikanieren.

Mutter war zu schwach, um ihm die Leviten zu lesen.

Trotz allem, was dieser Mann uns angetan hatte, gehorchte und bediente ihn Mutter jedes Mal, wenn er da war. Mutter sagte nie etwas Schlimmes über ihn und versuchte sich nicht zu beklagen. Ihr Wunsch war es auch, dass wir ihn respektierten. Wir taten es, dachte ich. Jedoch wurde mir erst später bewusst, dass wir viel mehr Angst vor ihm hatten, als dass wir ihn respektierten.

 

Nein, wir hatten einfach nur Angst vor seinen Schlägen, sonst war er eines Respekts nicht würdig. Auch in den späteren Jahren durchschoss mich die Angst, wenn wir uns begegneten, so, als wäre die Angst in meinem Körper mitgewachsen.

In der Schule und in der Clique war ich glücklich. Zwar hatte ich große schulische Schwierigkeiten, doch versuchte ich diese aus eigene Kraft zu beseitigen. Zu gerne hätte ich weiter die Musikschule besucht, in der ich lernte, die Klarinette zu spielen. Meine Eltern jedoch waren der Meinung, dass Musik nichts für Mädchen wäre. Damals war mir nicht bewusst, dass Vater – meiner heutigen Meinung nach - uns einfach dumm halten wollte. Wäre die Schule keine gesetzliche Pflicht gewesen, hätten wir wahrscheinlich nie eine Schule von innen gesehen.

Die Schule wurde zu meinem Leitpfaden. Sie war die Tür in die Zukunft. Ich fühlte mich dort sehr wohl, zumal wenigstens in der Schule alles geregelt zu sein schien. Sie wurde mit der Zeit mein zweites Zuhause.

Mein größtes Vorbild zu der Zeit war die Freundin meines ältesten Bruders: Frauke. Das Reden mit ihr machte mir großen Spaß, denn danach hatte alles einen Sinn, eine Erklärung. Sie studierte damals Germanistik in Bielefeld.

Vielleicht wurde ich in meinem Leben so stark, weil ich mir unwillkürlich die passenden Vorbilder im Laufe der Zeit genommen habe. Vor Menschen, die aus dem Nichts eine Zukunft gestalten und eine starke Persönlichkeit erlangen, habe ich eine sehr hohe Achtung.

Weiterhin Tee schlürfend lasse ich meinen Blick in der Küche schweifen und da war es: ohh Gott! Ich sehe die Namensliste für meine Geburtstagsfeier. Ich muss noch einiges organisieren, denn ganz von alleine erledigen sich einige Dinge halt nicht. Da nutzt das Aussitzen nichts. In diesem Augenblick finde ich es schade, dass wir keine Kellerräume haben. Denn würde es am 3. August regnen, hätten wir eine Ausweichmöglichkeit, wie damals mit unserer Clique in Isselburg.

An einem Herbstnachmittag sammelte sich unsere Clique wieder einmal auf dem Spielplatz, um die neusten Ereignisse zu besprechen. Wir merkten, dass wir uns dort im Winter wegen der Kälte nicht mehr aufhalten konnten. Einer von den Jungs, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, hatte die Idee, im Keller unseres Wohnblocks einen Aufenthalts- und Partyraum einzurichten.

Wir alle waren von diesem Vorschlag begeistert und fingen an zu planen. In sehr kurzer Zeit hatte jeder herbeigeschafft, was er bzw. sie entbehren konnte. Als alles fertig war, standen wir alle mitten in diesem Raum und sahen uns um. Gemeinsam hatten wir unseren Plan verwirklicht.

Wenn man den Kellerraum betrat, stand auf der rechten Seite die Theke, die wir aus einfachen Platten und mit Holzfüßen darunter gebaut hatten. Hinter der Theke waren zwei kleine Regale, auf denen die Gläser der Reihe nach standen, die wir wenn nötig in einer kleinen Plastikschüssel säuberten.

Neben der Theke stand eine alte Stehlampe, die so kitschig war, dass genau dieser Kitsch die Lampe zu etwas Besonderem machte. Seitlich stand ein großer Sessel, dessen Armlehnen fehlten. Gegenüber der Theke waren einige dreiteilige Matratzen, die auf dem Boden lagen oder gegen die Wand gelehnt waren. Die Matratzen waren rundherum mit großen und kleinen Kissen verziert. Eine Beleuchtung, die mehrfarbig erstrahlte, gab dem Raum eine sehr angenehme, Atmosphäre. Für die Musik sorgte ein kleiner Plattenspieler, der schon vom Leben geprägt war und in einzelne Teile zu zerbrechen schien.

So unterschiedlich diese Gegenstände auch waren, sie passten zueinander und in diesen Raum. Man bekam den Eindruck, sie seien am Ziel angekommen und erfüllten nun ihren letzten Zweck.

Nach und nach bekamen unsere Eltern mit, dass wir im Keller unseres Wohnblocks einen Gemeinschaftsraum ausgestattet hatten, in dem wir uns mit der gesamten Clique aufhalten wollten. Unsere Eltern und im Besonderem meine Mutter waren der Auffassung, dass sich dort etwas Unsittliches abspielte, und sie verbot uns den Aufenthalt in diesem Raum. Bei meinem Bruder Bülent drückte sie hin und wieder mal ein Auge zu. In meinem Fall gab es keine Diskussion darüber. Aus diesem Grund ging ich heimlich hin. Meine jüngere Schwester Elke ertappte mich dabei, und jedes Mal ließ sie mich ihr Schweigen 0,50 Pfennig kosten. Zu der Zeit wusste ich noch nicht, dass sie mich trotzdem bei Mutter verpetzte.

An einem Nachmittag traf ich im Partyraum Reiner und freute mich sehr, dass wir uns nach langer Zeit wiedersahen. Wir redeten und redeten. Als er dann aufstand, um nach Hause zu gehen, fragte er, ob wir uns am nächsten Tag am Spielplatz treffen könnten. Er sprach jedoch so schnell, dass ich ihn kaum verstehen konnte, und er war mit einem Satz auch schon weg, ohne auf meine Antwort gewartet zu haben.

Die Schulstunden am nächsten Schultag dauerten eine Ewigkeit und der Nachmittag ließ lange auf sich warten. Auf dem Weg nach Hause ging ich am Spielplatz vorbei und sah auch schon Reiner auf einer der Schaukeln sitzen. Ich ging zu ihm und setze mich auf die zweite Schaukel.

Während unseres Gesprächs schaukelten wir und sahen uns dabei interessiert unsere Schuhe an, bis wir vom Regen unterbrochen wurden. Es fing urplötzlich an in Strömen zu regnen. Reiner sagte, dass er wisse, wo man sich vor dem Regen schützen könne, und rannte los. Ich folgte ihm, bis wir unter einer Brücke ankamen.

Diese Stelle hatte ich vorher noch nie bemerkt. Reiner erklärte, dass dies sein geheimes Versteck wäre. Die Wände unter der Brücke waren bunt bemalt und sauber. Da saßen wir nun und gaben keinen Ton von uns, hörten den Regentropfen zu, die gegen die Betonmauer platschten. Da mir sehr kalt wurde, legte Reiner die Arme um mich.

Nach einiger Zeit sah er mich an und küsste meine Lippen. Wie eine starre Mumie muss ich ihn wohl angesehen haben, denn er fragte, ob das schlimm wäre. Wir sahen uns an und lachten uns die Seele aus dem Leib.

Nachdem der Regen nachgelassen hatte, gingen wir nach Hause. Jedoch war es mir dieses Mal egal, ob uns meine Eltern sehen konnten. Dann verabschiedeten wir uns vor der Haustür.

Die Frage, ob wir jemals wirklich miteinander gegangen waren, kann ich auch heute nicht beantworten, denn unsere Treffen waren doch eher zufällig gewesen. Nun ja, wir haben nun mal in unserem jetzigen Haus keinen Kellerraum, und ich hoffe einfach auf mein Glück, denn davon habe ich eigentlich genug. Ich glaube, wenn ich hier und jetzt Glück definieren müsste, wäre das die Ehe mit Andreas, das Zusammenleben mit unseren Jungs, die uns und mir die Kostbarsten sind, unsere tollen Freunde und natürlich Weihnachten. Denn die Weihnachtszeit ist für mich ganz besonders wichtig. In der Weihnachtszeit werde ich am spießigsten. Ich liebe Lichterketten in allen Variationen, und das nächste Mal möchte ich, dass ein hell leuchtendes Rentier bei uns im Vorgarten seinen Platz bekommt. Andreas hat es bis jetzt geschafft mich davon abzubringen, aber nun bin ich fest entschlossen. Ich werde mich durchsetzen!! Ich stehe auf und gehe auf unseren Küchenkalender zu, der an der schmalen Seite einer Wand in der Küche hängt, und lese den darauf stehenden Spruch „Leben ist das, was du daraus machst“ laut vor.

Ja, wahrscheinlich ist das so, denke ich, gehe zum CD-Spieler und lege eine CD mit sehr alter türkischer Musik auf, die ich mir zuvor von Bülent ausgeliehen hatte.

Ein unschöner Teil meines Lebens wird allmählich wieder lebendig vor meinem inneren Auge.

Einige Monate waren vergangen, der Frühling kam und das Leben spross in all seinen kräftigen Farben. Sogar zwischen Pflastersteinen zwängte es sich hervor. Auch die dicksten Pflastersteine konnten der unaufhaltsamen Stärke der Natur nichts entgegensetzen.

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